"Entschuldigen Sie?" Noah versuchte den Frosch im Hals runter zu schlucken und hoffte, sich wenigstens nicht wie einer anzuhören. "Sind Sie Max Haberl?"
"Ja?" Während der Mann energisch einen Knödel zerlegte, sah er von der Eckbank zu ihm hoch. Drei weitere Augenpaare, ein überraschtes und zwei neugierige, folgten seinem Blick.
"Ich ..." Ja, was jetzt? So viel nachgedacht und nun ... Schwierig einen Anfang zu finden.
Der Ältere schaute ihn noch immer wartend an. Mit der Zeit verunsichert ob des anhaltenden Schweigens, schob er ihm schließlich seinen Teller hin.
"Nein, danke", winkte Noah ab.
"Hätte ja sein können", grinste Max breit.
Wenigstens schien er gut drauf zu sein.
Noah räusperte sich. "Wäre es möglich, Sie kurz alleine zu sprechen? Bitte?"
Vor Frau und Kindern hätte er nur ungern gefragt, was er wissen musste. Zum Glück war der Mann ihm an die Bar gefolgt, die in diesem netten Gasthaus etwas abseits des Restaurantbereiches lag.
Mit der Adresse war nichts mehr anzufangen gewesen. Die kleine Frühstückspension zu der sie gehört hatte, gab es schon lange nicht mehr. Das Gebäude war Mitte der Neunziger abgerissen worden. Heute stand ein Mietshaus an dieser Stelle. Die damalige Eigentümerin war inzwischen ebenfalls verstorben.
Als jede Idee im Sande verlaufen war, waren sie schließlich die Firmen durchgegangen, die damals an den Bauarbeiten am Tunnel beteiligt gewesen waren. Die Chronik der Gemeinde hatte Anhaltspunkte geliefert. Sogar alte Zeitungsberichte waren durchforstet worden, um ja kein Unternehmen zu übersehen. So viele Leute! Eine Sisyphusarbeit, die sich über Tage gezogen hatte. Jeder dessen Vorname und Alter in etwa ins Schema gepasst hatte, war genauer unter die Lupe genommen worden. Und ja, am Ende war alles egal und jedes Mittel recht gewesen. David war auf der Isolierstation, weil seine Blutwerte sich dramatisch verschlechtert hatten. Da hatten sie sich eben Einblick ins Finanzamt verschaffen müssen, um die Sache zu beschleunigen. So war es möglich gewesen herauszufinden, wer damals für welche Angestellten Steuern bezahlt hatte. Viele der Firmen gab es nämlich heute gar nicht mehr. Manche waren bankrott, andere aufgekauft oder einfach geschlossen worden. Übrig geblieben waren schließlich vier Kandidaten. Einer von ihnen war zwar vor fünfzehn Jahren nach Paraguay ausgewandert, aber das war nebensächlich. Die paar Flugstunden hätten niemanden mehr aufgehalten.
Jetzt stand Noah vor dem vielversprechendsten unter ihnen, Maximilian Haberl, 48 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, störte ihn während seines Familienwochenendes im Erlebnisbad der Therme Erding und bat ihn geradeheraus um eine DNA-Probe für David, der mit hoher Wahrscheinlichkeit sein Sohn war. Immerhin hatte der Mann gerade mehr als überrascht bestätigt, dass er dessen Mutter Anja vor vielen Jahren gekannt hatte. Genauer nach der Beziehung zu fragen, hatte Noah sich danach gespart.
Max setzte sich auf einen der Hocker und bestellte einen doppelten Schnaps, ohne sein Gegenüber auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Es blieb nur zu hoffen, dass er ihm glaubte. Sekunden vergingen, die sich anfühlten wie eine verdammte Ewigkeit. Dann griff er wortlos nach dem Röhrchen das auf der Theke lag, nahm das Wattestäbchen heraus und machte den Abstrich, auf dem alle Hoffnungen lagen.
"Das musst du dir ansehen, David", lachte Nils unter seinem Mundschutz. Es war kurz nach Mitternacht, aber trotzdem schien es im Krankenhaus plötzlich lebhaft zuzugehen. Man hörte gedämpfte, aufgeregte Stimmen von überall, während der Krankenpfleger dem jungen Mann aus dem Bett half, ob er wollte oder nicht. Machte aber nichts, geschlafen hatte er sowieso nicht.
Nun, der Anblick der sich vom Fenster im zweiten Stock aus bot, war die Anstrengung allemal wert gewesen. Was David da zu sehen bekam war nicht nur unerwartet, es war auch wunderschön!
