"Du musst auf andere Gedanken kommen, Emma! Warum machst du nicht mal wieder Urlaub?"
Leise seufzend griff die junge Frau nach der Teetasse vor sich. "Ich weiß nicht." Sie nahm einen Schluck, verzog das Gesicht und warf noch zwei großzügige Löffel Kandiszucker hinein. "Ach, Noah. Ich habe schon wieder eine Beziehung in den Sand gesetzt."
"Die hat er in den Sand gesetzt, nicht du."
"Weil ich ein Klammeräffchen bin!"
Mitleidig sah er auf seine beste Freundin hinunter.
"Ein alles bestimmendes Klammeräffchen, mit Kontrollzwang! Der Mensch, der es mit mir aushält, muss erst geboren werden. Hat er gesagt!"
"Das hat er nur gesagt, um dich zu ärgern."
"Nein." Sie legte die Stirn auf die Tischplatte und schloss die Augen. "Weil es wahr ist. Noah?"
"Hm?"
"Ich habe ihn umgebracht."
"Was?!"
"Ich habe ihn umgebracht!"
"Oh, Emma! Nicht schon wieder!" Er hatte diesen Mike zwar noch nie besonders gut leiden können, aber das hatte er trotzdem nicht verdient. Der große Brünette stand auf, öffnete den Kühlschrank und nahm sich ein Bier. "Auch eines?"
Angeekelt drehte sie sich in die andere Richtung. "Ich trinke nie wieder was!"
"Das sagst du jedes mal. Wie sehr?"
"Wie sehr was?"
"Wie sehr hast du ihn umgebracht?"
"Na ja." Emma rührte konzentriert in ihrer Tasse. "Für Facebook ist er noch am Leben!", grinste sie böse.
"Wie gemein!" Noah musste herzlich lachen. Es würde also dauern, bis Mike es merkte. Nach und nach. Zum Beispiel, wenn er zum Arzt müsste, denn für die Sozialversicherung war er bestimmt schon mausetot. Natürlich auch für die Pensionsversicherung. Oder er würde es merken, wenn er am Monatsende keinen Lohn mehr bekam. Für die Personalabteilung seiner Firma war er sicher genauso verstorben, wie für die Wohnbaugesellschaft, mit der er seinen Mietvertrag abgeschlossen hatte. Und das war nur der Teil, der Noah auf Anhieb einfiel. Das, womit auch er anfangen würde. Rein theoretisch, natürlich!
Bestimmt war das nicht einmal ein Bruchteil dessen, was sie ihm tatsächlich angetan hatte. Emma war nämlich äußerst gründlich. Und zwar in jeder Hinsicht. Auch wenn der gute Mike sich absolut sicher wäre, dass er das alles ihr zu verdanken hätte, er könnte es nie im Leben beweisen. Man würde nicht eine Spur zu ihr finden.
"Habe ich überreagiert?"
"Auf jeden Fall", nickte Noah. "Er wird Monate brauchen, um sämtlichen Ämtern und Behörden klar zu machen, dass er quicklebendig ist! Vielleicht holt es ihn in Jahren noch ein. Und du wirst höchstens eine Woche Urlaub unter Palmen brauchen, um ihn zu vergessen! Fair ist das nicht!", zwinkerte er ihr zu.
"Urlaub unter Palmen." Ihre Augen bekamen einen sehnsüchtigen Glanz. "Meinst du wirklich?"
"Unbedingt, Süße!" Liebevoll strich er ihr über die raspelkurzen Haare. "Und zwar so schnell wie möglich! Last Minute, ab in die Sonne!"
Sie lächelte. "Kommst du mit?"
"Das wäre toll. Aber leider muss ich nächste Woche nach Kanada."
Und er musste ja auch noch etwas anderes erledigen. Etwas, das ihm wirklich wichtig war.
Das Navi in seinem Wagen führte Noah in die Nähe der Autobahnausfahrt Salzburg Mitte. Das hörte sich an, als wäre es das Zentrum. Aber das war es natürlich nicht. Das Herz dieser Stadt war die Salzach, die Burg, der Domplatz. Und dort war es wunderschön!
