"Guten Morgen."
Sein Hirn sagte David zwar deutlich, dass er den jungen Mann an seinem Bett, der eben diesen Gruß an ihn gerichtet hatte nicht kannte, aber trotzdem war ihm sein Gesicht mehr als vertraut. War das nicht seltsam?
"Ich bin Julian."
"Ja ich ... weiß."
Julian. Oder was den Klingelton auf Noahs Handy betraf, die Titelmelodie von Baywatch. Sein Kätzchen. Da saß es. Live und in Farbe, keinen halben Meter entfernt. Es blickte ihn fürsorglich an. Dazu dieses vorsichtige Lächeln! Der Klang dieser Stimme war so ruhig und freundlich. Ganz abgesehen davon, dass Mr. Perfect in Echt noch besser aussah, als auf den vorteilhaftesten Fotos.
David hatte seine Abneigung gegen ihn über Monate kultiviert. Heimlich zwar, aber dafür umso leidenschaftlicher. Das hatte überhaupt nichts mit Eifersucht zu tun, das war ... Na gut. Hatte es doch.
Ein bisschen.
Nein, ausschließlich.
Er war selbst am meisten überrascht darüber! In dieser Ausprägung war das bisher einzigartig.
Dummerweise war es von Angesicht zu Angesicht praktisch unmöglich, Noahs Exfreund nicht toll zu finden. Absolut Scheiße, das!
"Wie fühlst du dich?", fragte der hübsche Dunkelblonde.
"Wie sehe ich denn aus?" Zum Glück kam das fast genau so patzig rüber, wie es beabsichtigt war.
"Ja." Julian atmete tief durch. "Das war blöd. Tut mir leid."
Endgültig liebenswert machte ihn, dass man ihm anmerkte, wie furchtbar hart ihn diese Antwort traf. David fühlte sich sofort schlecht deswegen!
Julian tat nicht so, als würde er nicht erkennen, was Sache war. Wie so viele andere, die immer nur total positiv waren und dabei ganz sicher nur die besten Absichten hatten. Nämlich die, David nicht mit der Wahrheit runter zu ziehen.
"Ich mache mir Sorgen um Noah." Es hatte ja wohl keinen Sinn, lange um den heißen Brei herum zu reden. "Du hast sicher deine Gründe gehabt, dich von ihm zu trennen. Aber wenn dir der Mann nur halb so viel bedeutet wie mir, dann überleg dir das nochmal."
Nur halb so viel wie ihm? Was sollte das denn heißen?! Wollte Julian ihn zurück? Es reichte jedenfalls, um Davids Herz einen kräftigen Stich zu verpassen. Obwohl es ihn gar nichts anging. Sollte es nicht und tat es auch nicht. "Es ist besser so", flüsterte er. "Jetzt braucht er sich nicht mehr verantwortlich zu fühlen."
Julian lehnte sich zurück und sah David lange Zeit einfach nur an, bis er weitersprach.
"Er soll nicht ... das Gefühl haben, hier bei mir sein zu müssen."
"Ist er nicht trotzdem jeden Tag bei dir?" Da schwang keine Neugier oder gar Sarkasmus mit. Es war eine aufrichtig interessierte Frage.
"Ich kann ihn nicht davon abhalten."
"Willst du das überhaupt?"
"Noah hat meinetwegen von Anfang an nur Ärger gehabt. Er hat das nicht verdient."
"Das war aber keine Antwort auf meine Frage."
Noah davon abhalten ihn täglich zu besuchen? Wollte David das? Ja, wollte er. Und er wollte es auf keinen Fall.
Einerseits war da die feste Überzeugung, Noah sollte sein Leben ohne Rücksicht auf ihn gestalten. Und ganz sicher sollte er sich nicht aus Schuldgefühlen, oder noch schlimmer, aus Mitleid heraus, genötigt fühlen sich neben ihn zu setzen.
David selbst war nicht wichtig. Er war es gewohnt alleine zu sein. Das war er sein halbes Leben lang gewesen, was machte es da auf den letzten Metern noch aus? Und dennoch brach ihm allein der Gedanke das Herz.
"Ich weiß nicht, warum Noah mich nicht einfach vergisst."
"Doch, tust du." Julian drückte einen Augenblick seine Hand. "Er liebt dich."
