Trigon verliess den Garten und auch das Areal der Burg. Ziellos lief er hinaus auf die Strassen Liskias, die ausnahmsweise mal so voll wie vor dem ganzen Grauen der zweiten Jahreshälfte waren. Wie viel Zeit blieb ihm noch? Würde er den Hexer wirklich bannen können?
Nur einmal schaute Trigon zurück und entdeckte dabei ein schwarzes Paar Flügel in der Menge. Liskias Schutzzauber waren so stark wie noch nie und bildeten eine feste, für normale Sinne unsichtbare Kuppel um die Stadt. Verlassen konnte man Liskia darum auch mit Flügeln nur noch über die bewachten Tore. Aber würde so etwas den Schlund aufhalten?
Er betrat den Schwarzen Biber und schaute sich um. Es war viel enger und lebendiger in der Taverne als am Fest in der Burg. Unbekümmerter. Trigon erhielt sofort einige aufgeweckte Zurufe, als die Leute ihn erkannten. Nur er kannte leider genau keine Person. Er hatte gehofft, Jeanne hier anzutreffen. Ans Fest auf der Burg war sie nicht gekommen, obwohl sie eigentlich mehr Anspruch dazu gehabt hätte als er. Trigon wäre gerne umgekehrt. Aber es wäre unhöflich und auffällig gewesen, jetzt sofort wieder zu gehen. Er biss also die Zähne zusammen, holte sich zwei Bier und setzte sich an einen der wenigen noch leeren Tische.
Die erste ihm bekannte Person, die durch die Tür trat, war keine, mit der Trigon in jedem anderen Fall getrunken und erst recht über persönliche Dinge gesprochen hätte. Ihr auffälliger Anblick liess ihn wieder an die Arbeit denken. Daran, wie Jeanne und Ankidria sich durch einen direkten Kontakt mehr Informationen über die Schemenhexen und die Karosyarran erhofft hatten. Es war besser als gar nichts, also fing Trigon den Ritter namens Less Err Leather ab, sobald der sich an ihm vorbei zum Tresen quetschen wollte.
„Womit hab ich diese Ehre verdient? Hat Jeanne damit zu tun?“, fragte Leather skeptisch, als Trigon ihm das zweite Bier zuschob. Leather war jung und er war nicht aus dem Adel. Er war ein Ausländer aus einem wenig geschätzten Land und hatte durch glückliche Zufälle die Ausbildung zum Ritter machen und im letzten Frühling beenden dürfen. Schon damals war er auffällig gewesen mit der brauen Haut, dem scharfen Gesicht und dem flammenden Haar. Seit dem Frühherbst aber war er noch auffälliger. Ein Wandelfluch hatte ihm die grossen Ohren, die spitzen Zähne und den langen Schweif eines Kobolds beschert. Niemand in Liskia und auch nicht Trigon hatte ihm helfen können. Der Fluch war nämlich von keiner anderen als der berüchtigten Ira van Niderborgen ausgesprochen worden. Sie war die eine andere Schemenhexe, die Trigon kannte.
„Nicht direkt. N-Nein eigentlich … eigentlich gar nicht.“
Trigon blinzelte und wusste nicht, was er sich überhaupt erhoffte.
„Ich will dir nicht zu nahe treten, aber … v-vielleicht kannst du mir tatsächlich bei meinen Studien helfen?“
„Ich soll dir helfen? Ich Armseliger kann doch nicht mal lesen!“, feixte Leather und Trigon lachte gepresst, weil das ein komischer Witz gewesen war.
„Wie auch … immer. Du hast bestimmt b-bereits einiges über … meine Sache gehört. Ich habe viele I-Informationen gesammelt, aber das alles ist nicht vergleichbar mit jemandem, der tatsächlich p-persönliche Erfahrungen mit … einem Schemenwächter gemacht hat.“
Leather hatte seinen Krug an die Lippen gelegt, nun aber schlug er ihn auf den Tisch und bleckte die schauderhaft scharfen Zähne.
„Was ist mit ihm?“
„S-Sag du es mir. Ich kenne ihn nicht.“
Trigon wusste, dass Ira van Niderborgen einem der Karosyarran nahe stand. Sie machte kein Geheimnis draus. Sie hatte nie direkt gesagt, welcher der sieben es war, hatte lediglich diesen Herbst Alexander verständlich gemacht, dass sie mit dem Heerführer nichts zu tun hatte. Jeanne aber hatte eine Theorie, die er ihr gern glauben mochte. Und einmal mehr fragte auch er sich, ob man ihr trauen konnte, wenn sie ihre Kräfte doch aus der gleichen Quelle wie der Feind schöpfte, damit schon ungestraft Leute in ihrer Ritterschaft verflucht hatte. Es war nur Leather gewesen. Und trotzdem.
„Wie ich bereits allen hunderte Male erzählt habe: Ich habe ihn nur einmal kurz getroffen, zumindest in seiner echten Gestalt. Wirklich persönlich würde ich es nicht nennen, mal davon abgesehen, dass dieser verfickte Dämon mir das hier angehängt hat!“
Er schnippte sich gegen eins seiner langen, einem Esel ähnlichen Ohren, die mehr schlecht als Recht von seiner Wintermütze zurückgehalten wurden.
