"Hey, du bist ja da!" David war sehr überrascht, Noah während der Mittagspause in dessen Wohnung zu sehen.
"Ja, ich packe. Ich muss kurzfristig weg. Ist aber nur für ein paar Tage."
"Oh. Wo geht's denn hin?"
"Israel. Mal sehen, was da schief läuft."
"Das fragen sich die Vereinten Nationen auch."
Der Brünette lachte herzlich. "Ich meinte, mit dem Sicherheitssystem in dieser Bank."
"Ach so", tat der Rotblonde unschuldig.
"Sag mal", war Noah plötzlich total begeistert, "magst du nicht mitkommen?"
"Was?"
"Ich war da schon mal. Tel Aviv ist eine tolle Stadt! Du würdest großartige Fotos dort machen können!"
"Das geht doch nicht."
"Wieso nicht? Emma hat mich auch schon ein paarmal beigleitet. Abgesehen vom Flug, würde es dich nichts kosten. Das Zimmer ist sowieso von der Firma bezahlt und mein Spesenkonto reicht locker für zwei."
"Ich ... Nein, ich habe gar keine Zeit."
"Weil es so kurzfristig ist? Bekommst du keinen Urlaub?"
"Das ist es nicht!"
"Du siehst aufgeregt aus, Nugget. Was ist los?"
"Ich habe ziemlich gute Neuigkeiten!" Der Rotblonde wedelte mit einem Einschreiben in der Luft, das die Hausmeisterin am Vormittag für ihn angenommen hatte. "Ich darf zurück in meine Wohnung!"
Okay. Das war echt überraschend. Und wo waren die guten Neuigkeiten? Noah schluckte erst mal. "Ja?", bemühte er sich ebenfalls ein wenig Freude zu zeigen. Klappte nicht annähernd so überzeugend, wie beabsichtigt. "Wann denn?"
"Sofort! Anscheinend war der Schaden gar nicht so schlimm. Warum das trotzdem so lange gedauert hat, keine Ahnung. Jedenfalls bist du uns wieder los", lächelte David jetzt auch ein wenig unsicher. Woher kam denn dieser Kloß im Hals?
Dass dieser Tag kommen würde, war Noah von Anfang an klar gewesen. Aber es hätte doch nicht unbedingt schon heute sein müssen! Gut, es wäre auch jeder andere Tag scheiße gewesen. "Das ist ..."
"Ja. Super!" Sollte es eigentlich sein. Kam bestimmt noch, oder? Bis dahin würde es nicht schaden, es sich öfter mal laut zu sagen. Nur für sich selbst. Und nur, bis David es sich glaubte. "Deswegen ... Ich habe ziemlich viel zu tun und es ist besser, wenn ich keine Zeit verliere. War ja fast drei Wochen nicht mehr dort. Außer um schnell Sachen zu holen, oder so. Es riecht auch alles noch ein bisschen nach Rauch, da muss ich ... Weiß noch nicht. Kriege ich schon hin."
"Verstehe. Soll ich Fanni bitten, dir zu helfen?"
"Deine Haushälterin? Nein, wirklich nicht", winkte der Rotblonde entschieden ab. "Das möchte ich nicht."
"Kann ich sonst etwas für dich tun?"
"Alles in Ordnung." Von den Magenschmerzen die sich gerade breit machten, einmal abgesehen. Bestimmt eine Nahrungsmittelunverträglichkeit. Oder so. "Danke, Noah."
"Okay. Dann ... bringe ich euch wenigstens, ja?"
"Musst du nicht. Ich hole meine Sachen nach der Arbeit und dann fahre ich heim. Ist ja nicht so viel."
"Herbert und seine Toilette im Bus?", schmunzelte der Große. "Ein bisschen schwierig, oder? Hör mal, ich bin schon im Flieger, wenn du heute Abend aus der Firma kommst. Ich würde den kleinen Tiger deshalb sofort zurückbringen", überlegte er. "Kannst du dir vorstellen, mir deinen Wohnungsschlüssel zu überlassen?"
"Dir?", lächelte der Goldschmied verhalten. "Weiß nicht."
