"Emma! Wo bist du?!"
"Daheim?"
"Was machst du?!"
"Telefonieren", kam es trocken zurück. "Aber wenn du mich weiter so anblaffst, kannst du gleich mit einer Wand reden, klar?"
In der Tiefgarage vor seinem Auto auf und ab laufend, atmete Noah tief durch. "Okay. Entschuldige", riss er sich zusammen. "Kannst du zu mir kommen?"
"Sicher. Ich schau dann morgen geg..."
"Sofort!"
Kurz war es still in der Leitung. Der jungen Frau war der offensichtlich äußerst erregte Gemütszustand ihres besten Freundes alles andere als geheuer. "Ähm ... Sicher", meinte sie vorsichtig. "Bin sowieso gerade am Multitasken. Telefonieren, stillen und schlafen. Das kann ich auch in der Straßenbahn."
"Danke." Genervt legte Noah auf, nur um Sekunden später, leise vor sich hin fluchend, erneut ihre Nummer anzuwählen. "Bleib wo du bist. Ich bin in ein paar Minuten bei dir."
Multitasking in der Tram. Wie konnte er nur so ein Trottel sein?! Natürlich war es für Emma nicht mehr so leicht, Abends einfach mal rüber zu schauen. Sie hätte Luisa quer durch die verregnete Stadt mitnehmen müssen. Die Kleine gehörte um diese Zeit aber nicht mehr auf die Straße, sondern in ihr Bettchen.
"Du siehst müde aus", begrüßte Noah seine Freundin mit einer flüchtigen Umarmung.
"Es geht schon", lächelte sie tapfer. "Was ist los?"
Direkt vor ihr stehend, entschied er sich für die naheliegendste aller Fragen. "Was hast du getan?"
Emma packte erst aus, nachdem Noah von der unerwarteten Entdeckung im Labor und deren Folgen, als auch von seinem anschließenden Zusammentreffen mit dem Pfarrer erzählt hatte.
Der Bericht löste bei der jungen Frau ein Wechselbad der Gefühle aus. Unbändige Freude, weil Davids Vater sich endlich doch bereit erklärt hatte, eine Probe abzugeben. Grenzenlose Enttäuschung, weil es nichts half. Lähmendes Entsetzen über den Grund.
Emma war nur noch elend zumute. Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn sie den Dingen ihren Lauf gelassen hätten? Dann wäre David dieser Schock erspart geblieben und er hätte in Frieden ... Damit hatte doch niemand rechnen können!
Sie gestand Noah alles und er sagte kein Wort. Mehrmals sah es so aus, als wollte er. Besonders als Emma zu der Stelle kam, an der klar wurde, wie viele Menschen an dieser Sache beteiligt gewesen waren. Julian inklusive. Nicht, dass Noah das gewundert hätte.
Er saß einfach nur da, mit seinem Zettel in den unruhigen Händen, hörte sich die irre Geschichte an, mit etwas zeitlichem Abstand musste sogar Emma zugeben, dass der Plan bedenklich gewesen war, und schaute dabei ins Leere.
Das war noch schlimmer für seine Freundin, als hätte er getobt und geschrien.
Erst als Luisa in ihrem Stubenwägelchen sich zunehmend energischer regte, schien auch Noah wieder in die Wirklichkeit zu finden. Er stand auf, nahm das Kind und ging einige Schritte mit ihm hin und her.
"Deine Mama ist kriminell", grummelte er nach einiger Zeit des Nachdenkens. "Aber auf ... eine gut gemeinte Art, also ... Erzählen wir es nicht weiter, einverstanden?"
Emma atmete einigermaßen erleichtert durch. "Wir haben dich absichtlich raus gehalten. Wenn etwas schief gegangen wäre, hättest du nichts damit zu tun gehabt und weiter für David da sein können. Ich weiß, dass du sauer bist. Es tut mir leid."
"Bin ich. Aber nur, weil es komplett irre war, Emma. Das ist dir aber auch so klar, oder? Die Absicht dahinter ... "
"Entschuldige, okay?! Wir hätten mit dir darüber reden sollen."
"Das meine ich nicht", winkte er ab. "Für das was ihr getan habt, gibt es eine eigene Abteilung bei der Kripo. Es hätte dich und alle die du mit reingezogen hast, die Zukunft kosten können."
