Davids Herz raste, aber er tat es dann doch. Wenn es einen Tag gab, an dem er den Mut dafür aufbrachte, sich mit jemandem zu unterhalten von dem er keine Ahnung hatte wer es sein könnte, dann war es ja wohl heute! "Ja", tippte er entschlossen, gleich nachdem er zum gefühlt fünfzigsten mal kontrolliert hatte, ob die Eingangstür auch wirklich sicher abgesperrt war, "es geht mir sehr gut."
Das war die Wahrheit. Seine Hände taten ihm weh, auch das rechte Bein und ein bisschen die Rippen. Aber das war ihm vollkommen egal, darum ging es ja gar nicht. Er durfte sich ruhig gut fühlen, denn er hatte ja wohl ungleich mehr ausgeteilt als eingesteckt. Und er hatte auch kein schlechtes Gewissen mehr deswegen. Keine Spur! Wieso sollte er? All seine Zweifel waren inzwischen einer Euphorie gewichen, die er so nie erwartet hätte. Sicher gab es eine Erklärung dafür. Was Biologisches. Adrenalin, oder so.
"Das freut mich", kam es sofort zurück. "Du hast Tom kennengelernt?"
Also war es auch nicht Tom, mit dem er sich gerade unterhielt. Natürlich nicht. Er hatte diesem Tom seine Nummer nie gegeben. Aber auch sonst keinem! "Ja."
"Habe schon gehört, dass du ihn nicht gebraucht hast." Ein breit grinsender Smiley trennte diese Feststellung vom nächsten Satz. "Ist er ein wenig geblieben?"
Was für eine seltsame Frage. "Er hatte ein Date. Mit Ines."
"Aha? Ich halte dich nicht mehr länger auf. Gute Nacht. Noah."
Noah? Noah! So hieß doch der Kerl, den David neulich aus seiner Wohnung geschmissen hatte! Er hörte kurzfristig auf zu atmen. Groß, brünett, frech? Genau! Ja, das könnte sein. Dieser Noah hatte die blauen Flecken gesehen. Und auch die aufgeplatzte Lippe. Das hatte nur passieren können, weil David nach dem ersten halbherzigen Schlag abgewartet hatte.
"Du darfst niemals zögern, klar? Der Erstschlag ist deine scheiß-Lebensversicherung. Aktion schlägt immer Reaktion. Zeig niemals Rücksicht oder Mitgefühl. Wenn du dich schützen musst, tue es mit allen Mitteln, wenn du zuschlägst, schlag, so hart du kannst."
Nein, er hatte darauf vertraut, dass Zögern ein Fehler war. Vor allem, weil er sich ja im Klaren darüber gewesen war, mit wem er es zu tun gehabt hatte. Nämlich mit einem, der nur gut austeilen konnte. Aber nicht einstecken.
Jedenfalls hatte Davids erster Schlag, seine beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt. Nämlich den Gegenangriff. Leider war der aber zu einem Gewaltausbruch eskaliert, den der junge Mann so nicht hatte kommen sehen.
Natürlich. Das musste eine Demütigung vom Feinsten gewesen sein. Eine beispiellose Frechheit, was er, der kleiner und vermeintlich schwächer war, sich damit geleistet hatte. Wäre es ihm an diesem Abend nicht gelungen, durch seine bereits offene Wohnungstür zu schlüpfen und diese auch zu schließen, er wusste nicht mehr wie er das geschafft hatte, hätte er die Sache vielleicht gar nicht überlebt. Also gut. Der Plan hatte Schwächen gehabt.
Zusätzlich hatte sich herausgestellt, dass es einen eklatanten Unterschied zwischen Ernstfall und Training gab. Das hatte David für sich herausgefunden, und damit das vielleicht Wichtigste überhaupt: Die größte Hürde die er überwinden musste, war die in seinem Kopf. Es war dann nämlich doch schwieriger, ohne Rücksicht auf Verluste auf einen Menschen einzuprügeln, als die Theorie und Jean Claude van Damme in Blood Sport einem Glauben machten.
"Reale Gewalt im echten Leben sieht anders aus, als im Film."
Heute war David vorbereitet gewesen und hatte alles richtig gemacht. Ja, es hatte ihn trotzdem große Überwindung gekostet. Natürlich hatte es das. Entsprach es doch überhaupt nicht seiner Natur.
Schon damals in der Schule hatte er sich geduckt, wenn nur ein Ball auf ihn zu geflogen war. Aber mit all dem Zorn und der Wut in seiner Brust, da wo eigentlich sein Herz sein sollte, hatte er diese Schwelle endlich hinter sich gelassen. Wenn es nach ihm ginge, für immer. Er hatte zurückgeschlagen und jetzt fühlte es sich gut an. Sogar richtig gut! Wenn es diesmal geklappt hatte, würde es wieder klappen. Jederzeit!
Er hatte nie zuvor eine Chance gehabt. Nicht als Kind, und als Erwachsener auch nicht. Aber seit vorhin wusste er sicher, dass er sehr wohl eine hatte!
Eine gute Viertelstunde saß David beinahe bewegungslos in seinem Sessel. "Er macht das sonst selbst ...", hatte Tom vorhin zu ihm gesagt. Sollte das etwa bedeuten, Noah passte auf ihn auf?