Da im Innenhof brannten Lichter, viel zu viele um sie zählen zu können. Zusammen bildeten all diese Flämmchen ein großes Herz. Schwestern und Pfleger standen im Schein der Kerzen daneben. Manche der Angestellten hatten einen Becher in der Hand. Sie verbrachten heute ihre Pause anscheinend im Freien.
"Hast du von so was schon mal gehört?", fragte Nils kopfschüttelnd.
Doch, ja. So ähnlich. David hatte mal von einem mit Benzin gefüllten Graben gehört. Auch herzförmig. Am Anfang, zumindest. Ganz von selbst berührten seine Fingerspitzen das Glas.
"Das sind garantiert tausend Teelichter. Die stehen in so kleinen Muffinsförmchen. Bestimmt wegen dem Wind. Verrückt, oder? Es gibt sogar schon ein paar Theorien, wer das war!"
"Ach so", lächelte der Goldschmied und biss sich dabei auf die Unterlippe. Er hatte längst seine eigene Theorie.
"Keiner hat so richtig was bemerkt. Gibt's das? Das muss doch gedauert haben! Eine der Patientinnen auf der Geriatrie haut immer von der Station ab und geht spazieren. Sie behauptet, es waren nicht die Russen, sondern unsere."
"Soldaten?"
"Die Frau hat Demenz, da gerät im Oberstübchen schon mal was von vor siebzig Jahren dazwischen. Nein, das ist es sicher nicht. Es muss außerdem jemand von hier gemacht haben. Abgesehen von uns kommt ja nachts keiner am Sicherheitsdienst vorbei", grübelte Nils. "Der Dr. Walther hat angeblich was mit Frau Professor Grünwald. Ich kann es mir zwar nicht vorstellen, aber vielleicht ist der privat nett", mutmaßte er. "Eine der Krankenschwestern oben auf der Gyn hat sich von ihrem Mann getrennt. Der könnte es auch gewesen sein!"
"Aha?"
"Vielleicht will er sie zurück?"
"Wäre möglich."
"Eben. Scheiße, wieso ist mir das nicht eingefallen!" Genervt haute Nils sich die flache Hand an die Stirn. "Glaubst du, ich hätte sie damit beeindrucken können?"
Nils war seit Monaten unsterblich in Frau Dr. Fellner verschossen und hatte ihr das nach einem Bier zu viel am letzten Samstag endlich gestanden. Sie hatte sich dazu leider nicht geäußert und das Shamrock, eine Bar am Rudolfskai, recht überstürzt verlassen.
"Wen würde das nicht umhauen", flüsterte David, die Stirn gegen das Fenster gelehnt. Unbeschreiblich die Wärme, die sich durch jedes einzelne dieser Lichtlein in seinem Inneren ausbreitete. Wo sonst alles kalt und dunkel war.
Er war so traurig gewesen in den letzten Tagen. Alleine mit seinen Gedanken an das Leben draußen, den Tod hier drinnen. An Noah. Der nicht mehr bei ihm gewesen war, nachdem er ihm seinen Glücksbringer, den kleinen Nugget überlassen hatte. Und nun durfte er gar nicht mehr herkommen, auch nicht wenn er es wollte, weil die Isolierstation eben war, was sie war.
Sie hatten telefoniert. Das schon. Aber immer nur kurz. Sein Liebster sollte nicht merken, wie schlecht es David ging. Außerdem hatte er dabei dauernd das Gefühl gehabt, Noah irgendwie zu stören. Er hatte wohl oft Besuch, denn immer waren im Hintergrund Gespräche zu hören gewesen. Auch spät am Abend. Noah hatte nie etwas darüber gesagt und David hatte nie gefragt. Er hatte beschlossen, dass es nicht wichtig wäre. Oft kam er gut damit zurecht. Ebenso oft nicht. Dann hing er fest in seiner Spirale aus Zweifeln, die sich nur abwärts bewegte. Immer diese Angst in den hintersten Winkel des Hirns verbannend, Noah wäre das mit ihm doch alles zu anstrengend und zu ... dumm. Und dann machte der Mann so was!
"Soll ich dir zurück ins Bett helfen?"
"Nein. Ich möchte das noch ein wenig anschauen. Es ist so schön."
"Okay. Dann bin ich aber in fünf Minuten wieder hier."
"Ja. Nils? Danke, dass du es mir gezeigt hast."
"Kein Ding", strahlte der Krankenpfleger. "Dein Handy hat gerade gepiept", stellte er noch kurz fest, griff sich das Gerät und drückte es dem jungen Mann in die Hand. "Dann bis gleich."
David musste sich erst mit dem Ärmel seines Pyjamas über die Augen wischen, ehe die Sätze etwas weniger verschwommen waren. Die Nachricht war von Noah:
"Mein Herz brennt nur für dich. ..."