„Wir kommen gleich in Ruh am See an“, sagte ihr Vater auf einmal.
„Was das am See?“, fragte Daughn, weil sie das nicht verstanden hatte.
„Ruh am See ist eine Stadt. Wir folgen der Sar, dem Fluss da drüben, in den Westen. Nicht g-ganz bis an ihr Ende … jedoch bis an die Grenze. In Ruh am See kriegst du Essen u-und ich kann kurz … den Tempel der Stadt besuchen. Ist das gut so für dich?“
„Hm“, machte Daughn dazu nur, denn sie fand, dass sie ihm auch nicht auf alles eine Antwort geben musste. Eigentlich hätte sie aufregend finden müssen, all diese neuen Orte zu sehen. Aber es fühlte sich komisch an. Überall waren kleine Schemen versteckt und alles vor und nach ihr wirkte verschwommen.
„Singst du mir ein Lied vor, Vati?“
Auch diesmal antwortete Vater nicht sofort, aber er hatte sie gehört. Er kräuselte nämlich seine Augenbrauen und seufzte.
„Was würdest du denn gerne hören?“
„Ich will das Lied von den Namen im Wind hören, bitte.“
Vater nickte und überlegte. Daughn wusste, dass er das Lied auswendig kannte. Auch Jan und Rian hatten es gemocht und darum hatte er es schon oft singen müssen. Mutter sang gerne und ihre Lieder waren immer schneller und fröhlicher. Ailée wollte darum immer nur von ihr Lieder hören und die Zwillinge hatten irgendwas gesagt, dass sie zu alt waren für so etwas. Daughn aber hörte lieber Vater zu. Sie hörte ihm auch jetzt gerne zu, und sie stellte sich vor, dass er genauso klang, wenn er mit ihr Zauber übte. Irgendwann.
Selbst als das Lied vorbei war, hörte Daughn noch die Melodie. Die Worte veränderten sich und ergaben eine Geschichte. Es ging um ein kleines Mädchen, das seinen Weg verloren hatte. Es war ganz alleine und hatte seine Familie verloren. Da waren böse Leute und das Mädchen musste vor ihnen davonlaufen. Es kam immer und immer noch weiter fort von seinem Zuhause und musste darum noch trauriger werden. Das Mädchen hatte dunkles Haar. Es war sein ganz besonderes, eigenes Haar. Es vermisste die Spiele mit seinen Geschwistern, die Umarmungen seiner Mutter und auch die frische Erdbeerkonfitüre zum Frühstück. Die Familie rief nach dem Mädchen. Das Mädchen hiess Ren. Ren, wie der Wind in der alten, magischen Sprache. Immer wieder riefen sie Rens Namen und weil das Wort magisch war, war es ein Zauber und der Wind selbst erwachte! Er fand das Mädchen und trug es weit in die Luft hinauf, zurück zu seiner Familie. Sie konnten alle endlich wieder glücklich sein.
Daughn formte lautlos die wenigen magischen Worte, die sie bereits kannte. Die Stücke der Zauber, die Vater jeweils benutzt hatte. Sie wünschte sich, dass der Wind auch sie trug und sicher ans Ziel brachte. Dass die Spuren, die sie hinterliessen, verschwanden, und die bösen Drakar sie nicht mehr finden konnten. Sie wünschte … sie wünschte.
Ruh am See war an einem See. Ruhig aber war die Stadt nicht. So viele Leute waren unterwegs, obwohl das Wetter eklig war, und es war laut! Die Gebäude und Strassen waren gross und Vater sagte ihr zwar, dass Liskia noch grösser war. Aber Daughn konnte es fast nicht glauben. Es war so viel, sie musste fast gar nicht mehr an ihren Albtraum denken. Wieder betraten sie ein Gasthaus, aber es war auch grösser als das letzte! Grösser und voller!! Daughn merkte, dass Vater jede Person im Gasthaus ganz genau anschaute, während er selbst seine Kapuze wieder tief im Gesicht trug. Dann aber wurde sein ernstes Gesicht etwas netter. Er nahm Daughn an der einen Hand und trug in der anderen ihr Essen. Er führte sie zu einem Tisch, an dem eine Frau sass. Sie trug die gleiche Rüstung wie Jeanne bei ihrem letzten Besuch, mit dem Wappen Darkeens auf der Brust, das Rian sich damals auf ihr Nachtkleid gemalt hatte! Auch sie hatte Essen vor sich stehen.
