Mehr von dem Geschehen musste Tajen nicht sehen und konnte er auch gar nicht, da sich Godrins massiver Körper vor sein Sichtfeld schob.
„Morgen, Leri. Frau Torne.“
„Was willst du?“, fragte Rena wenig begeistert.
Als Antwort streckte sein Stellvertreter ihr seine Hand entgegen, von der zwei Finger in einem stark falschen Winkel abstanden. Tajen wusste einmal mehr nicht, ob er Godrins Härte bewundern oder sich sorgen sollte.
„Ich bin keine Heilerin. Du solltest zum Tempel damit“, erklärte Rena, aber sie wirkte, zu Tajens Erstaunen, nun eine Spur sanfter.
„Hast Soren geholfen.“
„Das ist nicht das Gleiche. Er war bereits behandelt und im Heilungsprozess. Ich arbeite mit Luft und habe nur etwas Affinität zu Wasser oder gar der Erde. Ich kann den Geist klären und beruhigen, damit die vorhandenen eigenen Kräfte im Körper stärken. Nicht Knochen richten.“
Godrin grunzte. Er hatte nie viel Verständnis gehabt für die verschiedenen Wege, wie sich Magie in einem Individuum bilden und unterschiedlich zu einem anderen heraustropfen konnte. Rena schien das ebenfalls klar zu sein. Das, oder es war ihr eine gute Ausrede, um dem Heerführer nicht dabei zuzusehen, wie er mehr ihrer gewählten Volksleute exekutierte. Sie erhob sich, nahm Vis an der unverletzten Hand und führte ihn von der Tribüne hinunter.
Tajen schaute nicht noch einmal nach vorne, klopfte dem Burschen in der hinteren Reihe stattdessen aufmunternd aufs Knie. Der Junge hatte nicht die Stärke, seinen Blick vom Geschehen abzuwenden, war tatsächlich in einer Art Zwang. Es tat Tajen schon etwas leid. Er selbst fühlte sich nun, so falsch es klingen mochte, etwas ruhiger. Was auch immer am gestrigen Tag noch passiert war, der Heerführer wirkte zufrieden und schien kein weiteres Interesse an ihm zu haben. Ihm war das momentan recht. Dass die Ayvezo hingegen auf der Lauer war, hatten ihm seine Männer bereits offenbart. Darum erstaunte ihn wenig, dass Tezius seine Nähe gerochen hatte und am Eingang der Arena auf ihn wartete.
Der Dämon verneigte sich tief, als Rena mit Godrin an ihm vorbei ging. Sie hielt nur kurz, gerade genug lange, um eine kräftige Watsche auf der vernarbten Wange des Schlürfers zu hinterlassen. Die Attacke liess die Luft knallen. Aber sie reichte leider nicht, um Tezius stürzen oder wenigstens zusammenzucken zu lassen. Er schaute zu ihr hoch, dann lachte er, lauthals und mit verkorkster Belustigung.
„Ich sehe schon. Euer neues Mädchen besitzt Kraft, das muss man dieser Sterblichen lassen. Ich hoffe, Ihr hattet bereits viel Freude an ihr, Söldner.“
„Ich bin niemandes Mädchen, Drak“, log Rena. Tajen hatte das Versprechen in der Form des kleinen Anhängers auf ihrer Brust bemerkt. Tatsächlich hatte niemand es ihr abgenommen, oder sie hatte es gut versteckt im Käfig. Es war kein Original aus der Tenderis, der Zauber darauf fehlte, der sie zu ihrem Gegenstück führen konnte.
„Oh. Das können wir ändern“, hauchte Tezius und von allen Leuten war es Godrin, der sich dazwischen stellte, als der Seelenfresser seine Klaue nach Rena ausstreckte.
„Was wollt Ihr schon wieder?“, fragte Tajen und stellte sich ebenfalls dazwischen.
Der Schlürfer streckte sich, setzte eine Maske des Bedauerns auf.
„Tatsächlich wollte ich sicher gehen, dass die gestrige Konfrontation nicht zu irgendwelchen Missverständnissen führte und mich entschuldigen, falls dem so wäre“, behauptete er.
„Ich glaube nicht, dass wir von Missverständnissen sprechen können“, antwortete Tajen.
„Ach, beiläufig. Ihr habt mich inspiriert, Hauptmann. Ihr und Eurer Einsatz für diese … Sterbliche.“
„Aus Eurem Mund ist das nicht das Kompliment, für das Ihr es halten mögt.“
Die Ayvezo ignorierte auch diesen Einwand.
„Ich habe mir nun ebenfalls ein Mädchen geholt. Ein noch sehr junges, das gut formbar ist. Ich werde es füttern, füttern mit Blut und mit Leid, es brechen und mir aus seinen Resten eine zeitlose Schwester erschaffen. Sie wird ein Kunstwerk sein und vielleicht sogar ein würdiges Geschenk für den Heerführer und das Yarr ergeben. Eins von vielen, die ich nun für ihn formen darf.“
„Yarrs Bastard“, fluchte Godrin in seinen Bart hinein.
„Das ist … grauenhaft“, stiess Rena hervor.
Tajen hätte ihnen zugestimmt, hätte er sich vor dem Seelenfresser die Abscheu offen eingestehen können. Gestern noch waren die Zrinnon mit ihm gewesen, aber heute waren sie fern und die Luft wirkte tot.
