Daughn stand in ihrem und Ailées Zimmer.
In der ersten Nacht hatte Hanna ein getrocknetes Kraut auf Ailées Kissen gelegt. Daughn wusste nicht, was für ein Kraut es war. Aber sie hatte es weggenommen, sobald Hanna aus dem Zimmer gegangen war. Ailée hätte das Kraut nämlich ganz sicher eklig gefunden!
Jetzt war ihr Bett leer. Es befand sich nicht einmal ein Kissen mehr dort. Es war eigentlich nicht mehr auch ihr Zimmer.
Daughn öffnete die alte Kiste neben dem leeren Bett und schnaufte. Wie erwartet lag darin ihre Tasche, die sie sich mit einem passenden Gürtel umbinden konnte. Sie hatte die Tasche zu ihrem Geburtstag bekommen. Obwohl die Tasche klein und leicht war, hatte sehr viel darin Platz. Das war so, weil sie aus einem Schluckermagen gemacht war. Daughn hatte sie getestet und herausgefunden, dass genau zwölf grosse Äpfel oder vier schwere Steine und zwei Hände voll Erde hineinpassten. Was ein Schlucker war und wie so eine Tasche gemacht wurde, das hatte sie erst später beim Besuch auf der Schneckenfarm erfahren. Sie hatte die Tasche seitdem kein einziges Mal mehr angefasst. Jetzt aber. Jetzt würde sie weggehen und sie brauchte eine Tasche, in der all ihre wichtigen Dinge Platz hatten.
Zuerst packte Daughn ein frisches Paar Socken und Unterwäsche ein. Ihr Nachtkleid durfte auch nicht fehlen. Sie wollte auch ein anderes Kleid einpacken. Ihr schönstes trug sie aber schon, darum war es schwer für sie, sich zu entscheiden. Sie seufzte laut und packte stattdessen erst ihre restlichen Sachen. Sie legte den Rosenquarz, den sie von Tante Jodorka geschenkt bekommen hatte, in die Tasche, dann die schöne Feder von Jeanne. Auch ihr Zauberhase kam sicher in die Tasche. Das Glöckchen an seinem Hals klingelte leise. Daughn hatte es beim Grab gefunden, ausgebuddelt und schmutzig. Der Segen hatte nicht funktioniert. Darum hatte sie es dem Zauberhasen zurückgegeben.
Während Daughn überlegte, was sie noch einpacken musste, kam Vater ins Zimmer. Bevor sie widersprechen konnte, hob er sie hoch und trug sie aus dem Haus. Daughn hätte gerne noch einmal das Grab besucht und den anderen erzählt, dass sie jetzt weggehen würde. Aber da sassen sie und Vater schon auf Firnin und es ging los. Vater hatte ebenfalls einige Dinge gepackt, aber Daughn wusste nicht, was für welche. Sie wusste nur, dass in einer der Taschen auch ihr Lieblingsbuch sein musste. Eigentlich hatten sie zur Lis reiten und nach Libellen und Fröschen suchen wollen. Vater hatte ihr gesagt, dass bald der Frühling da sein würde und dann wurde alles gut. Aber heute war es kalt.
Sie ritten nicht zum Dorfplatz und die Strasse zur Lis hinab. Sie ritten beim Weg vorbei, der hinauf zum Schrein führte, und weiter dem Hügel entlang. Vater sagte die ganze Zeit über nichts. Daughn getraute sich nicht, eine Frage zu stellen. Als es darum eine ganze Weile ruhig war, musste sie auf einmal über den heutigen Tag nachdenken. Sie mussten weg. Sie mussten weg, weil böse Leute nach Lichtrain gekommen waren. Daughn erinnerte sich nicht mehr an viel. Sie hatte die meiste Zeit die Augen zugeklemmt. Aber sie erinnerte sich daran, wie die Person mit dem besonders finsteren Lächeln aussah. Ein Dämon war das gewesen. Kylian Tezius. Er hatte sie zum Heerführer bringen wollen. Der Heerführer war schuld daran, dass alle Angst hatten. Das hatten Rian und Jan erzählt. Der Heerführer wollte den Leuten alles wegnehmen. Der Heerführer hatte Rian und Jan weggenommen. Sie, Ailée und auch Mutter und Ver. Jetzt war selbst Jeanne weg und ihr Zuhause war weg und Daughn spürte, dass sie weinen musste, aber sie wollte die Tränen nicht herauslassen. Sie wollte nicht schluchzen, nicht so laut zumindest! Vater sagte doch kein einziges Wort und wenn Daughn laut war, dann hörten die bösen Leute sie. Sie mussten weg.
