Ich war nun nahezu drei Wochen weg, und da, wo ich war, gab es überwältigende Sonnenuntergänge, liebliche Landschaften, schroffe Felsen, das ewige Meer und… ich höre besser auf, zu schwärmen.
Dabei sieht es zunächst verteufelt gut aus. Da, wo wir wohnen, kommt man nur über Schotterpfade und Schleifenkurven hin. In den nächsten Supermarkt zu fahren dauert eine Stunde, und eine Internetverbindung gibt es auch nicht, bzw, aus kaum nachvollziehbaren Gründen, nur nachts.
Dafür aber endlose Hügelketten, Schirmpinien, Säulenzypressen, Esel und Ziegen. Und einen 20-Meter-Pool, sodass ich morgens vor dem Frühstück erst einmal 1 km schwimme. Nun haben es Pools auf toskanischen Landgütern an sich, nur über schmale Schotterpisten bergab erreichbar zu sein, was mit dem Rollstuhl die eigentliche erste sportliche Aktivität ist.
Es geht nicht immer gut.
In das morgendliche Geplärr der Zikaden mischt sich am zweiten Morgen mein zaghafter Hilferuf, dem der Geliebte folgt, obwohl er ihn nicht gehört hat. Meine Freundin wird wach, blinzelt verblüfft und schält sich aus dem Bett, um ihn rabiat zu wecken. Zu zweit machen sie sich auf, mich vom Boden aufzuklauben und in den Rollstuhl zurück zu setzen.
Aber gut… ich will nicht jammern, sondern schwimmen.
Täglich zumindest diesen 1 km, meist aber auch noch mal nachmittags und abends, und wenn nicht das, eiere ich über die jahrhundertalten Pflaster San Gimignanos, die steil bergauf führen.
Ich werde durchgerüttelt, dass die Knochen Schmerzen und mit fabulösem Essen entschädigt. Ich kann ja schon froh sein, dass wir nichts besichtigen, weil wir das alles schon kennen.
Auf das Sein kommt es an. Aber das unterliegt hier gewisser Anstrengungen, wenn man im Rolli sitzt.
Auf der anderen Seite suchte ich hier niemals in 26 Jahren eine Behindertentoilette. Sie sind immer da. Im kleinsten Nest, in der ältesten. Stadt, oft die Tatsache missachtend, dass man da nur vermittels Hochleistungssport heran/ hinein kommt.
In der zweiten Woche stürmen wir ins Meer. Beinamputiert im Meer zu schwimmen hat es in sich, je höher der Wellengang ist, und da reicht das thyrrenische Meer durchaus. Aber ich fühle mich fit, in Form, was mich zum begeisterten Nicken veranlasst, als die Idee geäußert wird, mit dem Schnellboot zum Berg der Circe, die einst Odysseuss verführte, zu düsen, wo wir in Höhlen tauchen.
Schade nur, dass ich alleine nicht zurück aufs Boot komme, weil die Leiter zu schmal ist.
Und so schwimme ich herbei, als kleine beinlose Frau, kralle mich an einem der Haltegriffe fest mit links, lasse mich mit rechts von einem auf dem Boot Verbliebenen umfassen, derweil mich ein anderer Schwimmer, meist die herzliebste Freundin, am Gesäß nach oben stemmt, bis ich bäuchlings im Boot lande wie ein gestrandeter Wal.
Nicht eben schlank wie die vielbeschworene Gerte drängt sich mir der Gedanke geradezu auf.
Später rast das Boot in entgegengesetzte Richtung gen Terracina, und mangels Beinstabilität infolge mangelnder Beine verbringe ich diese Zeit bäuchlings, mal wieder, auf der Sonnen-Liegefläche vorne, kralle mich an besagten Halteschlaufen fest und werde dennoch hoch und runter geschleudert. Anderntags habe ich blaue Flecken.
Irgendwann kaufen wir diesen pinken Flamingo. Über den Strand, parallel zur Küstenlinie, im Wellenschaum, zerrt seit mehr als 15 Jahren jährlich derselbe Händler einen mit Gummitieren beladenen Karren hinter sich her, von dem ich stets fälschlich annahm, er wäre voller China-Kram, der überteuert verkauft wird.
Ich werde eines Besseren belehrt, denn teuer ist der Flamingo, aber er entpuppt sich als wuppertaler Qualitätsprodukt, das sich mitnehmen und wieder verwenden lässt.
Doch bei Wellengang ohne Beine kraxelt man auch nicht eben leicht drauf. Bei Wind ohnehin nicht, aber einmal drauf, ist es der Wind, der mich immer weiter hinaus, in die Nähe der Bojen treibt, die siganlisieren: Ab hier nur Boote.
"Hilfe!", rufe ich zuerst noch zögerlich, worauf niemand reagiert. Alle tauchen, schwimmen, oder sind mit Wasserballspielen befasst.
