Noah war schon an vielen Orten gewesen, zu denen man normalerweise nicht leicht Zutritt bekam. Das lag an seinem Beruf. Aber er hatte noch nie in der Werkstatt eines Juwelier gestanden.
Genau genommen tat er das auch jetzt nicht, hätte es aber jederzeit gekonnt. Der brünette Mann stand vor einer verschlossenen Türe, die in den hinteren Bereich des Gebäudes führte. Durch das Sicherheitsglas konnte er die Menschen sehen, die dort arbeiteten. Er zählte fünf. Drei Männer, zwei Frauen. Sie alle trugen unterschiedlich geschnittene Oberteile, aber ausschließlich in weiß, und schwarze Hosen. Eine der beiden Frauen einen Rock, aber auch der war dunkel und lang. Vielleicht eine Art Dresscode. Hätte Noah an solch einem Ort nie vermutet.
Ebenso wie man in den großen Raum hinein sehen konnte, konnte man von drinnen hinaus sehen. Der IT-Spezialist war neugierige Blicke gewohnt, auch hier war seine Anwesenheit nicht lange unentdeckt geblieben. Spätestens als er mit einem Klick das elektronische Schloss geöffnet, und die Tür kurz auf und wieder zu gemacht hatte, ein routinemäßiger Test, nichts weiter, war Noah endgültig in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.
Sie alle hatten ihn von da an genauestens beobachtet. Alle, bis auf einen.
Ein junger Mann mit blonden Haaren, vielleicht war auch ein Schimmer Rot darin, oder es sah nur so aus in dem künstlichen Licht, schien keinerlei Notiz von ihm zu nehmen. Noah war ihm gerade einmal einen äußerst flüchtigen Seitenblick wert gewesen. Etwa so, wie man einen Eiszapfen vor einem Fenster registriert, der im Winter vom Dach fällt. Nicht notwendig ein zweites mal hin zu sehen.
Was ausgesprochen schade war. Der Bursche stach ihm ins Auge. Noah hätte gar nicht genau sagen können, warum. Vielleicht, weil seine Frisur, wenn man genau hinsah, nicht so ganz zu der akkuraten Kleidung passte. Der schwarzen Hose und dem Hemd, dessen Ärmel nicht hochgekrempelt waren, wie die der anderen. Seine Haare waren am Oberkopf länger als an den Seiten. Wären sie nicht so sorgfältig frisiert gewesen, wäre der Gesamteindruck sicher nicht halb so seriös gewesen.
"Na, wie sieht`s aus?" Lachend war der Kollege zu ihm gekommen.
"Gut", sagte Noah, zog das Kabel aus seinem Laptop und sah dabei weiterhin in die Werkstatt.
"Dann sind wir durch. Sag mal, bist du nicht hoffnungslos überqualifiziert für das hier?"
"Software ist Software", schmunzelte er. "Und ich habe gerade nichts anderes zu tun." Das Sicherheitssystem sollte nach dem Update wieder auf dem neuesten Stand sein.
"Macht es dir etwas aus, wenn ich mich noch ein paar Minuten umsehe? Wenn wir schon mal da sind? Ich brauche ein Geschenk für meine Enkeltochter. Zum Geburtstag."
"Überhaupt nicht", schüttelte Noah den Kopf. Er hoffte noch immer, der junge Mann in der Werkstatt würde sich vielleicht doch umdrehen. Er war nur von hinten zu sehen. Manchmal ein wenig von der Seite. War das ein kleines Tattoo hinter seinem Ohr?
Die Frau in dem langen Rock war eben aufgestanden und zu ihm hinüber gegangen. Sie hatte ein funkelndes Teilchen in der Hand. Noah konnte nicht erkennen, was es war. Er war zu weit weg und das Ding war zu klein.
Sacht legte sie dem Blonden die Hand auf die Schulter, er sah freundlich zu ihr auf, musste sich dafür ein wenig in ihre und Noahs Richtung drehen. Was für ein hübsches Lächeln! Die beiden redeten ein paar Worte, der Goldschmied hielt das Teilchen dabei unter eine Lampe. Oder Lupe. Nein, doch nicht. Bei genauerer Betrachtung, eine interessante Mischung aus beidem. Dann schüttelte er den Kopf, sagte wieder etwas. Die Frau nickte, sie schien erleichtert. Der Blonde legte das Teilchen zurück in ihre Hand und wandte sich wieder seiner eigenen Arbeit zu.