„Das … i-ist natürlich unschön. Aber d-denkst du … glaubst du, er könnte uns eine Hilfe sein? G-Gegen den Heerführer meine ich. Dass er und Ira u–“
Er konnte nicht weiterreden, da Leather laut auflachte. Trigon hatte selten so viel Bitterkeit und Verachtung in einem Geräusch vereint gehört.
„Du solltest deine Familie nehmen und einfach gehen. Du solltest gehen und ich sollte das auch. Einfach verschwinden. Jahrelang hat diese Stadt auf die Dämonen gespuckt und jetzt auf einmal wollt ihr euch alle von der Magie einer Schemenhexe retten lassen! Diese Stadt wird fallen, Slander! Siehst du das wirklich nicht?!“
„Liskia sp-sch-spu… nicht. Nein. N-Nein …“
Während Trigon mit seinen eigenen Worten kämpfte, näherte sich ein junger Mann dem Tisch, angelockt von Leathers lauter, höhnischer Art. Trigon hoffte, dass er wieder gehen würde, wenn er ihn ignorierte. Leather hingegen drückte dem Burschen seine Hand mitten ins Gesicht, was den aber nicht zu stören schien. Er musste schon sehr betrunken sein.
„Meine Familie wird gehen … sollte es so weit kommen müssen. Ich aber m-muss –“
Das hier war wertlos. Nur weitere vergeudete Zeit.
„Dann geh zum Sirring und frag Ira selbst. Geh und füll die Stille mit deinem Stammeln, Slander. Ich hab damit nichts mehr zu tun“, beendete Leather das Gespräch und liess auch das Gesicht des jungen Mannes wieder los. Dieser schwankte und schien von ihrem Gespräch tatsächlich nichts mitgekriegt zu haben. Trigon konnte nicht verstehen, wie Leather so wenig Mitgefühl haben konnte, so wenig Interesse an dem Schicksal eines Landes und der Leute, die ihn trotz seines niederen Standes aufgenommen hatten.
„Gut für dich, Leather … Ira wird n-nämlich morgen selbst herkommen und die Schutzzauber erneuern, die auch d-deinen Koboldhintern vor dem Feind schützen.“
„Was?!“, rief Leather wie erwartet aus und sprang ruckartig auf.
Der junge Mann vor ihrem Tisch quietschte und stürze, riss dabei auch gleich noch Leathers Stuhl mit sich. Die ganze Taverne starrte sie an und dieses eine Mal störte es Trigon tatsächlich nicht, denn Leather war mit Abstand jämmerlicher als er. Leather war auch derjenige, der nun laut fluchend aus dem Gebäude eilte.
Trigon warf einen kurzen Blick zu dem gestürzten Burschen, aber der schien sich nicht verletzt zu haben. Also erhob auch er sich und folgte Leather auf die Strasse hinaus. Er wollte nicht mehr hier sein und im Gegensatz zu Leather hatte er noch Arbeit vor sich. Einen Ort, für den er gerne ein Opfer einging. Er war kein Held, aber er versuchte es wenigstens.
Leather war bald ausser Sicht. Es war dann aber Jeanne, die ihn auf halber Strecke zurück zur Burg einholte und ihm den Weg abschnitt.
„Trigon! Was hast du getan?!“
Er wich ihrem Griff aus und erwiderte ihren erzürnten Blick. Wieso war Jeanne wütend? Sie selbst hatte mehrmals betont, dass Leather nicht mehr ihr Freund war, sie genug von dessen ständiger Undankbarkeit hatte. Oder ging es ihr gar um etwas ganz anderes?
„I-Ich weiss nicht! Was hast d-du denn getan?“
„Entschuldigung?“, verstand Jeanne nicht.
„Du hast mich zu einem Turnier angemeldet, zu d-dem ich nie wollte, Jeanne! Du hast mich zu einer Konfrontation mit den Hexen gedrängt! Du wolltest mich v-vor allen entblössen, o-obwohl du weisst, dass –! Du wolltest, dass ich mir Informationen aus einer d-d-direkten Quelle hole und wie gedacht, h-hat das genau nichts gebracht!“
„Trigon …“, murmelte Jeanne und senkte langsam ihre Hand. „Trigon. Es tut mir leid. Das war … wirklich nicht gut von mir.“
Diesmal schien sie es ehrlich zu meinen. Trigon beruhigte sich etwas, fasste sich an die Stirn, und die Leute starrten und tuschelten, erfanden neue Gerüchte.
„Ich habe nichts Unrechtes getan. Ich habe mir das nicht ausgesucht.“
„Ich weiss … Es ist spät, Trigon. Geh ins Bett. Ruh dich aus.“
Trigon blickte seine Base an und verstand nicht, wieso selbst sie ihm keine Stärke gönnen wollte. Wieso sie nicht verstand, dass er keine Pause verdient hatte, dass ihnen keine Zeit mehr blieb. Sie konnte ihn nicht verstehen und er konnte seine Last nicht teilen.
„Ich gehe in die Studienhalle“, entschied Trigon.
„Morgen, Trigon. Morgen hat das auch noch Zeit“, widersprach Jeanne.
„Nein, Jeanne. Nur die Ewigkeit hat Zeit, das hast du gesagt“, ächzte Trigon und ging zügigen Schritts weiter. Er war müde. Es gab noch so viel zu tun. Heute feierten die Leute. Aber der Krieg konnte schon morgen vor ihrer Tür stehen.