„Daughn! Daughn komm bitte zurück“, sagte Ankidria.
Inzwischen kniete sie und hatte Ailée im Arm, denn auch die Kleine hatte zu Weinen begonnen und selbst die Zwillinge konnten sich kaum mehr beruhigen und tuschelten und zeigten mit den Fingern auf die Hexen. Daughn hörte jedoch nicht auf sie und versteckte sich in Jodorkas Armen, die das Mädchen viel zu fest umschlangen und von der richtigen Familie fernhielten. Trigon fühlte so viel und nichts zugleich.
„N-N-Niemand hat euch erlaubt …! Verschwindet!“, brüllte er die Hexen an.
„Wir machen uns Sorgen. Nun nach Aurenas Fall ist das Mittelland schwach“, begann Jodorka. Die Schwestern sahen sich zum Verwechseln gleich, nur trug Jodorka ihr schwarzes Haar kürzer und ihre Augen versteckten im Gegensatz zu Jade die unnatürliche Farbe nicht, die sie als hohe Schemenhexe enttarnte. Während Jade wie bittere Minze erschien, wirkte Jodorka wie ein sanfter Pflaumenwein. In ihnen aber schlummerte das Yarr.
„Natürlich spüre ich, wenn ein Kind mit meinem Blut seine Kräfte findet“, fügte Jade harsch an. „Ich habe es schliesslich auch damals bei dir gespürt, mein Sohn. Und es war eine gute Entscheidung, sofort herzukommen. Niemand von euch weiss das Geschenk zu schätzen, das die süsse Daughn in sich trägt! Ihr solltet euch schämen.“
Das alles war falsch. Nichts davon hätte passieren sollen.
„Verschwindet m-mit euren … Lügen und e-e-eu … lasst die Angstmacherei bei jemand anderem! Wir wissen a-alles an Daughn zu schätzen! Aber … niemand schätzt euch!“
„Trigon, mein Trigon … abweisend, schmerzend und kurzsichtig wie eh und je“, seufzte Jade mit gespielter Betroffenheit. „Wir sind doch auf eurer Seite. Der Heerführer wird irgendwann kommen und dann sollten ihm solche Juwelen wie diese Kinder nicht in die Hände fallen.“
„Was … was ist mit Aurena passiert?“, hörte Trigon Jan etwas lauter sagen.
„Ein Heerführer kommt hierher?“, antwortete Rian, unsicher.
„Daughn. Bitte, Daughn. Niemand ist wütend. Wir sind nur überrascht. Dein Trick war … wunderschön. Komm zu uns, bitte“, flehte Ankidria.
Daughn schaute kurz zu ihnen, unsicher. Jodorka lächelte, grinste so unglaublich verstohlen und flüsterte der Kleinen etwas ins Ohr. Zögernd liess Daughn sie los, strich sich über die nassen Augen und lief endlich zu ihrer Mutter zurück. Ankidria schob sie sofort hinter sich und Ver hob sie hoch, vielleicht aus Erleichterung, vielleicht auch, um sie daran zu hindern, doch wieder zu den Hexen zurück zu laufen. Die Zwillinge stellten sich vor den beiden auf und Ailée brabbelte leise. Trigon war fassungslos.
„Sollte der Heerführer w-wirklich wagen, Darkeen anzugreifen … d-dann –! Ich werde ihn persönlich aufhalten. Und w-wenn es das Letzte ist, das ich mit dem Gift deiner Kräfte machen werde, J-Jade. Geht. … geht, bevor ich mich verliere.“
Er fühlte sich jetzt schon verloren. Nur seine Familie gab ihm Kraft. Daughn war bei ihnen. Daughn besass Magie, aber sie war und blieb seine und Ankidrias Tochter. Nicht Jades.
Die Hexe gab ein beleidigtes Quietschen von sich und kreuzte die Hände. Ihre Schwester sah sie alle mitleidig und herablassend an.
„Muss ich euch wirklich erst direkt vor Augen führen, was in Gahlaria geschieht, dass du auf mich hörst!“, fauchte Jade und wie damals auf Trigons Gemach in Liskia formten sich die Schemen flüssig und leuchtend unter ihren Fingern.
„Wag es nicht!“, drohte Trigon und auch er formte einen Zauber vor seinen Fingern, denn er konnte nicht zulassen, dass Jade vor seinen Kindern ihr Gift streute.
Auf einmal erstarrten Jades Schemen, zerfielen dann, schmolzen auf dem Boden dahin. Aber auch Trigons Lichter wurden zerrissen und ein übles Stechen in seinem Kopf machte es auf einmal unmöglich, sie zurückzuholen. Kalter Schweiss lag ihm im Nacken, sein Blut schien zu gefrieren. Die Kinder schrien auf, als auf der Seite auf einmal, umringt von Düsternis, eine grosse Gestalt erschien. Sie trug eine schwarze Kutte mit kupferfarbenen Verzierungen. Auf ihrer Brust lag ein Amulett mit dem Symbol Yarrs, der dunklen Urmacht, aus der die Schwarzmagie entstanden war. Die Gestalt trug eine Maske, hinter der keine Augen sichtbar waren. Ein giftig grünes Glühen drang stattdessen hinter der Maske hervor. Auch der Rest ihres Körpers schien nicht zu existieren, obwohl die Kutte durchaus gut gefüllt war. Ihre Handschuhe liessen die Finger frei, aber auch diese waren pure Düsternis, mit glühenden grünen Spitzen, wo die Magie bereit war, neue Schemen zu formen.
