Auch diesmal ging alles schnell. Vielleicht ging es gar nicht schnell. Daughn war sich nicht sicher. Es konnte gar nicht schnell gehen, aber sie erinnerte sich kaum und dann waren Vater und sie schon in einem kleinen Zimmer. Er schob ihr seine Portion Suppe rüber. Er hatte selbst fast nichts davon gegessen. Daughns Portion war alle und eigentlich war sie nicht mehr hungrig. Dennoch griff sie nach der Schüssel und würgte noch ein wenig von der Suppe hinunter. Vater machte sich so viele Sorgen. Sie wollte nicht auch eine Sorge sein.
Sie zeigte Vater dann, wie gut sie gepackt und dass sie auch an ihr Nachthemd gedacht hatte. Für einen Moment war sie stolz. Leider hatte sie ihre Zahnbürste vergessen. Vater versicherte ihr, dass das nicht schlimm war. Sonst war ihm das immer so wichtig. Daughn stellte fest, dass es sie jetzt aber mehr störte als ihn.
Das kleine Zimmer hatte nur ein Bett und Daughn fragte, ob Vater zu ihr schlafen kam. Sie wusste nicht, ob sie an diesem fremden Ort alleine schlafen konnte. Sie hatte auch jetzt noch nicht richtig gelernt, in ihrem eigenen Zimmer ohne Ailée zu schlafen. Er sagte, dass er gleich zu ihr kommen würde. Aber er tat es nicht, er setzte sich stattdessen auf einen kleinen Holzschemel und holte ein Buch aus seinem Gepäck. Es war nicht ihr Lieblingsbuch. Es war eins seiner Bücher über Magie, die viel zu kompliziert für Daughn waren. Sie wünschte, sie hätte bereits besser und schneller lesen können. Dann hätte sie ihm helfen können, in Lichtrain gegen Kylian Tezius. Dann hätte sie den Segen nicht vermasselt und er hätte sich keine Sorgen machen müssen. Aber mit der Lesebrille auf der Nase sah er freundlicher aus als vorhin mit der Kapuze. Nicht ganz so fremd.
Daughn schaute ihm beim Lesen zu, kuschelte sich selbst tief unter die Decke. Sie legte ihren Arm fest um ihren Zauberhasen. Er erzählte ihr zwar keine Geschichte, aber sein Glöckchen klingelte wieder und klang fast wie ein Lied. Erst rührte sich Zauberhase nicht, doch dann, gerade als ihr Vater zum Fenster raussah, blinzelte er mit dem Auge, das die Schemen ihm noch nicht genommen hatten. Seine kleine Pfote strich tröstend über Daughns Arm. Im Gegensatz zu Vater merkte er, dass es Daughn nicht gut ging. Darum lud der sie ein mitzukommen.
„Wir sollten Vater nicht alleine lassen. Es geht ihm nicht gut“, flüsterte Daughn.
Zauberhase berührte wieder ihren Arm und sein Ohr wippte. Er konnte nicht sprechen, dennoch verstand Daughn immer, was er ihr sagen wollte. Er verstand sie. Sie lächelte leicht und ergriff seinen Arm. Alles um sie herum veränderte sich. Das Zimmer und auch Vater verschwanden. Aber solange Zauberhase da war, hatte Daughn wirklich keine Angst.
Daughn und Zauberhase schauten auf Darkeen hinunter. Daughn erkannte das, weil eine Karte unter ihren Füssen war, wie es sie auch in Büchern gab. Kleine und grosse Dörfer und sogar Städte befanden sich unter ihnen, Wälder und Hügel und Wasser! Alles war säuberlich angeschrieben und doch konnte Daughn die Namen kaum lesen, weil sie so klein waren im Vergleich zu ihr! Manche Ortschaften kannte sie aber. Da war natürlich Lichtrain. Aber auch eben Listor und auch Liskia und irgendwo konnte sie das Wort „Bach“ erkennen. Sie wollte sich nach unten beugen, aber Zauberhase zog sie schon weiter, zog sie nach Süden. Er hielt an einem Ort weit weg von Darkeen. Das Papier war hier ganz rau und hart wie der Boden im Sommer, wenn es besonders lange nicht geregnet hatte. Daughn schaute hoch zum Himmel, um die Sonne zu finden, die doch immer schien im Süden. Aber da war keine Sonne. Ihr funkelten unzählig viele Sterne entgegen und dazwischen war gross und hell der Mond.
„Wunderschön. So wunderschön“, murmelte Daughn und musste lachen, denn die Sterne lösten sich vom Himmel und kamen zu ihr herab. Sie wirbelten um sie und Zauberhase herum und halfen ihnen ebenfalls zu funkeln!
Zauberhase hatte die freie Pfote ausgestreckt und deutete damit zum Mond hinauf. Daughn blinzelte, denn der Mond war eine helle Scheibe und weit weg, aber … Sie sog laut Luft ein und drückte sich die Hand auf den Mund, als sie auf dem Mond ein Mädchen sitzen sah. Es war älter als Daughn und es war ganz bleich, wie ein Gespenst beinahe. Sein Haar aber war dunkel und auch seine Augen waren dunkel. Daughn winkte dem Mädchen neugierig zu.