Hektisch sehe ich mich um, entdecke am Horizont die Konturen der pontinischen Inseln und stelle mir vor, wie ich am Abend im Yachtthafen von Ponza angespült werde.
Newsflash: In den späten Abendstunden lief ein pinkfarbener Flamingo auf Grund, auf dem sich eine erschöpft gestikulierende Frau befand…
Nein! Ich schüttele mich und versuche es erneut: "Hilfe!! Würde mich mal bitte jemand abholen?!"
Zeitgleich geht mir auf, dass ich abspringen und an Land schwimmen könnte, und zwar hier, statt auf Ponza. Doch das würde die Aufgabe des Flamingos bedeuten. Einsam und allein gen Ponza zu treiben hat er nicht verdient.
Ich werde gerettet, lasse den Flamingo von meinem Retter an Land bringen und schwimme zurück.
So geht es an einer Tour, ich probiere mich gar im Tennis, wenn es ab 22 Uhr nur noch 25 Grad sind. Gänzlich untalentiert wie ich bin, schiebe ich mein Versagen nicht auf das Fehlen eines Sportrollstuhls und finde mich im Anschluss lieber an der Tischtennisplatte ein.
Ich bin klein, die Schläger hier auch, der Ball wenig gewichtig, und mir schmerzt schon lange das rechte Handgelenk.
Keine Ahnung, wo das anfing.
Vielleicht, als ich mit aller Gewalt und doch viel Hilfe in Salerno die Zitadelle hinauf strebte?
Womöglich in den Bergen?
Vielleicht in Sperlonga, bei den Höhlen des Tiberius?
Es macht auch nichts, denn nicht unerwähnt möchte ich lassen, dass mein Liebster im Urlaub das erste Mal "Schlafende Hunde" las.
Er klappt dass Buch zu und konstatiert, dass es ihm wahnsinnig gut gefallen hat. Er sagt noch etwas, dass ich zu meiner Freundin hinüber rufe, die unter dem Sonnenschirm döst.
"Er findet Nelly nicht besonders seltsam. Er findet sie nicht einmal bemerkenswert chaotisch."
Sie klappt nicht mal ein Augenlid auf. "Er ist ja auch mit ihr verheiratet", gibt sie schläfrig zurück.
Bis wir den Urlaub mit einigen Tagen Florenz abschließen, kann ich die rechte Hand kaum bewegen, ohne vor Schmerz zu schreien.
Aber ich schwimme trotzdem. Ich wickele Spagetti mit der rechten Hand auf und stopfe mich mit Magenmitteln und Ibuprofen voll, die ich mit Limoncello herunterspüle.
Aber in Florenz, so rede ich mir ein, wird alles gut. Wir kennen uns, die Stadt und ich. Doch so gut wir uns kennen, besser werden die Straßen davon nicht. Am Ende des Urlaubs sitze ich mit einem Zinkleimverband aus einer florentinischen Apotheke auf dem Beifahrersitz meines überladenen Beetle-Cabrios, weil ich weder imstande bin, per Handgas Auto zu fahren, noch auf Raststätten alleine auf die Toilette zu gehen. Ich kann mich rechts nicht mehr abstützen, sich abzustützen jedoch ist eine Grundvoraussetzung fürs autarke Leben im Rollstuhl.
Ich verschweige nicht, mit welcher Leidensmiene ich zuvor in Florenz zwei Kleider kaufte, weil ich kaum noch fähig war, im Sitzen eine kurze Jeans hoch zu ziehen, und grinse nur heimlich in mich hinein.
Nein, nein, ich wollte die Kleider nicht.
Ich brauche nichts.
Aber ich muss ja…
Als wir nach endloser Staufahrt durch Norditalien und die Schweiz unsere letzte Station, Colmar im Elsass, erreichen, bleibt mir nichts, als mich dort schieben zu lassen.
Mein Smartphone sondert ein akustisches Signal ab, und mit einem Blick darauf entdecke ich, wie meine drei Wochen lang vernachlässigte Sport app mokiert, ich hätte lange keinen Sport mehr gemacht.
Mein Orthopäde bekäme Zustände, wenn er wüsste, dass ich SCHREIBE.
Und eigentlich muss ich damit jetzt auch aufhören.
Wann es die Hand erlaubt, wieder Sport zu machen oder einigermaßen flott zu schreiben, weiß ich nicht.
Einst gab ich den fünf Coronakilos, die loszuwerden ich mich abmühte, Namen.
Ich habe drei Wochen gegessen. Eben aus dem Meer gefischt Vongole, tiefrote Tomaten, Pfirsiche, deren Süße auf der Zunge explodieren. Eis, Mozzarella, mit Bresaola gefüllte Ravioli.
Mit Balsamico marinierte, karamellisierte Mini-Walderdbeeren auf Mascarponecreme. Den täglichen Wein will ich nicht verschweigen.
Und doch, die letzten Kilos zu viel sind weg.
Sie ertranken irgendwo vor dem Monte Circeo.