„Lewo!“, japste Jade und trat einen Schritt zurück.
Lewo. Natürlich. Eigentlich hätte Trigon die Gestalt direkt erkennen sollen. Er war einer der sieben Karosyarran, der Schemenwächter. Ein Widersacher der hellen Gottheiten, der deswegen von einigen selbst als ein Gott bezeichnet und verehrt wurde. Lewo war der Hüter Nediyarrs, dem Schemen der Furcht. Jade und Jodorka hatten sich ihm unterworfen. Seinetwegen konnten sie nie Teil seiner Familie sein.
„Du wirst den Heerführer aufhalten“, sprach der Wächter und lachte lieblos auf. Seine Stimme kam von überall und nirgends und hallt leicht. Er sprach kein Mittländisch und doch verstand Trigon jedes Wort. Wie Spinnen mit dürren Beinen schlich sein Hohn in sein Ohr, um ein Netz in seinem Kopf zu weben, ihn zu lähmen. „Ausgerechnet du. Grüss den Heerführer von mir und lass dich nicht gänzlich von ihm verschlingen.“
Im nächsten Augenblick waren die Hexen und ihr Gott fort, fort wie Mimi, aber im Gegensatz zu ihr durch die schwarzen Arme der Schemen verschlungen. Nur langsam konnte Trigon zumindest einen Teil der Furcht abschütteln und sich wieder bewegen. Er schaute in die bleichen Gesichter seiner Familie. Sie waren alle starr, dann konnten auch sie den Spinnweben in ihren Köpfen entkommen. Ailée kreischte auf und begann laut zu weinen. Ankidria sprach ihr leise zu, doch ihre Augen waren geweitet und starrten auf die nun leere Stelle, wo eben noch der falsche Gott und seine Dienerinnen gestanden hatten. Die Zwillinge zitterten und atmeten schwer. Ver gluckste nervös, musste sich abwenden. Nur Daughn war ganz ruhig.
Ihre Kräfte hatten nichts mit der Schwarzmagie zu tun. Trigons Familie bestand aus Menschen und sie waren Gäas Schimmern näher als den Schemen. Sie waren nicht so wie die Hexen. Aber der Heerführer war den Hexen ähnlich. Lewo hatte ihn nicht grundlos erwähnt.
„Es t-tut mir leid“, wimmerte Daughn irgendwann leise.
„Nein. Nein. Das muss es doch nicht“, versicherte Ankidria.
Auch die Zwillinge entschuldigten sich und Ailée wünschte sich Mimi zurück. Trigon hätte Daughn gerne ebenfalls gesagt, dass es ihr nicht leid tun musste. Dass alles in Ordnung war. Aber nichts war in Ordnung. Das Yarr streckte seine Klauen nach ihnen aus.
In zügigem Schritt leiteten sie die Pferde die Hauptstrasse entlang. Trigon auf seiner Firnin und Jeanne auf ihrem hellen Falben. Nebel lag vor ihnen und Schnee zu beiden Seiten der Strasse. Hinter ihnen lag Wilden. Die Leute im Dorf hatten ihnen lange nachgeschaut, erst recht, da sie nicht vom unteren Tal her gekommen waren. Jeanne war nicht auf dem gewohnten, langen Weg nach Hause gereist. Nicht an Liskia vorbei, sondern direkt durch den kleinen Pass bei Listor. Vor ihnen in der Höhe lag Lichtrain und trotzdem konnte Trigon keine Erleichterung spüren.
„Du hättest mir wirklich nicht entgegenkommen müssen“, merkte Jeanne erneut an.
„Aber … du bist meine kleine Base“, begründete Trigon seine Tat.
„Seit beinahe sechsundzwanzig Jahren, mhm. Ich kann Strassenschilder lesen.“
Sie blieb ruhig, Trigon aber musste schnauben. Sie konnte so stur sein!
Eine Weile schwiegen sie beide, aber Trigon fühlte sich nicht gut dabei. Er hatte sich Sorgen gemacht. Jeanne war zum Zeitpunkt des Angriffs auf das Goldene Reich noch im Norden gewesen. Natürlich war sie sofort zurückgerufen worden, denn auf eine so wichtige und gute Frau wie Jeanne konnte Liskia nicht verzichten. Da war Trigon auf einmal klar geworden, dass sie der Weg zu ihnen ab der Grenze Na’Rins durch eine Kriegszone führen würde. Da hatte er ihr doch entgegenkommen müssen, ein kleines Stück zumindest?
„Du hm … du hast vorhin gesagt, dass du auf deinem Weg durch –“
Jeanne gab ein lautes Ächzen von sich.
„Triiigooon! Es war eine lange Reise und ich bin müde! Wie schon gesagt, bin ich nicht in ein Gefecht gekommen! Weder in, vor oder nach der Grenze!“
Sie funkelte ihn an, mit einem wütenden, strengen Blick. Trigon konnte nicht verhindern, dass sie ihn in dem Moment an seinen Vater erinnerte. Wie denn auch nicht? Sie war ihm so viel ähnlicher als er. Jeanne besass Leidenschaft, die Neugierde zu reisen und sich neuen Gefahren zu stellen. Sie sah ihrem Oheim sogar ähnlicher als Trigon. Als Kind hatte er sich zeitweise sehr dafür geschämt, der einzige am Hof mit dunklem Haar zu sein, mit der grauen Strähne darin, die so unnatürlich war und von seiner magischen Herkunft zeugte. Jeanne wäre das passende Kind für seinen Vater gewesen.