"Ich ihn auch." Drei Worte die nie hätten passieren dürfen. Trotzdem waren sie so schnell ausgesprochen gewesen. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken!
"Aber dann ist doch alles gut!", freute Julian sich. "Sag ihm das!"
"Nein!" Dann müsste David alles zugeben. Die ganze Wahrheit. Nicht nur das, was er sich einredete, um seine Entscheidung zu rechtfertigen.
Leider durchschaute der Mann ihn trotzdem. "Du hast die Sache zwischen euch beendet, bevor er es tun konnte? Du denkst, er hätte dich sowieso fallen lassen?"
"Nein, ich ... Ja." Gut, dann hatte er sie eben gesagt. Die andere Hälfte der Wahrheit. Und ausgerechnet dem Kätzchen, das jetzt auf ihn hinunter sah und dabei in Zeitlupe den Kopf schüttelte als wäre das die unglaublichste Erklärung gewesen, die ihm je einer aufgetischt hätte.
"Er soll kein schlechtes Gewissen haben, wenn er erkennt, dass er so viel mehr verdient hat. Ich habe sowieso nie begriffen, warum er sich ausgerechnet mich ausgesucht hat."
"Das entscheidet sich im Bruchteil einer Sekunde und liegt nicht in unseren Händen." Julian stand auf und sah nachdenklich aus dem Fenster. "Manchmal schaut man jemandem durch die Augen direkt in die Seele und verliert dabei das Gleichgewicht. Man kann nicht erklären, weshalb. Es ist einfach so."
David sagte länger nichts. Seinem Gefühl nach sprach Julian nicht mehr von Noah. "Findet man es wieder?"
Tief aus abschweifenden Gedanken gerissen, bekräftigte der Andere diese Annahme mit einer abwesend wirkenden Gegenfrage. "Was?"
"Das Gleichgewicht."
"Wer weiß. Irgendwann, vielleicht."
"Das wünsche ich dir, Julian."
Davids behandelnde Ärztin fing Noah am späten Nachmittag an der Glastür zur Station ab und bat ihn in ihr Büro. Es gab definitiv ein Problem, denn der Frau war es sichtlich unangenehm, das bevorstehende Gespräch führen zu müssen. Bevor sie überhaupt mit der Sprache herausrückte, entschuldigte die Onkologin sich mehrmals für ihre Mitarbeiter und sich selbst. Sie versicherte, sie alle wären äußerst bedacht darauf, einen professionellen Abstand zu wahren. Aber sie seien eben alle nur Menschen und Fehler nicht vollkommen zu vermeiden. Es gäbe immer wieder Patienten, deren Schicksal ihnen allen besonders nahe ging. Und dass sie natürlich untereinander darüber redeten. Was an diesem Tag vorgefallen war, hätte selbstverständlich niemals passieren dürfen. Man werde die Geschehnisse evaluieren, um Derartiges in Zukunft auszuschließen.
David hatte etwas gehört, das nie und nimmer für seine Ohren bestimmt gewesen war.
Die Decke fest über sich gezogen lag David in seinem Bett. Eingerollt wie ein Igel, starrte er regungslos in Richtung Fenster. Seine Fingerknöchel waren weiß, so fest hielt er die Plüschrobbe in seinen Händen.
"Nugget?", fragte Noah sanft. Es war, als würde David durch ihn durch sehen. Wie die Ärztin bereits angekündigt hatte, rührte er sich überhaupt nicht und sprach kein Wort. Mit niemandem. Dieser Zustand hielt bereits seit mehreren Stunden an. Was den Mann der sich jetzt vor sein Bett kniete und ihm zärtlich über die Wange strich kein bisschen wunderte. Nicht mehr, nachdem er erfahren hatte, wie es dazu gekommen war. "David", versuchte er noch einmal vergeblich ihn zu erreichen. Schließlich tat er das einzige das ihm einfiel. Und vielleicht war es sogar das einzig Richtige, denn als Noah sich auf die Matratze setzte und David fest an sich zog, stieß er einen Laut aus, der eher nach einem verwundeten Tier klang, als nach Mensch. Aber wenigstens war es ein Lebenszeichen. Das erste, bevor der junge Mann haltlos anfing zu weinen.
"Noah?" Kaum verständlich kam ihm die Frage auf die er die Antwort niemals hören wollte über die Lippen. "Ist es wahr?"
"Ja. Es tut mir so leid, Nugget."