"Sonst könnte ich Tom anrufen und ihn bitt..." Der Schlüssel baumelte längst an einem silbernen Anhänger vor seinem Gesicht. "Danke." Ein wenig überrascht griff der Mann danach. Das war unerwartet einfach gewesen. "Ich werfe ihn dir nachher in den Briefkasten."
"Leg ihn nur auf den Schrank im Eingang und zieh die Tür hinter dir zu."
"Wie kommst du dann rein?"
"Ich habe immer beide bei mir."
"Auch den Zweitschlüssel?"
"In einer Schublade nützt er keinem, und wer sollte ihn sonst haben?"
Jetzt hatte ihn Noah. Wenn auch nur für heute. Trotzdem gefiel ihm dieser Gedanke gerade ziemlich gut. "Okay, dann ... Bis ..."
"Ja." David machte ein paar Schritte rückwärts hinaus in den Gang. "Bis dann." Er wollte sich freuen, weil er nach Hause durfte. Aber das hier fühlte sich nicht mal ungefähr so an, wie er vor fast drei Wochen noch geglaubt hatte, dass es sein würde. Und es würde wohl nicht besser werden, wenn noch mehr Zeit verginge. Auch deshalb wollte er sofort gehen. Noch heute. "Noah? Danke. Gute Reise."
Der Mann stand am Treppenabsatz. Er nickte lächelnd nach unten und hob leicht eine Hand. Er hatte ihn schon verstanden. Da war David sich ganz sicher.
Am späten Abend machte er sich eine Tasse Kakao und nahm sich ein Buch aus dem Regal. Seit etwa einer Woche war er zurück in seiner kleinen Wohnung. Er hatte sein Leben wieder. Oder sein Leben ihn. Das konnte man sehen, wie man wollte. Es war still und er war alleine. Es war also alles wie immer. David wollte nicht darüber nachdenken, warum ihm genau das auf einmal zu schaffen machte.
Was hätte er Noah noch sagen sollen? Danke für das Gästezimmer? Für deine Zeit und deine Geschichten? Für all die Abendessen, die du für mich gekocht hast? Dafür, dass du immer lieb zu meiner Katze warst? Und zu mir? Das wären ja doch alles nur Worte gewesen.
Der junge Mann wurde von der Türklingel aus seinen Gedanken gerissen. Er zuckte unweigerlich zusammen. Manche Verhaltensweisen legt man vielleicht nie ab. Vorsichtig näherte er sich seiner Tür.
"David? Ich bin es! Ich wo..."
Sehr schnell hatte der Goldschmied aufgeschlossen und geöffnet.
"Tut mir leid, es ist spät", lächelte Noah ihn an. "Ich bin auch schon wieder weg. Aber ich habe noch Licht gesehen und wollte dir den hier unbedingt geben." Er hielt den Schlüssel in seiner Hand, den er aus Versehen eingesteckt und mitgenommen hatte. "Entschuldige."
Das war voll blöd gelaufen und wirklich keine Absicht gewesen. Herbert war aus der Tasche gesprungen, kaum dass sie offen gewesen war. Kurz darauf war eine Nachbarin aufgetaucht und hatte wissen wollen, ob David warmes Wasser hatte. Noah hatte das erst ausprobieren müssen. Und erklären was er überhaupt hier zu suchen hatte. Natürlich ohne dabei die Katze zu erwähnen. Dabei hatte er den Schlüssel automatisch wieder in die Jackentasche gesteckt und war erst mal ins Bad gegangen um den Hahn aufzudrehen. Das Wasser war kalt geblieben, die Frau hatte entsprechend wütend noch an Ort und Stelle die Hausverwaltung angerufen. Noch ein paar Leute waren auf dem Gang dazu gekommen. Nach den Vorkommnissen der letzten Wochen hatte die allgemeine Frustrationsgrenze denkbar niedrig gelegen. Noah hätte den kleinen Tiger so gerne noch gedrückt und sich verabschiedet. Aber der Mann hatte nicht riskieren können, dass Davids illegaler Mitbewohner entdeckt werden könnte, hatte die noch immer telefonierende Dame charmant hinauskomplimentiert, hastig die Tür hinter Herbert zugezogen und sich verabschiedet. Erst an der Sicherheitskontrolle am Flughafen war der Schlüssel mit dem silbernen Anhänger wieder zu Tage gekommen. Wenigstens war es ein guter Grund gewesen, sich noch am selben Abend zu melden.