„Hallo! Ich bin Daughn und das ist Herr Zauberhase! Wie ist dein Name?“
Das Mädchen öffnete den Mund, doch es kam kein Ton heraus. Daughn runzelte ihre Stirn und sah zu ihrem Zauberhasen. Auch er wusste nicht, wer das Mädchen war. Daughn überlegte, denn sie hatte das Mädchen irgendwo schon einmal getroffen. Sie liess die Pfote los und schaute sich um. Vielleicht gab es wo einen Berg, auf den sie klettern konnte, um näher zu dem Mädchen zu kommen? Vielleicht konnten die Sterne ihr helfen und sie tragen? Doch die Sterne erloschen auf einmal und sanken zu Boden. Die Tinte der Karte löste sich vom Papier. Daughn war an das düstere Portal erinnert, das sie zu den Hexen gebracht hatte. Schemen! Sie formten eine grosse Hand, eine Klaue, die nach ihr greifen wollte! Daughn kreischte und wich zurück. Zauberhase stellte sich zwischen sie und den Schemen, aber er wirkte so klein und dann packte die Klaue ihn!! Daughn schaute zu dem Mädchen auf dem Mond und das Mädchen schaute traurig zurück. Etwas berührte Daughn und sie keuchte, riss die Augen auf!
Nur ein Traum. Es war nur ein Traum gewesen. Es war inzwischen ganz dunkel und Vater lag neben ihr, schlief endlich, und Zauberhase war auch da und in Sicherheit. Und doch hatte Daughn auf einmal noch viel mehr Angst als zuvor.
Der erste Tag war schnell vorüber gewesen. Der zweite aber, der kam Daughn wie eine riesige Schnecke vor. Das Wetter war grau und nichts wirkte schön. Selbst der grosse Fluss am Ende der Felder, dem die Strasse folgte, war langsam und dunkel. Daughn hatte noch nie einen so breiten Fluss gesehen und sie war sich sicher, dass dort weder Frösche noch sonst Tiere lebten. Ab und zu begegneten sie anderen Leuten, aber nie hielten sie an, um zu reden.
„Hast du gut geschlafen, Vater? Ich habe wirklich, wirklich gut geschlafen!“
Es war keine richtige Lüge. Es war auch kein schelmischer Streich. Daughn wollte stark wirken. Das war wichtig. Sie merkte nämlich, dass auch Vater nicht die Wahrheit sprach, als er ihr Antwort gab. Er hatte sicher nicht gut geschlafen. Er hatte Augenringe und er konnte sie nicht einmal ansehen! Es machte Daughn traurig, dass er nicht mit ihr reden wollte. Sie wusste nicht, wohin sie gingen und sie verstand nicht, was eigentlich los war. Aber immer, wenn sie ihn etwas fragte, was sie besonders wichtig fand, war er wie fort mit dem Kopf.
„Vati, weisst du?“, versuchte sie es dennoch wieder.
„Hm?“, machte er, schaute auf die Strasse.
„Nicht alle Drak sind finster-fies und böse, das stimmt doch? Genauso wie auch nicht alle Hexen böse sind?“
„Hm …“
Da war es schon wieder. Sein Gesicht wurde starr und er vergass zu blinzeln. Vergass, dass sie überhaupt da war. Diesmal konnte Daughn es besser sehen, denn sie sass seitwärts vor ihm im Sattel, um ihre Beine zu schonen. Sie war noch nie so lange ausgeritten. Daughn lehnte sich an ihren Vater und zupfte an der Brosche seines Umhangs. Sie wartete, bis er sich wieder regte und nicht nur auf den Weg schaute.
„Der Drak in Lichtrain. Was für ein Drak ist er?“
„Es heisst ‚die Drak‘, Daughn. Die Synten benutzen für alle Wesen im Allgemeinen ein Vorwort, das wir mit ‚sie‘ und ‚die‘ übersetzen. Nicht mit ‚der‘. Und die Mehrzahl heisst Drakar. Es sind Worte, die direkt so auch in Ruilika benutzt werden und aus dem alten Lika entlehnt sind. Wir sollten das ebenfalls so machen, unabhängig davon ob es dann tatsächlich ein Dämon oder eine Dämonin oder was ganz anderes ist.“
Das war keine Antwort auf ihre Frage. Dennoch hörte Daughn ihm zu und lächelte. Wenn Vater über solche Dinge redete, dann hatte er Kraft in der Stimme und stolperte nie mit den Worten. Sie merkte, dass es ihm Freude machte, über die magische Sprache zu reden.
„Die Drak. Die Drak und die Litha und die Synte. Ich merke mir das, versprochen!“
Sie schaute zurück zum Fluss und schauderte. Sicher waren nicht alle Drakar böse. Aber die in Lichtrain waren böse. Ob sie ihnen jetzt nachkamen?