Konnte man von Höhe erschlagen werden? Von Weite erdrückt? Ja, das ging! David passierte das gerade. Das hier war ein Penthouse mit offener Balkenkonstruktion. Da ging es nach oben, meterweit. Die Giebelseite bestand aus einer einzigen Glasfront, gewaltige Dachfenster sorgten noch zusätzlich für eine gewisse Leichtigkeit, die man in Altbauten so nie vermuten würde. Auch dann nicht, wenn sie offensichtlich generalsaniert waren.
"Bist ... du sicher, dass du hier ein Tier haben darfst?", fragte der junge Mann fast ängstlich, sowohl die Echtholzdielen, als auch die spärliche, aber ohne Zweifel exklusive Einrichtung registrierend.
"Mach dir darüber mal keine Sorgen."
"Weil ... ich nicht möchte, dass du wegen mir Probleme bekommst."
Noah lächelte ein wenig. "Ich kann in meiner Wohnung haben, was ich will. Wen sollte das denn stören?"
Meiner Wohnung? Hatte er das gerade gesagt? Der Mann, der in nicht mehr ganz neuen Jeans und einem einfachen schwarzen T-Shirt vor ihm stand, der nie etwas anderes als Sportschuhe trug, der Samstags, vollgekleckert mit Schmieröl, an alten Autos schraubte die ihm anscheinend nicht mal gehörten?
"David, komm mal mit." Der Größere drehte sich um und machte ein paar Schritte, aber der Andere stand noch immer wie angewurzelt auf seinem Platz.
Noah war sich nicht sicher, was das zu bedeuten hatte. Eher nichts Gutes. Also kam er zurück und griff vorsichtig nach seiner Hand. Das lief erstaunlich problemlos. Ohne das geringste Anzeichen von Gegenwehr. Nein, normal war das nicht. "Scheiß Tag, nicht wahr?" Er hatte wirklich eine angenehm, beruhigende Art zu reden. "Ich zeige dir das Gästezimmer. Und wenn du magst, kommst du nachher einfach noch mal runter. Wenn nicht, ist es auch okay."
Runter. Ja, das Gästezimmer lag oben. Es gab einen ersten Stock über dem vierten Stock. Man betrat diesen Schlafraum über eine Galerie, die die gesamte Längsseite einnahm. Das Bett unter dem Fenster war den allgemeinen Größenverhältnissen angepasst, und, eigentlich keine Überraschung mehr, ein begehbarer Kleiderschrank und eigenes Bad waren da natürlich auch.
Noah hatte ihm noch den Schlüssel gegeben, bevor er David vorhin alleine gelassen hatte. Das war vor etwa zwanzig Minuten gewesen. Er sollte jederzeit absperren können und würde das wohl auch tun. Wenn diese Kleinigkeit ihm half sich wohler zu fühlen, war das vollkommen in Ordnung.
Der IT-Spezialist hatte in der Zwischenzeit dafür gesorgt, dass sein elektronisches Schloss den Anderen erkannte. Ab jetzt würde David kommen und gehen können, wie er wollte.
Die Katze war bisher nicht wieder aufgetaucht. Ihr Kisterl hatte Noah erst mal neben der Terrassentür aufgestellt. Er war sich nicht sicher, wo die beste Stelle dafür wäre. Wenn es überhaupt eine gab. Für ein Klo.
Danach machte er ein paar Tramezzini, die erst mal in den Kühlschrank wanderten. Vielleicht würde sein Gast sich ja doch noch einmal blicken lassen. Die Hoffnung starb schließlich zuletzt.
David war so leise gewesen, dass der Andere ihn erst gar nicht hatte kommen hören. Jetzt stand der Rotblonde unschlüssig in der Tür. "Hast du meine Katze gesehen?"
"Noch nicht. Lassen wir sie einfach in Ruhe. Die kommt sicher wieder raus, wenn sie so weit ist. Hast du schon gegessen?"
Er schüttelte den Kopf. "Ich habe auch gar keinen Hunger."
"Bist du sicher? Nicht weit von hier ist ein sehr guter Italiener. Die liefern auch, wenn du nicht mehr ausgehen möchtest."
"Nein, wirklich nicht. Danke."
"Hey." Noah sah ihn durchdringend an. "Alles in Ordnung?"
"Ja. Ich ... weiß nur nicht so richtig, was ich sagen soll."
