Erst am späten Samstagabend war Noah zurück nach Hause gekommen. Er hatte Urlaub gehabt und die vergangene Woche bei seinen Eltern verbracht. Die Nacht war zu kurz gewesen, er hatte weder besonders gut, noch lange genug geschlafen. Es wäre ihm lieber gewesen, er hätte daheim bleiben können. Aber er war am Sonntag mit ein paar Leuten aus der Firma zum Mittagessen verabredet.
Tom hatte er zufällig an der Salzach getroffen, wo der eben geparkt hatte, als ihnen die Gruppe der Kollegen bereits entgegen kam. Das Gasthaus in dem ein Tisch reserviert war, lag keine fünfzig Meter entfernt.
Noah stellte seinen Freund kurz vor, der sofort die drei anwesenden Damen abcheckte. Die Herren, ein älterer mit Brille und ein zweiter, der so jung aussah, als käme er eben von der Uni, interessierten da kaum noch.
Der Unteroffizier war ganz in seinem Element. Hatte er doch am vergangen Abend einen Glückskeks aufgemacht, dessen klare Botschaft "Eine Gelegenheit klopft an die Tür" ja wohl unmöglich misszuverstehen war! Zumindest für ihn.
Tom schmiss sich also voller Elan an die Mädels ran. Es machte den Anschein, als könnte ihn nichts auf der Welt ablenken. Und doch packte er plötzlich, mitten im Gespräch mit der recht hübschen Schwarzhaarigen, Noah am Arm und fragte, "Ey, ist das nicht David?"
"Wo?"
"Na, da drüben!" Der große Blonde überquerte sofort die Straße und zog den Anderen mit.
Als der Goldschmied die beiden erkannte, machte er kurz die Augen zu.
"Wir sehen uns oft, in letzter Zeit", meinte Noah lächelnd. Er wollte sich seine Verlegenheit nicht anmerken lassen. Sie war da, obwohl das Gefühl jeder Grundlage entbehrte. Gegen das letzte Mal, musste er heute einen ungleich besseren Gesamteindruck machen. Rein optisch wenigstens. Andererseits war das im direkten Vergleich aber auch nicht besonders schwer.
Derweil hatte Tom schon ein breites Grinsen im Gesicht und legte wie selbstverständlich einen Arm um den Rotblonden, dem das sichtlich unangenehm war. "Willst du uns nicht vorstellen?"
"Ich ... ähm ... Juliana, das sind ... Tom und Noah." sagte der Kleinere leise.
Alles klar. Es war nicht David gewesen, sondern dessen Begleitung, die den großen Blonden angelockt hatte, wie Honig eine Fliege.
Die junge Frau, die sich eben noch mit dem Goldschmied unterhalten hatte, stach zwar nicht auf den ersten Blick ins Auge. Aber bei genauerer Betrachtung war sie ausnehmend reizend. Sie wirkte fast ein wenig schüchtern in ihrer etwas zu braven Kleidung, dem langen Rock und dem dunklen Pullover mit den langen Ärmeln. Ihr dunkelbraunes Haar war zu einem Zopf geflochten, der fast bis an die Taille reichte. Als einziges Schmuckstück trug sie eine Kette mit einem goldenen Kreuzchen um den Hals.
"Freut mich." Höflich gab sie beiden Männern die Hand.
Noah beobachtete David von der Seite, der angestrengt versuchte woanders hinzusehen. Zum Glück redete wenigstens Tom wie ein Wasserfall.
"Sagen Sie, was haben Sie denn damit vor?" Er deutete auf die bemalte Truhe, die die junge Frau auf einem dieser Lastenbretter hinter sich herzog, wie sie auch Umzugsfirmen benutzten, um schwere Gegenstände zu transportieren.
"Nun, ich will sie nach Hause bringen."
"Aber das geht doch nicht!"
"Es fährt sich ohne Mühe."
"Ich bitte Sie, Julie. Ich darf doch Julie zu Ihnen sagen?"
"Wenn Sie das gerne möchten?", lächelte Juliana scheu.