"Die haben sich selbst reingezogen, ja?! Und wenn wir es nicht getan hätten, hätte es David die Zukunft gekostet! Wir mussten es versuchen! Aber jetzt ... War alles umsonst. Scheiße." Mutlos ließ sie den Kopf hängen. Ihr war zum Weinen.
"Würde ich nicht sagen." Etwas unentschlossen hielt Noah ihr den Zettel hin.
"Was ist das? Eine Adresse und ein Name? Max? Wer soll das sein?"
"Unsere einzige Spur."
Ratlos schaute sie auf die schwungvollen Schrift und dann wieder hoch zu ihrem Freund.
"Hat mir der Pfarrer gegeben", fügte er hinzu. "Die Info ist von einer guten Freundin von Davids Mutter."
"Du meinst von ... damals? Das könnte ..."
"Du musst mir nicht erst erklären, dass es ... nach so langer Zeit ..."
"Nichts ist unmöglich", überlegte sie flüsternd. Viel Hoffnung hatte sie nicht, dennoch begann es in ihrem Kopf bereits fieberhaft zu arbeiten. "Ich brauche meinen Lap..."
"Nein", stoppte er sie sofort. "Keine Schnellschüsse mehr. Wir machen das vernünftig, oder gar nicht."
Sie konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen. "Ganz wie du willst, Tiger."
"Wie geht es dir, Emma?", fragte er nach einiger Zeit, noch immer die kleine Luisa an sich gedrückt. Das Kind hatte eine seltsam beruhigende Wirkung auf ihn.
"Es geht schon. Habe ich doch gesagt."
"Habe ich gehört. Und jetzt die Wahrheit?"
"Luisa hat alle zwei Stunden Hunger", seufzte sie. "Tag und Nacht. Außerdem mag sie nicht so gerne alleine sein, glaube ich. Sie schläft irgendwie nur auf mir drauf. Oder im Kinderwagen. Das Geschaukel findet sie gut. Und natürlich funktioniert Rumspazieren. Nur, ich kann das nicht den ganzen Tag."
"Menschenkinder sind ja auch Traglinge", murmelte Noah, "und keine Nestlinge."
"Was?"
"Ich sagte, sie ist kein Vogel", zwinkerte er, das winzige Mädchen liebevoll in den Armen wiegend. "Du sollst mir sagen, wenn du Hilfe brauchst, Emma."
"Es geht schon. Oma hilft mir viel. Aber sie kann nicht immer da sein. Andere Mütter schaffen es auch, ohne zu jammern", antwortete sie zerknirscht. "Außerdem hast du gerade genug um die Ohren."
"Es ist egal, was ich um die Ohren habe", stellte er klar. "Ich habe dir gesagt, ich will ihr Vater sein. Nicht nur am Sonntag Nachmittag, wenn sie gerade ihr Nickerchen macht. Aber ich bin darauf angewiesen, dass du mich auch lässt."
"Okay. Verstanden."
"Das hoffe ich. Ich habe euch leider nicht vierundzwanzig Stunden im Blick. Ich sehe nicht, wenn es dir zu viel wird. Sag es mir. Fordere meinen Beitrag ein."
Sie nickte still.
"Gut. Ist sie satt?"
"Jetzt gerade? Ich hoffe es."
"Versuch ein bisschen zu schlafen, bitte. Ich brauche dich morgen."
"Aber..."
"Um Luisa kümmere ich mich. Und wenn ich ganze Nacht mit ihr auf und ab gehen muss, damit sie zufrieden ist. Nur wenn sie Hunger bekommt, werde ich dich wecken müssen", schmunzelte er entschuldigend.
"Wenn sie getrunken hat, muss man danach meistens ..."
"... die Windeln wechseln", beendete er ihren Satz. "Ich weiß. Ich habe fünf Neffen." Die Kleine hier, würde ihn wenigstens nicht in hohem Bogen anpinkeln können.
"Ich bin viel zu fertig, um dein Angebot höflich abzulehnen", meinte sie erleichtert. "Danke. Ein Kissen und eine Decke lege ich dir noch auf die Couch. Noah?"
"Hm?"
"Was ist dein Plan B?"
Ihr bester Freund sah verständnislos auf sie hinunter.
"Wegen David", erinnerte sie ihn leise. "Du brauchst einen Notfallplan. Wir brauchen einen. Was wollen wir tun, wenn ... ? Du weißt so gut wie ich, dass die Aussichten nicht rosig sind." Sacht legte Emma ihm die Hand auf den Arm. "Er möchte nicht im Krankenhaus bleiben."