"Du hättest ihn wirklich nicht sofort bringen müssen. Warst du überhaupt schon daheim?"
"Nein. Ich komme direkt vom Flughafen."
Das hatte David sich schon gedacht. Der Mann vor seiner Tür sah unendlich müde aus. "Komm doch kurz rein. Magst du was trinken?"
Noah lächelte geschafft, aber dankbar. Er schlüpfte im Eingang aus Jacke und Schuhen, wo er sofort von der Katze begrüßt wurde. Sekunden später fand das Tier sich in seinen Armen wieder und bekam einen Kuss ins flauschige Fell gedrückt. "Schön, dich zu sehen", flüsterte der Brünette. "Hast mir gefehlt."
"Du siehst gar nicht gut aus", stellte der Goldschmied vorsichtig fest.
"Fühle ich mich ehrlich gesagt auch nicht. Mir hat vorhin im Gedränge jemand einen Koffer gegen das Knie gerammt. Leider gegen das falsche. Nugget? Ich weiß, wie frech es ist dich das zu fragen. Aber ich muss ein paar Minuten mein Bein ausstrecken, weil es mich sonst umbringt. Und deine Couch ist mir nicht lang genug. Darf ich mich mal kurz auf dein Bett legen?"
So blass wie Noah war, bestand überhaupt kein Zweifel daran, dass er kaum noch stehen konnte.
"Hier, rechts. Brauchst du eine Schmerztablette? Ich kann nachsehen, was ich da habe."
"Was immer du finden würdest, es könnte mir nicht helfen, glaub es mir. Ich habe eine von meinen dabei. Hättest du bitte ein Glas Wasser für mich?"
"Klar. Bringe ich dir."
Als David das Schlafzimmer betrat, lag Noah auf der Decke und hatte beide Hände vor das Gesicht geschlagen. Die Katze hatte es sich an seiner Seite gemütlich gemacht. Sie nutzte ihre einmalige Chance, weil sie sonst nicht mit ins Bett durfte. Er stürzte die Pille mit Wasser hinunter. "Keine Sorge, ich habe nicht vor, hier einzuschlafen. Wenn es mir trotzdem passiert, musst du mich sofort wecken, ja? Gleich, Nugget!"
"Okay?"
"Das ist mein Ernst. Richtig kräftig schütteln, hörst du? Weil ich sonst zwölf bis fünfzehn Stunden durchschlafe. Du hättest vorher keine Chance mehr, mich hier raus zu kriegen."
"Verstanden. Ich hole dir noch ein Glas. Bin gleich wieder da."
Das waren keine drei Minuten gewesen. Aber so am Ende wie Noah war, hatten die locker gereicht. Warum, um alles in der Welt war er nicht sofort heim gefahren? Das wäre doch nicht wichtig gewesen. Seine gleichmäßigen Atemzüge verrieten, wie tief und fest er bereits schlief.
David streckte eine Hand nach seiner Schulter aus, verharrte dann jedoch in der Bewegung. Er überlegte kaum ein paar Sekunden, durchaus wissend, dass er gerade alle Grundsätze über den Haufen warf, die ihm das bisschen Sicherheit garantierten, das er sich so mühsam erkämpft hatte. Lächelnd zog er die Vorhänge zu. Dann griff er nach einer Decke und breitete sie behutsam über den Anderen.
Der junge Mann verschloss in aller Ruhe die Eingangstür und knipste die Lampen in Küche und Wohnzimmer aus. Sehr vorsichtig, um ihn nicht zu stören, legte er sich neben Noah. Und es war ihm diesmal egal, ob der das vielleicht bald merkte. "Du hast mir auch gefehlt", flüsterte David so leise, dass nicht mal die Katze ihn hörte.