Der Größere lächelte ihn verstohlen an. "Was würde dir denn als erstes einfallen? Setz dich doch erst mal." Er deutete auf die Hocker, die an der Seite einer gewaltigen Kücheninsel aufgestellt waren und nahm einen Teller mit dreieckig geschnittenen Sandwiches aus dem Kühlschrank. "Nur für den Fall. Ein Glas Wein dazu?"
"Nein."
"Was möchtest du lieber?"
"Ein Wasser? Oder hast du auch ... Kakao?"
"Klar. Mach mal den Auszieh-Schrank da rechts auf. Drittes Fach von unten, wenn ich mich nicht irre. Ich hole Milch." Als Noah damit aus dem Nebenraum wieder zurück war, offensichtlich war das eine Art Speisekammer, saß David wieder auf seinem Hocker.
"Nicht gefunden?"
"Doch."
"Aber?"
"Ich glaube, das ist keine so gute Idee."
Skeptisch zog der Brünette am Griff. Er sah auf den ersten Blick, was der Andere meinte.
Noah nickte. Er wählte eine Nummer auf seinem Handy und drückte die Freisprech-Funktion. Mit Geheimnissen wollte er gar nicht erst anfangen.
"Hey, Tiger! Alles klar?", meldete sich eine fröhliche, männliche Stimme.
"Du, sag mal", nachdenklich drehte er die Packung in der Hand, "wie eng ist deine Beziehung zu dem Kakao in meinem Vorratsschrank?"
Ein genervtes, "Wieso?", war die sofortige Gegenfrage.
"Weil groß dein Name draufsteht, Kätzchen. Und ein paar andere Nettigkeiten. Finger weg ... denk nicht mal dran ... oh, der Totenkopf ist dir gelungen!"
"Ja cool, oder?"
"Total. Also?"
"Ist sie da?!"
"Wer denn?"
"Emma!"
"Nein. David ist da. Er hätte gerne eine Ta..."
"Oh shit!" Das klang ehrlich entsetzt. "Da ist ganz hinten eine Dose Meersalz. In der ist der richtige Kakao drin. Gib ihm den!"
"Der Richtige? Was ist dann das hier? Und wo ist mein Fleur de Sel?!"
"Ähhm ... willst du alles nicht wissen."
"Doch, das will ich!"
"Nein. Stell ihn wieder rein."
"Das glaube ich kaum."
"Biiittteee! Sie wird nicht widerstehen können!"
"Zum letzten mal: Nicht - in - meiner - Wohnung!"
"Ach, komm schon! Dir wäre sowieso nichts passiert, du trinkst nie Kakao!"
"Nichts pa...? Ihr bringt mich noch ins Grab", seufzte er. "Sonst noch irgendwas, das ich wissen sollte?"
"Also, so spontan ... Nein, ich glaube nicht."
"Gut. Bis bald, Kätzchen."
"Bis bald!"
Es klickte in der Leitung. Der große Brünette warf die Kakao-Packung kopfschüttelnd in den Müll. David sah, wie sich seine Lippen bewegten. Der Mann zählte leise einen Countdown nach unten.
"Drei ... zwei ... eins ... hm." Fast. Es klingelte wieder bei Minus drei.
Noah, der nicht im Mindesten überrascht aussah, drückte erneut auf die Lautsprecher-Funktion. "Ja?"
"Da wäre vielleicht noch ... eine ganz kleine Sache."
"Raus damit."
"Es ist ... möglicherweise ... ein Würfel Rindsuppe im Duschkopf vom Gästebad eingeschraubt."
"Möglicherweise?!"
"Also gut. Ganz sicher."
"Julian!"
"Ich dachte doch, dass Emma zu dir kommt!"
"Soll das etwa eine angemessene Erklärung sein?"
"Ja!"
"Wieso tust du so was?!"
"Weil sie Natron unter meinen Zucker gemischt hat! Ich habe fast eine Woche gebraucht, bis ich herausgefunden habe, wieso überall Schaum entsteht!"
"Aber nur, weil du Gras auf ihrem Teppich angebaut hast!"
"Gar nicht wahr! Es war Gartenkresse!"
Noah schlug entnervt beide Hände vor sein Gesicht. "Wie-so?!"
"Na ... sie wächst schnell und ist auch sonst sehr anspruchslos. Man muss sie nur gleichmäßig verteilen, gut bewässern, und schon ..."
"Okay. Kätzchen?"
"Ja?"
"Nicht in meiner Wohnung. Bitte."
"Ähm ... hab dich lieb?"
"Ich dich auch, du Nuss. Pass auf dich auf, ja?"
"Immer", lachte der Andere. "Bis bald."
Der große Brünette verharrte einige Sekunden regungslos auf seinem Platz und sah David nervös an.