„Für eine ahnungslose Sterbliche mag es grauenhaft wirken, aber was denn nicht?“, näselte Tezius. „Ich bin ein Energiedämon und um grosse Energien erschaffen und nähren zu können, benötigt es bedeutsame Taten. Man muss tief in den eigenen Abgrund greifen, um die Macht darin greifen zu können.“
„Mir bleibt unerschlossen, weshalb diese Worte für uns relevant sein sollen“, sagte Tajen nach einem Moment der Stille, deutete Godrin an, dass er mit Rena gehen sollte. Sie schien kurz protestieren zu wollen, blieb aber doch kooperativ und der Ayvezo schien ganz recht, dass die zwei sie alleine liessen.
„Wie gesagt, Ihr habt mich inspiriert, Leri. Ich will Euch zum Dank einen Einblick in meine Praktiken schenken und Ihr könnt dann im Gegenzug mir einen Hauch Eures Erbes zeigen.“
Tajen starrte in seine starren Schwefelaugen.
„Ich lehne das Angebot ab.“
„Ihr würdet bereuen, nicht mit mir zu kommen, Söldner.“
„Der Heerführer würde bereuen, mich und meine Leute Eurer Arroganz wegen vor Vertragsende zu verlieren.“
Tezius grinste. Er beugte sich vor, lauerte wie ein Fuchs auf der Jagd.
„Mit dem Heerführer hat das gerade gar nichts zu tun. Ich habe die Leere gesehen und verehre ihre süsse, endlose Tiefe. Eure Seele aber besitzt eine andere Art der Leere. Eine Lücke im Gefüge, die ich noch nicht fassen kann und deswegen umso mehr begehre. Ich will Euch essen, Hauptmann. Aber ich weiss, dass mir das nur kurz Freude bescheren wird. Seid also schlau und verhelft mir zu einem längeren Genuss, von dem wir beide profitieren.“
Tajen überlegte, was passieren konnte, wenn er der Drak direkt hier ihren Wunsch erfüllte und ihr zeigte, wie wenig sie ihn und seine Magie tatsächlich fassen konnte. Ihr danach seinen mit Platinum überzogenen Dolch bis zum Ansatz in die Brust gerammt hätte, falls da überhaupt ein Herz schlug. Er spürte ein warnendes Stechen in seinen Händen.
„Ich werde mitkommen und mir Eure Gräueltat ansehen, aber von mir selbst werdet Ihr nichts erhalten und das ist ein simpler Fakt“, entschied er also.
„Ach, Hauptmann. Ich sehe das nicht als Fakt an, sondern als erste Annäherung.“
Der Schlürfer lachte und legte seine dürren Finger auf Tajens Schulter. Tajen spürte nun intensiv, wie der Dämon auch seine anderen Sinne nach ihm ausstreckte, ein Netz um ihn zu weben versuchte. Tajen zog sich möglichst weit von ihm zurück, war nun derjenige mit der Mauer. Erst recht, als sie zuletzt in Tezius’ Nest standen und er das von ihm beschriebene Grauen sehen musste.
Das Mädchen, acht, höchstens zehn, dessen Nägel kaputt und blutig waren, weil es versucht hatte, dem verriegelten Raum zu entkommen. Selbst ohne Schloss hätte es die magische Barriere nicht überwinden können. Dieses Mädchen, dessen Gesicht in Grauen erstarrt war, ein Auge blutig und unbrauchbar, das andere permanent aufgerissen und geweitet. Ein Kind mit einem kleinen Messer in den Fingern, das aufschrie, als die Tür sich öffnete und sein Peiniger gemeinsam mit Tajen durch die Barriere trat. Das Messer verfehlte sein Ziel, da Tezius mit Leichtigkeit um das Mädchen herumtanzte, traf stattdessen Tajens Arm und riss seinen Ärmel auf, verursachte einen winzigen Schnitt in seiner Haut.
Tezius zog dem Mädchen das Messer aus den Fingern, ganz sanft, fesselte es mit der Hilfe zweier Schemen und zerre es zurück in die Mitte des Raums. Das Mädchen bettelte und schrie, war aber gar nicht mehr die direkte Zielscheibe des Dämons. Im Raum befand sich auch ein Mann. Ein Mann war an die Wand gekettet, war malträtiert und kaum bei Bewusstsein. Noch immer bettelte das Mädchen, heiser und erschöpft, aber dem Schlürfer war es einerlei. Er demonstrierte mit dem Messer und dem Mann, was Leid bedeutete und wie er sich selbst davon ernährte, dem Kind zuletzt ebenfalls etwas davon in Form von eigenem Blut, vermischt mit Magie aufzwang. Tajen schaute auf seinen Arm hinab. Sein Arm war taub. Das Messer hatte eins der Sfaira getroffen und es blutete nicht stark, aber es blutete grün wie aus einem Smaragd. Seiferte.
„Ich muss jetzt gehen“, verkündete Tajen und er verliess das Nest des Schlürfers, ohne dessen Reaktion abzuwarten. Er fühlte sich taub an, selbst als er zurück bei seinen Leuten ankam und Soren sich gleich besorgt nach ihm erkunden wollte. Als dessen Freund und Torne ihm nachschauten, einer neugierig, die andere verachtend. Als Wendler nach einer Antwort verlangte, Godrin sich mit ausdruckslosen Gesicht dazwischen aufbaute und Skil ihm unauffällig einen Talisman in die Finger drückte. Tajen ging auf sein Zimmer, setzte sich mit schwerem Kopf aufs Bett und starrte wieder auf seinen Arm hinunter, sah dabei aber das Gesicht dieses Mädchens. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er nicht, was Nuira von ihm wollte, was ihre Ziele waren und was er überhaupt bewirken konnte. Ob er das richtige tat. Sie hatte ihn und die Dhrunuran hergeschickt. Aber war es gerecht?