"Das muss er aber", antwortete Noah entschieden. "Er ist viel zu krank um nach Hause zu ge..."
Was sich in diesem Augenblick des Begreifens im Gesicht des Mannes spiegelte, tat Emma in tiefster Seele weh.
"Du kommst aber früh zu mir, heute", begrüßte David Noah am nächsten Vormittag, zwischen zwei Küssen.
"Soll ich wieder gehen?", fragte der Größere scherzhaft.
"Nein. Ist schön."
"Warum hast du dann so grimmig geschaut, als ich die Tür aufgemacht habe?"
Scheiße. Er hatte es gemerkt. "Ich dachte, dieser Typ kommt nochmal wieder."
"Welcher Typ denn?"
"Na, dein Kumpel da. Dieser Xavier. Hat zu mir reingeschaut. War sowieso gerade da, hat er gesagt und wollte nachsehen ob du bei mir bist."
"Aha."
Das klang David viel zu neutral. Vielleicht bewusst? "Was will der denn andauernd von dir?"
"Nichts. Wir kennen uns. Das ist alles."
"Aha." Blöd. Das war deutlich zu feindselig. Hoffentlich hatte Noah das nicht bemerkt.
"Er ist ja auch ein netter Kerl."
"Wenn du meinst." David zog seine Finger unter Noahs hervor und versteckte die Hände unter der Decke.
"Und sieht sehr gut aus." Noah musste alles aufbieten, um sein Pokerface zu behalten.
"Wem es gefällt, so ein Miles McMillan für Arme!", spuckte David ihm entgegen.
"Für Arme eher nicht. Er verrechnet jede angefangene halbe Stunde. Und nicht zu knapp."
Außer einem wütenden Schnauben war nichts mehr zu hören.
"Aber so viel ich weiß, hat er nur noch Stammkunden. Er hat sich in den letzten Monaten eher aufs Management verlegt."
"Manage...?! Sag doch gleich Zuhälter!"
"In diesem Preisbereich verwendet man das Wort nicht mehr, glaube ich."
"Was?"
"Die schönsten Mädchen der Stadt", versicherte Noah ihm ernst. "Und ein paar sehr attraktive Männer."
"Is mir doch egal."
"Habe ich ihm auch gesagt."
"Wie meinst du das?"
"Nachdem Xavier dir zum ersten Mal begegnet ist, damals im Kino, hat er mich gefragt, ob du vielleicht Interesse an einem sicheren Nebenverdienst hättest."
Entsetzt rappelte David sich auf.
"Ja, wir haben uns im Wartezimmer getroffen. Haben den gleichen Zahnarzt. Xavier hat gemeint, wenn du ein bisschen offen wärst in Richtung SM und so, würdest du sogar sehr schnell in der obersten Liga mitspielen. So hübsch wie du bist."
"Was hast du gesagt?!"
"Dass du mir auch wahnsinnig gut gefällst."
"Noah!", rief der junge Mann total schockiert.
"Dass er dich das selbst fragen soll." Lachend nahm der Größere sein Gesicht in beide Hände. "Aber dass der Dr. Kölbl möglicherweise nichts mehr zu bleachen hat, wenn er es tut."
David blinzelte ein paar Mal und bemühte sich verbissen, seine zornige Miene zu behalten. Es war sinnlos. Kichernd legte er Noah schließlich beide Arme um den Hals und zog ihn zu sich runter.
"Hör mal, Nugget", murmelte sein Schatz noch mit geschlossenen Augen gegen seine Lippen, "es könnte sein, dass wir uns in den nächsten Tagen nicht so oft sehen. Ich werde es versuchen, aber ich ... habe einiges zu tun und schaffe es vielleicht nicht jeden Tag."
"Das macht nichts." David strich ihm liebevoll über die Wange. "Ich laufe dir schon nicht weg." Von seiner Enttäuschung sollte nichts zu merken sein. Es war doch auch normal, dass das Leben draußen für alle anderen weiterging.
"Ich bin eigentlich auch nur hier, um dir das zu geben." Noah griff nach seiner Hand, legte etwas hinein und verschloss sie. "Ich möchte, dass du es behältst."
Da war etwas, das kaum zu spüren war. Langsam öffnete David seine Faust und konnte sein Erstaunen nicht verbergen, als er sah, was er da hatte.
"Es hat mir immer Glück gebracht", flüsterte Noah. "Das brauchst du jetzt. Glaub fest daran."