Geoffrey führte Trigon in einen vom Hauptgewölbe abgetrennten, kleinen Raum. Tatsächlich war die Prinzessin dort. Lia. Lia Rinelda Cabell. Sie sass auf einem Stuhl mit geschwungenen Armlehnen und Samtüberzug. Es war ihr Thron, schnell und notdürftig hergerichtet. Sie trug wie gestern auch ihre Krone, ihr Haar aber war offen und ungekämmt. Einige der Strategen standen zu ihrer Rechten und schauten Trigon urteilend an. Ugos war bei ihnen und lächelte kurz, aber es schien gequält und erzwungen. Alexander sass auf einem kleineren Stuhl auf Lias linker Seite. Er schaute gar niemanden an.
„Ihr habt vieles zu erklären, Magier“, sprach Lia. Ihre grässlich hohe Stimme schnitt hart wie Glas. „Anstatt dem Plan zu folgen, habt Ihr Euch in der Schlacht den Drakar frühzeitig offenbart und Euren Posten verlassen.“
Sie hatte um eine Erklärung gebeten, doch als Trigon den Mund öffnete, fuhr sie bereits fort:
„Euer Zauber hat den Feind nicht daran hindern können, die Stadt zu betreten. Nein, er war ihnen sogar behilflich! Ugos hat berichtet, dass Ihr in der Bibliothek gezaubert habt und Alexander kann beteuern, dass der Zauber Soldaten und auch Zivilisten gelähmt und verletzt hat, die Dämonen aber unberührt li–“
„D-Das kann nicht sein! So w-w-wirkt … der Zauber nicht“, unterbrach Trigon und merkte erst danach, dass er sie soeben bestätigt hatte. Er war nicht dem Plan gefolgt. Er hatte seinen Posten verlassen und er hatte den Bannzauber nachträglich aktiviert. Aber er hatte damit nicht die eigenen Leute verletzt. Das konnte nicht wahr sein.
Lia kniff die dünnen Lippen zusammen und legte eine Hand auf den Arm ihres Oheims. Alexander schien erst jetzt zu begreifen, wo er sich befand. Das alles war selbst für ihn zu viel gewesen. Trigons Finger waren Eis.
„Wir haben sie so lange wie möglich von der Stadt ferngehalten … Ich habe die Truppen hinter die Mauern zurückgezogen, aber es reichte nicht. Wir wurden in der Kaserne eingekesselt. Da waren auf einmal Schimmer. Ah, der ganze Himmel und die Luft schimmerten. Wir dachten, es sei ein Zeichen Gäas, aber … der Boden krümmte sich und düsterer Nebel und Schemen schossen hinaus. Ich sagte den anderen, sie sollen die Magie nicht einatmen. Ich versuchte zu helfen. Unsere Feinde blieben unberührt und lachten. Irgendwann … irgendwann gingen sie aber. Wir versuchten die Leute zu retten, aber … auch sie gingen.“
Trigon hatte den Oberbefehlshaber noch nie in solch einem Zustand gesehen. Alexander war kein Lügner. Vielleicht war wirklich alles seine Schuld.
„Mir wurde zudem berichtet“, schnitt Lia sofort noch tiefer, „dass Ihr es auf Eurem Weg zur Burg ganz und gar nicht eilig hattet, Magier. Ihr hattet genug Zeit, Euch noch hier und da mit dem einfachen Volk zu beschäftigen und ein Schwätzchen mit einem der Soldaten zu halten, als hättet Ihr genau gewusst, was sich bereits innerhalb der Burg abspielt und noch abspielen wird. Ich selbst –! Ich sah Euch doch selbst vor seinem … s-seinem Körper stehen. Ihr habt einfach dagestanden, mit schleimiger Rüstung u-und Ihr habt uns von ihrem T-Tod erzählt! Woher wusstet Ihr es bereits? Die Nachricht kam erst vorhin, I-Ihr aber –! Ihr, Magier, habt dagestanden, während der König tot im Thronsaal lag. Nur Ihr alleine habt überlebt. Und dann seid Ihr davongerannt anstatt Euch zu erklären, habt mit dem Zauber dem Gegner den Rücken gedeckt und uns noch mehr Verluste gekostet. Wieso, Magier?“
Alle standen um ihn herum und warteten darauf, dass sie sich auf ihn stürzen konnten. Trigon erinnerte sich nicht an das Ereignis, das Lia umschrieb. Doch es spielte keine Rolle. Es war in der Tat seine Schuld. Er hatte versagt. Er hätte eigentlich sterben müssen. Er und nicht all diese guten Leute. Wieso lebte er und sie waren tot?