Daughn sass da und ass, während die beiden Erwachsenen redeten. Sie hörte ihnen nicht genau zu. Es war erst Mittag, aber jetzt, im warmen Gasthaus mit dem Essen, merkte sie, wie kaputt sie war. Sie mochte Pferde und sie mochte Firnin besonders! Aber gerade merkte sie, dass sie vielleicht nie mehr auf einem Pferd sitzen wollte. Sie wollte gar nichts mehr ausser zurück in Lichtrain sein. Eins der Kinder aus dem Dorf hatte Daughn gesagt, dass ihre Geschwister und Mutter und auch ihr Ohm tot waren und nie mehr zurückkamen. Ihre Seelen waren weg und entweder bei der grossen Gäa oben oder aber … oder aber unten bei den Schemen. Daughn hatte das Kind umgestossen, mitten in den Dreck geschubst! Aber sie wusste, dass es keine Schelm-Streich war. Der Heerführer und seine Helfer hatten sie weggenommen. Sie waren weg, und trotzdem hatte sie manchmal Mutters Stimme hören können, wenn sie zusammen mit Vater beim Apfelbaum sass. Natürlich war sie traurig. Aber Mutters Stimme sagte ihr, dass alles gut werden würde.
„Ich gehe jetzt zum Tempel, Daughn. Bleib du h-hier bei ihr. Sie passt auf dich auf. Es … geht nicht lange.“
Vater schaute ihr tief in die Augen und drückte Daughn noch einmal. Daughn wünschte ihm eine gute Reise. Sie wollte nicht, dass er sie alleine hier liess. Aber sie wusste nicht, wie sie mit ihm reden sollte.
„Wohin gehen denn dein Vater und du, Liebes?“, fragte die Ritterin, als er weg war.
„Der Sar entlang, aber nicht bis an ihr Ende. Nur bis zur Grenze“, antwortete Daughn.
„Ach, so weit? Und da geht ihr ganz alleine hin?“
Daughn schaute die Ritterin an und auf einmal spürte sie nicht nur Müdigkeit in sich. Nicht Angst und auch nicht Tränen. Es war eine dumme Frage.
„Ja, wir sind alleine. Der Heerführer hat alle anderen weggenommen. Er hat Mutter weggenommen und Ailée u-und Rian und Jan und sogar Ver und von den Angestellten! Sie sind fort und beim Apfelbaum ist ein Grab, aber dort sind sie doch gar nicht!!“
Sie hatte nicht so laut werden wollen. Aber ihre Wangen glühten auf einmal und ihr war beinahe etwas schwindelig. Die Ritterin schaute sie erschrocken an. Sie entschuldigte sich. Dann redete sie über andere, richtig förige Dinge, als wäre nie etwas passiert? Daughn hörte ihr nicht mehr zu. Sie zählte soweit sie zählen konnte. Einmal, zweimal, dreimal … Sie wartete darauf, dass ihr Vater zurückkam. Er war beim Tempel. Wieso das wohl? Wieso hatte er sie nicht mitgenommen?!
Leute kamen und gingen und jedesmal schaute Daughn zur Tür und es war nicht ihr Vater. Je öfter die Tür wieder aufging und zuging, umso mehr fühlte sie sich verloren. Aber weinen musste sie nicht diesmal. Die Ritterin brachte ihr irgendwann ein kleines Buch und Daughn versuchte sich damit abzulenken. Wenn sie besser Lesen lernte, dann konnte sie bald Vaters Bücher über die Magie verstehen. Dann konnte sie ihm helfen.
Wieder ging die Tür auf und Daughn war sich sicher, dass er es diesmal sein musste. Als sie sich aber umdrehte und hinschaute … da wurde ihr eisig kalt und sie vergass alle neuen Worte. Nur zwei nicht so neue Worte blieben bei ihr. Zwei Worte, die zu der Person bei der Tür gehörten:
Kylian Tezius.
Niemand sonst schien den, nein, die Drak zu bemerken und Daughn hoffte, dass auch sie unsichtbar war, wenn sie nur ganz langsam unter den Tisch rutschte. Aber es war schon zu spät. Die Drak schaute zu ihrem Tisch. Sie schaute sie mit grossen gelben Augen an und lächelte erst ganz schwach, dann breiter und breiter mit so vielen Zähnen! Sie glühte, aber es war ein ganz kaltes Leuchten und Schemen sprangen umher und da war etwas hinter ihr, etwas noch grösseres, noch gefährlicher!
Daughn schrie und packte die Ritterin am Arm. Sie zeigte auf die Drak und die Ritterin sprang aus ihrem Stuhl. Sie nahm ihr Schwert in die Hand. Auch andere im Raum erhoben sich. Einige waren verwirrt, andere griffen nach ihren Flaschen und anderen Dingen. Kylian Tezius näherte sich ihnen und hob die Hände. Sie sagte etwas, aber Daughn verstand kein Wort. Sie verstand gar nichts mehr, sie hatte ein Klingeln in den Ohren und alles flimmerte vor ihren Augen. Die Ritterin näherte sich der Drak … und auf einmal stürzte sie. Auf einmal war alles rot und schwarz und laut und Daughn schrie wieder, sie rannte und versteckte sich hinter dem hintersten Tisch. Sie sagte das magische Wort für den Wind und auch alle anderen Worte, sie wünschte sich, dass die Magie sie von diesem Ort wegbrachte!! Aber niemand hörte sie. Niemand hörte sie, aber sie hörte Kylian Tezius lachen und ihr Name war der einzige, der übrig blieb, während alles sonst verloren ging.