"Mögen die sich nicht?", fragte der Goldschmied vorsichtig.
"Emma und Julian? Wie kommst du denn darauf? Wegen ihrer kleinen Streiche? Ach, nein. Überhaupt kein Grund zur Beunruhigung. Das geht seit Jahren so. Ich ... muss mal schnell in dein Badezimmer. Da ist ein ..."
"Suppenwürfel?"
"Wir sollten leider davon ausgehen. Ja." Noah hastete an seinem Gast vorbei aus der Küche. Der sah ihm schmunzelnd hinterher. Und die Liste der Fragen in seinem Kopf wurde immer länger ...
Der Kakao, der Richtige aus der Salzdose, war dann schnell zubereitet. Herbert huschte geduckt an der Küchentür vorbei. Sie sahen ihn beide gleichzeitig.
"Hoffentlich finde ich ihn morgen Früh", überlegte David. "Ist gar nicht so sicher. In diesen unendlichen Weiten." Jetzt flog ihm ein Lächeln übers Gesicht.
"Ich weiß genau, was du meinst", gab der Größere ihm recht. "Ich suche seit Wochen nach meiner Vogelspinne. Sie muss hier irgendwo sein."
"Ha, ha."
"Du glaubst mir nicht?"
"Vielleicht, wenn du ernst geblieben wärst." Der Goldschmied nippte an seiner Tasse. "Wie kommst du denn zu so einer Wohnung?"
Endlich war es raus. "Gefällt sie dir?"
"Natürlich. Wem würde die nicht gefallen."
"Aber? Du fragst dich die ganze Zeit, was ich dafür erwarte, nicht wahr?"
Der Mann hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. David sah ihn nicht an. "Ja."
"Du solltest mich schon besser kennen."
"Ich bin gar nicht mehr sicher, ob ich dich überhaupt kenne." Ein leicht schiefes Grinsen streifte sein Gegenüber.
"Überrascht? Was hast du denn erwartet?"
"Ich weiß nicht. Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Was ganz Normales, wahrscheinlich."
"Und doch bist du mitgekommen."
"Ist mir nicht wichtig", zuckte der Kleinere mit den Schultern. "Mir hätte eine Couch genügt. Und wenn du am Bahnhof wohnen würdest, dann wäre mir das auch recht. Aber das hier ist ..."
Noah nickte und setzte sich zwei Hocker weiter. "Hör zu, ich werde dich nicht anlügen. Ich will dir nicht sagen, dass mir das alles nichts bedeutet. Dafür weiß ich meine Situation viel zu sehr zu schätzen. Ich habe Glück gehabt und bin dankbar dafür."
"Hast du im Lotto gewonnen?"
"So was in der Art. Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich unfreiwillig viel Zeit hatte. Ich habe eine App programmiert und konnte sie verkaufen."
"Wie viel bringt denn so ein Ding?"
"Nicht so viel", schüttelte der Größere den Kopf. "Außerdem habe ich mit Julian und Emma geteilt, die dabei gewesen waren. Emma hat die Kohle mit vollen Händen ausgegeben, Julian konnte sich ein Auslandssemester in den USA leisten und ich habe meinen Anteil in ein finnisches Start-Up Unternehmen investiert."
"Das war wohl ziemlich clever?"
"Na ja. Clever war, meine Beteiligung los zu werden, bevor die Vollidioten den Laden an die Wand gefahren haben." Noah schenkte sich ein Glas Mineralwasser ein. "Diese Wohnung hat mir gefallen. Ich konnte sie mir leisten und habe sie gekauft. Aber nur weil ich so etwas kann, will ich mich nicht benehmen, als wäre ich jemand anderes."
"Das machst du bisher ziemlich gut, würde ich sagen."
"Fällt mir nicht schwer. Ich war nämlich schon stinkreich, bevor ich Geld hatte. Und wenn ich morgen alles verliere, bin ich es noch immer. Ich habe einen Job, den ich richtig gut finde. Ich habe eine große, laute, neugierige, nervige, erdrückend-liebevolle Familie. Und vor allem echte Freunde, auf die ich immer zählen kann. Arm gefühlt habe ich mich noch nie. Verstehst du, was ich meine?"
"Doch. Ich denke schon."
"Okay. Gibt es sonst noch etwas, das du über mich wissen möchtest?"
"Geht mich alles nichts an", lächelte David in seine Tasse.
"Frag trotzdem."
Leicht verunsichert kaute er auf seiner Unterlippe. "Wer ist Julian?"