Der junge Mann in der Werkstatt hatte sich nicht mehr umgedreht. Noah war schließlich seinem Kollegen in den Verkaufsraum gefolgt, es war bereits kurz vor Geschäftsschluss. Außer ihnen beiden war nur noch ein Paar mittleren Alters anwesend. Eine Verkäuferin zeigte dem Mann mehrere Uhren.
Hinter einer Theke aus Glas stand eine weitere Kollegin in einem knielangen schwarzen Kleid mit Namensschild. Die hagere, groß gewachsene Frau mit der strengen Frisur, polierte gerade die durchsichtige Oberfläche mit einem weichen Tuch, als eine alte Dame aufgeregt in den Laden lief. Direkt auf sie zu. Die Alte hatte eine Perlenkette in einem dunkelblauen Etui dabei. Wie Noah aus dem kurzen Gespräch heraushören konnte, war wohl der Verschluss kaputt gegangen.
Die Angestellte schaute sich das etwas genauer an, setzte sofort wieder ihr professionelles Dauerlächeln auf und bat die Kundin um einem Moment Geduld. Sie ging nach hinten. Noah konnte nicht sehen, wohin genau. Der hintere Bereich war vom exklusiven Verkaufsraum aus nicht einsehbar. Ein leises, "David, wären Sie wohl so nett sich etwas anzusehen?", war zu hören.
Dicht gefolgt von der großen Frau, kam kurz darauf einer der Männer aus der Werkstatt nach vorne. Und nicht irgend einer.
Aha! David, also!
Er grüßte zurückhaltend in die Runde, grüne Augen streiften auch Noahs Blick. Vermutlich grün. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen. Aber der hatte auch gereicht.
Ruhig betrachtete der Blonde die Perlenkette. Sprach leise mit der aufgelösten Frau auf der anderen Seite der Theke. Er nickte, lächelte. Seine Stimme war angenehm. Vertrauenerweckend. Die Alte beruhigte sich zusehends. Noah schlenderte einfach mal unauffällig in seine Nähe.
"Machen Sie sich keine Sorgen", hörte er den jungen Mann sagen. "Natürlich können Sie sie morgen tragen. Es ist nur eine Kleinigkeit. Ich erledige das noch heute."
"Da fällt mir aber ein Stein vom Herzen!", freute sie sich. "Ich habe sie von meinem verstorbenen Mann, wissen Sie?!"
"Ja", sagte er. "Ein besonders schönes Stück."
Vielleicht war er einfach sehr höflich. Diese Ketten sahen doch alle gleich aus. Aber sie freute sich. Wurde rot, wie ein junges Mädchen.
"Wenn Sie erlauben, werde ich das Kollier auch neu fädeln", meinte er. "Ist das schon einmal gemacht worden?"
"Ich glaube nicht. Ist es denn nötig?"
"Ich würde sehr dazu raten." Er zeigte auf eine Stelle in der Nähe des Verschlusses. "Sehen Sie?" Der Rest des Gespräches war wieder so leise, dass Noah nichts mehr verstehen konnte. Er ging ganz langsam weiter und tat, als würde er sich die Schmuckstücke neben sich ansehen. Es waren Ringe. Die winzigen Preisschilder zeigten Summen, die ihm ehrlich gesagt vollkommen verrückt vorkamen. Für so kleine Dinger.
Er selbst hatte auf Schmuck noch nie großen Wert gelegt. Er besaß eine Uhr, die er allerdings nur selten trug. Nicht, weil sie ihm nicht gefiel, sondern weil er einfach nicht daran dachte. Kein Mensch der ein Smartphone hatte, brauchte heutzutage noch eine Uhr. Er war schon immer äußerst praktisch veranlagt gewesen.
"Geht sich das denn zeitlich aus?", fragte die Alte.
"Aber ja. Morgen Vormittag gehört sie wieder Ihnen. Versprochen."
David lächelte, und Noah konnte gar nicht anders, als ihn anzusehen. Zwei niedlich Grübchen in seinen Mundwinkeln waren kurz aufgetaucht. Seine schlanke Statur und ein paar Sommersprossen auf Nase und Wangen trugen sicher auch dazu bei, dass er jünger wirkte, als er vermutlich war.
Die Alte tätschelte seine Hand. "Sie machen mich sehr glücklich!"