Im ersten Moment brannte diese Erkenntnis wie Feuer in Davids Kopf. Glühender Zorn breitete sich aus und ergriff seinen ganzen Körper. Was zum Teufel bildete der Typ sich überhaupt ein? Was glaubte er denn, wer er war, sich auf so eine Art in sein Leben einzumischen?! Genau wie all die anderen, die dauernd Entscheidungen für ihn getroffen hatten!
Aber was, wenn es doch nicht funktioniert hätte? Hieß das nicht auch, Noah wäre wirklich da gewesen um ihm zu helfen, wenn es wirklich nötig gewesen wäre? Und wenn er es selbst gerade nicht konnte, sorgte er dafür, dass jemand anderes da war? Seit Wochen? Das war sicher ein Missverständnis, das konnte doch gar nicht sein! Warum sollte er so etwas tun?
Das Display des Handys blieb dunkel. David musste es wissen! Er wog jedes seiner Worte genau ab. Wenn es sich jetzt unfreundlich anhörte was er schrieb, würde er es sicher nie erfahren. "Auch wenn der Bodyguard nicht nötig gewesen wäre, das war nett. Danke."
"Er IST nett", tauchte sofort die Antwort auf. "Bist du wirklich sicher, dass er INES gesagt hat?"
"Ja?"
Ein Smiley mit geschlossen Augen und zusammengekniffenem Gesicht war die Reaktion.
Interessant. "Dann ist Ines nicht die heiße Latina?"
"Oh, nein!"
Schmunzelnd musste David sofort an Kartoffeln denken. Armer Kerl! "Woher hast du eigentlich meine Nummer?" Das "du" war ihm zu spät aufgefallen. Und auch die beiden blauen Häkchen waren schon erschienen, er konnte den Satz nicht mehr löschen. So ein Mist!
"Geraten."
Ja, klar. Der Anflug eines Lächelns huschte dem jungen Mann dennoch über das Gesicht. Er würde nicht mehr fragen. Es war ja auch egal. Schließlich gab es nichts weiter zu sagen. Jetzt, wo die Sache ja wohl geklärt war, gab es keinen Grund mehr, noch ein weiteres Wort zu wechseln. Nie wieder. "Okay. Gute Nacht."
"Dir auch, David."
Es tauchte noch eine Telefonnummer auf, neben der "Tom" stand. Danach blieb das Telefon ruhig. David war noch lange hellwach. Gott! War das seltsam! Gegen zwei Uhr Morgens beschloss er, die beiden Nummern zu speichern. Nicht weil er vor hatte, jemals eine davon zu wählen. Sicher nicht! Sondern nur, damit er eventuell nächstes Mal wüsste wer dran wäre. Nur deshalb!
Über Ibiza war die Sonne untergegangen. Glücklich lehnte Noah sich in seinem Liegestuhl zurück und sah hinaus aufs Meer. Warmer Wind strich über seine Haut, leise raschelten Palmenblätter über ihm. Es roch nach Salz, Orangen und Sommer.
Er fühlte sich herrlich leicht in dieser warmen Nacht, inmitten seiner angeregt plaudernden Freunde. Es war perfekt. Die Getränke waren kalt, die Gespräche absolut sinnfrei und die Stimmung entsprechend ausgelassen.
Was Tom ihm vorhin lachend und äußert detailliert am Telefon erzählt hatte, brachte Noah noch immer zum Schmunzeln. Das zu sehen, wäre sicher super gewesen! Kaum zu glauben! Wenn es vermutlich auch das Problem an sich nicht löste, es nahm ihm einen großen Teil seiner Sorgen, sicher zu wissen, dass David sehr gut selbst auf sich aufpassen konnte. Tom hatte diesen Eindruck jedenfalls gehabt. Und der konnte das ganz gut beurteilen.
Mit Schwung warf Emma sich in ihre Liege. "Ist das nicht herrlich?"
"Der Wievielte ist denn das?", fragte Noah schmunzelnd.
"Habe nicht mitgezählt", zwinkerte die junge Frau und angelte umständlich mit der Zunge nach dem Strohhalm in ihrem Cocktailglas. Der Inhalt war alkoholfrei, anzusehen war ihm das aber nicht. Juan dem Barkeeper und dem fürstlichen Trinkgeld das sie ihm Tags zuvor zugesteckt hatte, sei Dank!
Sie hatte kurz überlegt, es den Anderen zu sagen. Aber der Zeitpunkt erschien ihr nicht richtig. Sie hatten etwas Wunderbares zu feiern, da wollte Emma sich nicht in den Mittelpunkt stellen. Es war nicht ihr Wochenende.
Spätestens jetzt hätte Noah, der ja von der Vereinbarung mit dem Barmann nichts wusste, anfangen müssen, sich Gedanken um seine Freundin zu machen. Er hätte ihr ins Gewissen reden, ihr notfalls sogar das Glas wegnehmen müssen. Wie sonst auch. War ihm doch klar, wie das gewöhnlich endete. Aber es war gerade alles so schön!
Er hatte sich ein wenig mit David unterhalten! Gut, nicht sehr lange. Aber trotzdem, es war ein Anfang. Und Noah hatte auch aufgepasst, dabei möglichst unverfängliche Gesprächsthemen anzuschneiden. Das hatte toll geklappt. Am Ende hatte der Andere ihm sogar "Gute Nacht" gesagt.
"Wieso umarmst du denn dein Handy so liebevoll?"
"Was?" Er hielt es mit beiden Händen an sein Herz gedrückt. War ihm gar nicht aufgefallen.