Irgendwann hatten sie Lichtrain weit hinter sich gelassen. Vor ihnen tauchte ein Dorf auf, das Daughn gar nicht kannte. Es war anders als die Dörfer der Lis entlang hinunter ins Lichttal. Um das Dorf herum standen hohe, dicke Mauern, mit Türmen wie bei einer kleinen Burg. Ein besonders grosser und breiter Turm stand hinten im Dorf und überragte alles.
„V-Vati? Vati, wo sind wir?“, getraute Daughn doch endlich zu fragen.
„Listor“, antwortete Vater und er klang komisch. Als wäre er weit weg. „Es ist der schnellste und sicherste Weg hinaus aus dem Lichttal, der nicht an Liskia vorbei führt.“
„Ah. Wieso gehen wir nicht nach Liskia?“
„Dort ist es … nicht sicher für uns, Daughn. An dem Tag, an dem J-Jade dich weggebracht hat … Feinde kamen an dem Tag und ha-haben alles … zerstört. Liskia gehört jetzt ihnen. Aber sie kriegen dich nicht auch. Dich kriegen sie n-ni–! Ich pass auf dich auf.“
Vaters schöne Stimme zitterte, klang ganz anders, als wenn er ihr aus einem Buch vorlas. Daughn hob den Kopf ganz stark und versuchte ihn anzuschauen. Sie sah nur sein Kinn mit langen Bartstoppeln, und seine Kapuze machte ihn düster.
„Darum gehen wir nach Listor?“
Er antwortete nicht. Daughn war inzwischen gewohnt, dass er ihr nicht immer zuhörte und erst recht nicht immer antwortete. Sie kniff die Lippen extra stark zusammen, um nicht wieder weinen zu müssen. Sie ballte auch ihre Faust, suchte damit dann in ihrer Tasche die weiche Pfote ihres Zauberhasen. Listor ging so schnell an ihnen vorbei, sie konnte gar nicht darüber nachdenken. Niemand hielt sie und Firnin auf. Bestimmt kannten sie halt alle Vater, denn er war ein wichtiger Ritter und ein Magier. Sie ritten dann auch durch den besonders grossen Turm hindurch, der zwischen besonders hohen Mauern steckte. Dahinter kam nicht mehr viel ausser einer einzelnen, steilen Strasse, ohne Menschen und andere bekannte Dinge. Irgendwo plätscherte Wasser. Daughn schloss die Augen und stellte sich vor, dass es die Lis war und sie bald wieder zuhause waren. Keine bösen Leute warteten auf sie, sondern ihre Familie. Es war schön.
Als Daughn blinzelte, war es auf einmal dunkel. Ihr war kalt, sie hatte schlimm Hunger und alles tat ihr weh. Sie war nicht in ihrem Bett und sie war fast noch müder als zuvor. Sie sass immer noch auf Firnin und Vater hielt sie, aber sie fühlte sich trotzdem nicht wohl. Wieder waren sie bei einem Dorf, das Daughn nicht kannte. Diesmal aber ritten sie nicht direkt durch. Ihr Vater redete mit einem Mann, der gar nicht glücklich aussah. Er hielt eine Heugabel in seiner Hand wie ein Soldat seinen Speer. Er ging dann aber bald und Vater liess Firnin weiterlaufen, langsam diesmal. Vor einem Haus mit Stall und Garten hielten sie. Vater stieg von Firnin und Daughn musste sich gut am Sattel halten, um nicht hinunterzurutschen. Er band Firnin am Haus fest und half Daughn von ihr zu steigen. Er zog ihr die Wintermütze tief ins Gesicht, ehe er sie bei der Hand nahm. Daughn merkte, dass Vater immer noch die Kapuze auf und tief ins Gesicht gezogen hatte. Er wirkte fast etwas fremd.
„Wir übernachten hier in der Gaststätte, Daughn.“
„Und dann gehen wir wieder nach Lichtrain?“, fragte Daughn.
Sie musste gähnen und dachte gar nicht nach. Erst als Vater so traurig schaute und ihr einmal mehr keine Antwort gab, da erinnerte sie sich. Sie konnten nicht zurück.
„Wie fühlst du dich?“, wollte Vater wissen.
„Ich? Ähm … Guuut. Wunderschön“, log Daughn und umarmte ihn mit aller Kraft. „Hast du Angst, Vati? Ich habe nämlich keine Angst. Nie, niemals!“
„… lass uns reingehen, Daughn.“