Wieder dieses zauberhafte Lächeln für die betagte Dame. Sie musste das Gefühl haben, als gäbe es nur sie auf der Welt. Prinz Charming! Omi war jedenfalls hin und weg von ihm.
Noah auch.
"Ich weiß nicht so recht, was", riss sein Kollege ihn aus seinen Gedanken.
"Hm?"
"Was ich meiner Enkelin schenken soll!" Der Ältere wirkte leicht überfordert.
"Wie alt wird sie denn?"
"Zwölf."
"In der Vitrine dort vorne, habe ich ein paar hübsche Kettchen gesehen", meinte Noah. Er drehte sich um, machte dabei einen Schritt und rannte direkt in David hinein, der wieder auf dem Weg nach hinten war. Noah hatte nicht nur nicht aufgepasst, er hatte auch überhaupt nichts zu suchen, da wo er stand.
Die Perlenkette klimperte bedrohlich in der Schachtel, erschrocken konnte David gerade noch so verhindern, dass alles zusammen auf dem Boden landete.
Es war ein Reflex, als Noah sofort nach den beiden Händen des jungen Mannes griff. Der zuckte zusammen und erstarrte augenblicklich. Als wäre ihm gerade etwas ganz Furchtbares zugestoßen! Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest hielt er das Etui. Trotzdem sah Noah in ein ausnehmend hübsches Gesicht mit strahlend grünen Augen. Da hatte er sich vorhin also nicht getäuscht. Der Ausdruck in diesem Gesicht hatte sich allerdings in Sekunden von zutiefst schockiert in äußerst genervt gewandelt. Sehr herzig!
"Ja, nein, ich suche was Kleineres", meinte der Kollege und spähte dabei konzentriert weiter in die Vitrinen.
Noah sah nach unten. "Ich habe was Kleineres gefunden!"
Die grünen Augen funkelten ihn an. "Sehr witzig."
Breit grinsend ließ er den Anderen los. Der junge Mann reichte ihm gerade einmal bis knapp übers Kinn.
David hatte das wohl eher nicht witzig gefunden. Auch, wenn er es gesagt hatte. Es hatte nicht geklungen, als hätte er es witzig gefunden. Aber Worte die zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst werden, klingen nie so.
Trotzdem. Nicht gut.
David war sehr rasch in der Werkstatt verschwunden.
"Ich nehme diese Ohrringe hier. Was meinst du?"
"Was?"
"Diese da!"
"Ach so. Ja, sehr hübsch." Noah hatte nicht so richtig hingesehen.
Die Angestellte mit dem Dauerlächeln hatte inzwischen die Eingangstür verschlossen. Außer ihr, der Kollegin und ihnen beiden war niemand mehr im Laden. "Meine Herren? Sind Sie fertig?"
"Grundsätzlich, ja." Der Ältere zeigte in eine Vitrine. "Können Sie mir die einpacken?"
"Selbstverständlich." Wenn sie von dieser Bitte nach Geschäftsschluss genervt war, ließ sie es sich nicht anmerken. Sie nahm die Ohrringe heraus und bat ihn, sich ein Geschenkpapier auszusuchen. Er sah wieder überfordert aus, sie wieder nicht überrascht.
Noah ging hinter der Theke herum und stand nach wenigen Schritten erneut vor der Tür zur Werkstatt. Außer David schien niemand mehr da zu sein, und wieder drehte er ihm nur den Rücken zu.
Unentschlossen sah der IT-Fachmann durch das Glas. Das war ja wohl blöd gelaufen, vorhin. Vielleicht war David da etwas empfindlich und Noah hatte ihn wirklich verletzt? Das war nicht beabsichtigt gewesen. Ganz sicher nicht. Er war ja keiner, der durch die Gegend lief und Leute beleidigte.
"Kommst du?"
"Was?"
"Wollen wir gehen?"
"Du, ich will mir noch etwas ansehen. Nur zur Sicherheit. Es wird nicht lange dauern", lächelte er den älteren Kollegen an, "ich mache das schnell alleine."
"Wenn du meinst? Dann sehen wir uns morgen?"
"Ja. Bis morgen."
Noah wollte sich wenigstens bei David entschuldigen. Bestimmt hatte der andere einen völlig falschen Eindruck von ihm. Noch immer sah er nachdenklich durch das Sicherheitsglas in den hell erleuchteten Raum. Er war noch nie in der Werkstatt eines Juweliers gewesen. Aber er könnte es jederzeit.