„I-I-I… Ich … weiss es nicht.“
„Ach, er weiss es nicht?!“, jaulte einer der Strategen. Es war derjenige, der ihn am Morgen angesprochen hatte. „Er will es doch nur nicht wissen, dabei ergibt alles Sinn! Seine Seele ist genauso finster wie jene der Dämonen, darum haben sie in ihm keinen Feind gesehen und er hat ihnen in die Hände gespielt!“
„N-Nein“, ächzte Trigon.
„Niemand hat es je laut ausgesprochen“, mischte sich eine jüngere Strategin ein, „aber eigentlich wissen wir alle, dass sein Vater sich von einer dunklen Hexe hat verführen lassen. Kein Mitglied dieser Familie hat je keine Schande über sich und das Land gebracht und wir hätten wissen müssen, dass es mit diesem hier nicht anders sein wird!“
„… n-nein“, hauchte Trigon.
„Ich kann in der Tat nicht verneinen, dass seine Magie von einer Schemenhexe stammt und diese Hexe ihn vielleicht auch das eine oder andere Mal hier in Liskia besucht hat, aber …“, verriet ihn Ugos und verstummte nach dem Aber.
„I-Ira!“, japste Trigon in einem letzten Versuch, der Schuld zu entkommen. „A-Auch sie ist eine Schemenhexe! S-Sie war doch die, d-d-d… Ihre Magie nährte die Schutzzauber und sie hätte die K-K-Königin in Sicherheit und nicht in eine Falle –“
„Schweigt!“, unterbrach Lia und erhob sich ruckartig. „Ira hat mich gerettet, als die Dämonen die Burg stürmten! Mutter hat sie gebeten, mich zu finden und nur darum … Nein. Nein, das ist nicht meine und auch nicht ihre Schuld. Sie wusste nichts von dem geplanten Attentat am Sirring, Ihr aber wusstet es bereits! Wieso hätte sie mir oder auch Alexander geholfen, wäre sie die Verräterin? Wieso hätte der Heerführer Euch am Leben lassen sollen?“
„Gestern … draussen im Garten. Du hast ihn mit dem Harpyienkönig gesehen und an diesem Morgen von unserem Plan im Strategiesaal erfahren“, sagte Alexander und verstärkte damit die Vorwürfe. „Es wurde bemerkt, dass du … Du hast mit einem Sendezauber etwas an diesem Morgen verschickt. Eine Nachricht.“
Nein, dachte Trigon, doch alles rundherum war lauter.
„Meine Eltern waren stolze, gerechte Herrscher“, sprach nun Lia wieder und die Leute rundherum wurden leise. Ihr angespanntes Gesicht war die perfekte Mischung ihrer Eltern.
„Die Schwarze Königin Bertha Gerda Cabell hat ihre Ressourcen gerecht verteilt und selbst den verräterischen Dämonen des Sirrings Schutz und Soldaten zugesprochen, obwohl sie ihr keinen Schutz geben konnten. Der Schwarze König Helmut Frederik Kait II. blieb in Liskia und verteidigte die Stadt bis zum Ende. Er blieb an der Seite des einfachen Volkes als Herrscher wie auch Freund. Sie beide l-lehrten … Sie lehrten mich, streng und doch gnädig zu sein.“
Lia machte eine Pause, sammelte sich und schaute erst all ihre Untergebenen, dann direkt Trigon an. Er konnte nicht zurückschauen. Nichts konnte er.
„Ich habe viele belastende Hinweise, aber keinen direkten Beweis dafür, dass Ihr mit dem Heerführer und seinen Drakar verbündet seid, Magier. Würde ich Eure Herkunft als Beweis nehmen, dann müsste ich auch jede einzelne dunkle Synte auf diesem Land und jeden Menschen mit einem Tropfen purpurnen Blut s-sofort töten lassen. Das aber war nicht der Plan meiner Eltern und es ist auch nicht meiner. So oder so habt Ihr Eure Verpflichtungen mit Füssen getreten und all Eure Versprechen gegenüber der Stadt und meinen Eltern gebrochen. Geht, Slander. Geht und kommt nie mehr in diese Stadt. Ihr seid kein Ritter mehr, weder für mich noch für Darkeen.“
Nun schaute Trigon sie doch an. Sein Blick ging durch sie hindurch in die Leere. Sie wollte ihn nicht töten lassen, obwohl er es sicher verdient hätte. Sie wollte ihn leben lassen, leben mit dieser unglaublichen Schande. Er war immer Ritter gewesen. Der Magier der Stadt. Ohne all das … Ohne das war er wahrlich ein Niemand.