"Da vorne steht mein Jeep, wir verladen dieses Ding und ich fahre Sie selbstverständlich heim!" Er konnte es einfach nicht lassen.
Wusste David zu Anfang nicht, was er mit dieser Situation anfangen sollte, so war der Groschen inzwischen gefallen. Was sich da gerade anbahnte, schien ihm irgendwie sogar Vergnügen zu bereiten. Jedenfalls umspielte schon bald ein undefinierbares Lächeln seine Mundwinkel. Der große Blonde schien offenbar nichts anbrennen zu lassen.
"Aber nein, es ist nicht weit." Leicht errötet schlug sie die Augen nieder.
"Ich bestehe darauf!" Schon hatte der Unteroffizier sich das behelfsmäßige Gefährt geschnappt.
"Also gut. Wären Sie denn auch so freundlich, und würden mir helfen es nach oben zu tragen?"
"Also, das ist doch überhaupt keine Frage!" Nach oben wollte er ganz sicher. "Wenn Sie mir folgen möchten? Ich darf Sie doch im Anschluss zum Essen einladen, Julie?"
Tom hatte die Heckklappe aufgerissen und sowohl das Möbelstück, als auch das Brett mit den Rollen unter Julianas dankbaren Blicken, die er sicherlich mit Bewunderung verwechselte, im Wagen verstaut. Er hatte die Frau auf dem Beifahrersitz Platz nehmen lassen und die Tür geschlossen, bevor er noch einmal zu David und Noah zurück lief. Auch die Gruppe der fünf Kollegen hatte inzwischen interessiert die Straße überquert.
"Echt?", fragte Noah seinen Freund ungläubig.
"Alter! Du musst ihre inneren Werte sehen!"
"Und die hast du in den paar Minuten jetzt erkannt, oder was?"
"Nicht die. Die unter den Anziehsachen. Stell sie dir in schärferen Klamotten und mit'n bisschen Make-up vor. Und mit offenen Haaren! Die ist 'ne Granate, Mann!"
"Die kriegst du nie."
"Wollen wir wetten? Hundert Euro, dass ich sie heute noch flachlege", grinste der große Blonde breit. Es war sein Ernst. Die anderen lachten mehr oder weniger verhalten. Alle warteten auf die Reaktion des Brünetten.
"Nein", schüttelte der schließlich entschieden den Kopf.
"Okay. Ich bin dabei." Alle Blicke richteten sich auf David, der selbst gerade nicht glauben konnte, dass er das gesagt hatte. "Ich halte dagegen."
"Hör mal", raunte Noah leise in seine Richtung. "Auch wenn es dir nicht ... wahrscheinlich vorkommt dass er sie rumkriegt, du kennst Tom nicht so gut wie ich. Das ist ganz schön viel Geld."
Der Andere ließ sich von der Warnung nicht beeindrucken. "Gilt." Er gab Tom die Hand darauf.
"Verabschiede dich schon mal von deiner Kohle", rief der große Blonde ihm über die Schulter noch zu, bevor er in seinen Wagen sprang.
"David, ..."
"Es gibt immer ein Restrisiko. Aber in diesem Fall ... ist es verschwindend gering. Er ist in spätestens einer Stunde wieder da."
"Ja? Was macht dich so sicher?"
Der junge Mann lächelte nur. Er hatte dabei ein fast schon hinterhältiges Funkeln in den grünen Augen. Ganz so, als wüsste er etwas ganz Entscheidendes. Kurz hob er die Hand zum Gruß und wandte sich um.
"Warte! Willst du ... nicht hierbleiben? Ich meine, vielleicht hast du recht?"
"Nein. Passt schon."
Sein Fluchtinstinkt schien ungleich stärker als seine Neugier. Noah musste sich schleunigst etwas einfallen lassen.
"Leute, das ist übrigens David. Er ist Goldschmied."
"Echt?" Die Blonde bekam sofort glänzende Augen.
"Oh, wie toll", rief die Schwarzhaarige und war mit wenigen Schritten bei ihm. "Schau dir diesen Ring mal an!" Begeistert wedelte sie mit den Fingern vor seiner Nase. "Der ist von meinem Freund. Ein altes Familienerbstück. Er hatte aber auch was gut zu machen, das kannst du glauben."