Hier, Wohnblocks aus den sechziger oder siebziger Jahren. Saniert. Irgendwann. Gemütlich sah anders aus. Zumindest gab es genügend Parkplätze. Er stellte das Auto ab und suchte nach der richtigen Hausnummer. Die hatte er nach wenigen Schritten gefunden. Auch Davids Namen neben der Klingel. Kurz entschlossen drückte Noah sie mehrmals, bevor der Mut ihn wieder verlassen könnte. Aber David schien noch nicht zuhause zu sein.
Ihn zu finden, war ja wohl die leichteste Übung gewesen. Wenn Noah gewollt hätte, hätte er mehr über den hübschen Goldschmied erfahren können, als nur seine aktuelle Adresse. Viel mehr! Hat man erst einmal die Sozialversicherungsnummer, ... Natürlich wäre er neugierig gewesen. Sehr sogar! Aber es war ihm nicht richtig vorgekommen, den Anderen auszuspionieren. Darum hatte er es gelassen.
Von innen ging die Tür auf. Eine ältere Dame kam aus dem Haus, Noah nutzte die Gelegenheit, nickte ihr dankbar zu, ganz so, als gehörte er hier her, und schon war er drinnen. Er machte es sich auf der Treppe bequem. Na gut. Sehr komfortabel war es nicht unbedingt, aber noch immer wesentlich angenehmer, als draußen im Wind.
Lange musste er nicht warten. David kam mit dem Fahrrad, stellte es im dafür vorgesehenen, überdachten Bereich ab, brachte das Schloss an und sprang die drei Stufen zur Eingangstür hoch. Sein Schlüssel klickte leise im Schloss. Da konnte Noah ihn durch das milchige Glas schon erkennen. Obwohl der Andere so gar nicht aussah, wie noch vor ein paar Tagen bei der Arbeit.
David trug sehr auffällige, dunkelblaue Jeans. Diverse Abnäher darauf sorgten für eine äußerst unruhige Optik, am rechten Hosenbein lief an der Naht sogar ein bunt gemusterter Streifen entlang. Er endete an schwarzen Lederschuhen, die im krassen Gegensatz dazu fast schon schlicht-elegant wirkten.
Seine sportliche, ebenfalls schwarze Regenjacke, verbarg fast zur Gänze einen grünen Kapuzenpullover. Ein Schopf seiner Haare hing ihm ins Gesicht. Und ja, so weit man das Wenige, das unter der Kapuze davon zu sehen war beurteilen konnte, waren sie tatsächlich etwas rotblond. Ganz egal, in welchem Licht.
Der Gesamteindruck hatte jedenfalls schon ansatzweise etwas Wildes. Noah musste grinsen. Dieses Outfit passte so viel besser zu ihm, als das, was er bisher gesehen hatte.
David war sichtlich außer Atem und wohl deshalb so spät dran, weil er noch eingekauft hatte. Sein Rucksack war jedenfalls gut gefüllt, in einer Hand hielt er eine kleine Tüte mit dem Logo einer Bäckerei darauf.
Noah sammelte seine Gedanken ein. Jetzt nur nichts falsch machen! "Hallo!"
Der Andere blieb an der Eingangstür sofort regungslos stehen. "Was machen Sie denn hier?"
"Auf dich warten", sagte er ehrlich. Er redete absichtlich nicht besonders laut, wollte weder David erschrecken, noch in diesem Treppenhaus unangenehm auffallen, griff nach dem Geländer und stand auf.
So schnell, wie der Kleinere direkt an ihm vorbei die Stufen nach oben gerannt war, hatte Noah gar nicht schauen können! Noch bevor er so richtig realisiert hatte, dass David nicht mehr da war, war im ersten Stock eine Wohnungstür aufgeschlossen und sofort wieder zugeknallt worden.
Vollkommen irritiert stand Noah am unteren Ende der Treppe. Was war das denn eben gewesen?! Sollte er jetzt gehen? Es hatte ihn genug Überwindung gekostet, hierher zu kommen. Nein, das würde der Kleine ihm jetzt erklären!