"Ach so?"
"Da hat er gerade noch mal die Kurve gekriegt!", bestätigte sie. Die beiden anderen nickten.
Sacht griff David nach ihrer Hand und begutachtete das Schmuckstück im Sonnenlicht. Es war ziemlich genau eine Woche her, da hatte er sich fest vorgenommen, wieder öfter mit Menschen zu reden. Auch dann, wenn er sie noch nicht kannte.
Je mehr Zeit verging, umso unsicherer sah er aus. Er schien fieberhaft nach einer passenden Antwort zu suchen und blickte dabei sogar kurz fragend zu Noah.
"Und?", drängte die resolute Frau.
"Hm." Das mit dem Reden war ja mal wieder eine ganz tolle Idee gewesen. Jetzt war es zu spät. "Sieht eher nicht so aus", meinte er vorsichtig.
"Wie ein Erbstück oder als hätte er noch eine Chance verdient?"
"Das zweite kann ich nicht beurteilen, aber alt ist der Ring nicht."
"Nein?"
"Sicher nicht", entschied er sich für die ungeschönte Wahrheit, "das ist nicht mal Gold. Nur vergoldet."
"Was ist mit dem Stein?"
"Gehärtetes Glas."
Der Frau entgleisten die Gesichtszüge. "Das war's, ich reiß diesem Mistkerl den Arsch auf!"
"Tut mir leid."
"Du kannst ja nichts dafür", seufzte sie. Die mitleidigen Blicke der anderen waren das Schlimmste. "Ich brauch was zu trinken."
"Ein wahres Wort", stimmte die Blonde ihr zu.
"Wir wollen was essen gehen", wandte Noah sich an David. "Wenn du noch nichts vor hast, ..."
"Nein!"
"Schön", lächelte er.
"Was?"
"Dass du noch keine anderen Pläne hast."
"Ich ... meinte ..." Wie machte der Kerl das nur immer? "Das ... nicht, aber ..."
"Cool. Dann können wir ja alle zusammen auf euren Kumpel warten", schlussfolgerte der jüngere der beiden Arbeitskollegen. "Wie will er das überhaupt beweisen?"
"Keine Sorge", grummelte Noah belustigt, "ihm fällt schon was ein."
Meistens ein Selfie.
"Macht er das etwa öfter?" wollte die Schwarzhaarige wissen.
"Tom ist kein schlechter Kerl."
Sie zog beide Augenbrauen hoch.
"Er ist im Moment ... Es ist so. Da ist diese Frau. Olivia. Sie ist klug, hübsch, ehrlich und richtig lieb. Sie hat zehn Jahre gehofft, dass es ihm auffällt, aber ... in ein paar Wochen wird sie heiraten. Das zu erfahren hat ihn dann doch aus der Bahn geworfen. Er kann es nicht zugeben, kommt aber auch nicht damit klar."
"Ohhh." Ihr Gesichtsausdruck wurde wesentlich weicher. Auch die anderen beiden Damen schienen hin- und hergerissen. "Das ist irgendwie ... traurig."
"Man wünscht ihm fast, dass er es schafft", sinnierte der ältere der Männer.
"So weit würde ich jetzt nicht gehen." Die Frau lächelte ein wenig. "David, iss mit uns! Wir wollen alle wissen, wer diese Wette gewinnt."
Der Goldschmied wusste ganz genau, wer das würde. Er müsste nur warten und hätte in spätestens einer Stunde das Geld in der Tasche. Aber wenn er bliebe, wollte er auch auf keinen Fall, dass Noah es falsch verstünde. Andererseits konnte er das ja wohl unmöglich mit einem Date verwechseln. Dieses Zusammentreffen war schließlich reiner Zufall. Und sie wären ja auch nicht alleine.
Wie sehr der junge Mann mit sich rang, bemerkte der Andere durchaus und fürchtete zurecht, dass das hauptsächlich an seiner Anwesenheit lag. Ihm fiel ein Stein vom Herzen, als David dann doch nachgab.