Entschlossen ging Noah nach oben. Neben der Tür war natürlich eine Klingel. Er entschied sich nach kurzer Überlegung dagegen. Die meisten Klingeln hörten sich unangenehm an. Fand er. Stattdessen klopfte er vorsichtig.
"David?" Keine Reaktion. Er klopfte noch mal. David musste ihn doch hören! "Was ... Was habe ich denn diesmal Falsches gesagt?"
Keine Antwort.
"Hätte ich etwa lügen sollen? Hättest du mir geglaubt, wenn ich gesagt hätte, ich sitze zufällig da?" Es war absolut still in der Wohnung. "Könntest du bitte mit mir reden?"
Länger nichts. Und dann ein gedämpftes, "Was zum Teufel wollen Sie?!"
"Nur mit dir reden."
"Dann reden Sie!"
"Mit der Tür dazwischen?"
"Ich höre Ihnen sowieso nicht zu!"
"Offensichtlich schon!"
"Scherzkeks, was?"
Noah musste ein wenig lächeln. "Machst du auf?"
"Nein!"
"Komm schon. Mach auf. Du musst mich auch nicht rein lassen."
"Würde ich sowieso nicht!"
"Habe ich verstanden."
"Warum hauen Sie dann nicht ab?"
Tief durchatmen. "Ich muss morgen für ein paar Tage weg, und da dachte ich, ich könnte ..."
"Vorher noch ein wenig Spaß haben? Können Sie vergessen!"
Wofür hielt der Mann ihn denn? "Ich dachte, ich könnte dich vielleicht fragen, ob du mit mir was essen gehen möchtest?"
"Habe keinen Hunger!"
"Okay. Lieber ins Kino?" Keine Reaktion. "Spazieren, Museum, Theater?"
"Mit Ihnen gehe ich ganz sicher nirg..."
"Nein, vergiss das Theater", unterbrach Noah ihn sofort. "Ich bin bereit eine ganze Menge zu tun, damit du mir den Unsinn von neulich verzeihst. Aber ins Theater gehe ich nicht!"
Stille auf der anderen Seite der Tür.
"Und auch in kein Musical. Und wenn es eine Hölle gibt, dann ist meine Holiday on Ice!"
Drinnen war ein sehr leises Geräusch zu hören. David musste ganz in der Nähe sein.
"Warum ... erzählen Sie mir das?"
"Weil ich hoffe, dass du Nachsicht übst und mich nicht zwingst! Geh mit mir essen! Ein gegrilltes Steak?"
"Ich bin Vegetarier!"
Vegetarier? Moment mal. Die Hälfte aller auf der Welt verfügbaren Lebensmittel hatte er also gar nicht auf dem Speiseplan? Der große Brünette schloss die Augen und lehnte die Stirn an die kühle Front der Wohnungstür. "Oh nein", murmelte er. "Schon wieder so einer."
"Was?"
"Nichts! Ein Fischrestaurant?"
"Nein!"
"Manche Vegetarier essen aber Fisch!"
"Ich nicht!"
Noah dachte nach. "Wie wäre es mit Hühnchen?", neckte er ihn.
Kurz war es still. "Ein Hühnchen ist auch ein Tier!"
"Wenn es Federn hat, zählt es nicht!"
"Wer sagt das?"
"Das weiß jeder!"
Er meinte, drinnen ein kurzes, unterdrücktes Kichern zu hören. "Nein."
"Nichts zu machen? Gar nichts?"
"Nein."
"Okay." David würde sich nicht umstimmen lassen. Aber er klang auch schon längst nicht mehr wütend. Es war nicht das, was Noah sich gewünscht hatte. Aber mit diesem Ende konnte er wenigstens leben. "Dann lasse ich dich mal in Ruhe." Einigermaßen zufrieden trat er zwei Schritte zurück. "Und ... nichts für ungut, ja? Mach`s gut, David!" Eine Antwort bekam er nicht mehr darauf.
Was für ein interessanter Mensch. Undurchschaubar!
Noah setzte sich ins Auto und fuhr in Richtung Innenstadt. Vielleicht hätte er ihm seine Telefonnummer vor die Tür legen sollen? Schmunzelnd schüttelte er den Kopf. David würde ihn sowieso nie anrufen.