Ausgerechnet der! Ein hinterhältiger Goldgräber war das! Auch wenn Xavier zugegebenermaßen sehr gut aussah, Noah hatte was Besseres verdient!
Natürlich hatte David nach seiner Entdeckung vor einigen Tagen nicht mehr geklingelt. Was hätte er auch sagen sollen?! Was zum Teufel sagt man in so einer Situation?! Ein bisschen Smalltalk vielleicht? Ganz locker: Na, gerade Sex gehabt? Schön, dass du schon wieder angezogen bist? Heißer Typ, herzlichen Glückwunsch? Übrigens, ich glaube, er liebt deinen Kontostand mehr als dich?
"Scheiße!", fluchte David. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er fast in eine Straßenbahn gerast wäre. Bei seinem Wahnsinns-Tempo hatte er gerade wirklich Glück gehabt. Buchstäblich auf dem letzten Meter war das Fahrrad zum Stehen gekommen.
Überrascht fixierte der junge Mann eine Person nur wenige Meter entfernt. Er kannte den Kerl, der da mit der Stirn an eine Hauswand gelehnt stand. Und er sah überhaupt nicht gut aus!
"Tom? Stimmt was nicht?"
Der große Blonde drehte sich um. Sein schmerzverzerrtes Gesicht war rot und geschwollen. Schweiß bedeckte seine Haut, die Augen waren mit Tränen gefüllt.
"Oh, was ist mit dir?!" David lehnte das Fahrrad an den nächsten Baum und lief zu ihm.
"Bi... Bin okhhhhhhhay!" Das war ein kaum verständliches Krächzen.
"So siehst du aber nicht aus! Was ist passiert?"
"Chhhhhhhh!" Ganz offensichtlich bekam er keine Luft.
"Tom!"
Weil David es mit der Angst zu tun bekam, ging er noch einen Schritt auf ihn zu. Wieder ein furchtbares Geräusch aus seiner Kehle.
"Ichhhhhh... hhhhhhhhrrrr..."
"Soll ich einen Arzt rufen?"
Tom schüttelte panisch den Kopf. "Nhhhhhein... Ichhhhhh..."
"Ja, was denn?"
Das wurde mit Worten nichts. Der Große packte ihn und drückte ihm einen sehr festen Kuss auf die Lippen, direkt in dem Moment, als Noah um die Ecke kam.
"Echt?", fragte er David gespielt eingeschnappt. "Er?"
Der Goldschmied war von diesem Schmatzer so überrumpelt, dass er unfähig war, auch nur irgendwie darauf zu reagieren. Wie eingefroren starrte er Tom an. Aber nur für einen Augenblick, bis ein Brennen spürbar wurde, das so furchtbar weh tat, dass David sich panisch mit beiden Händen über den Mund wischte.
"Oh mein Gott! Was ist das?!"
"Ghhhhost Chhhhhhilihhh..."
"Er hat einen Ghost-Chili-Burger gegessen", half sein Freund ihm. "Ist eine Challenge. Wer es innerhalb von zehn Minuten schafft, braucht nicht zu bezahlen, bekommt ein Foto an der Wall of Flame und ein T-Shirt mit der Aufschrift: I'm Hot."
"Für - ein - Shirt?!?"
Noah zuckte mit den Schultern. "Er wollte ein Mädchen beeindrucken."
Das durfte ja wohl nicht wahr sein. "Ist das etwa euer Ernst?"
"Warum sollte er sonst versuchen, sich umzubringen."
"Chhhhhh... Ihhhr versthhhhhehhht..."
"Er meint, wir verstehen das nicht", übersetzte Noah.
"Tue ich auch nicht! Bist du verrückt?!"
"Tschhhuldhhhhigunghhhh whhhegenhh dehm ..."
"Kuss des Todes?! Davon rede ich noch gar nicht mal! Du bist echt lebensmüde, dir so was rein zu hauen!" Noch immer hielt David sich fassungslos eine Hand an die Lippen. "Boah. Das darf nicht wahr sein!"
"Geht es dir gut?", lächelte Noah unsicher.
"Ich werde es überleben."
"Okay." Das galt hoffentlich für alles, was der Größere mit seiner Frage gemeint hatte. Vertiefen wollte er sie nicht. Das hier, war zu schön gerade. "Kommst du mit rein? Was trinken?"
"Jahhhhh", freute sich Tom, "Bhhhiehhhr!" Schon war er in dem kleinen Restaurant verschwunden.
Ratlos sah der Goldschmied ihm hinterher. "Gib ihm lieber ein Glas Milch. Das hilft angeblich."
"Ich glaube nicht, dass dem noch zu helfen ist!", grinste Noah übers ganze Gesicht.
Abgesehen davon dass er vermutlich recht hatte, wurde David mit einem Schlag deutlich, wie sehr er es vermisste in seiner Nähe zu sein. Ein furchtbares Gefühl, das hier nicht her gehörte. Das so nicht sein dürfte. "Heute nicht", kam er auf die Frage zurück und schnappte sich sein Rad. War besser so.
"Bitte. Nur kurz."
"Wenn es mir mal leichter ausgeht."
Das ließ Noah nicht gelten. "Dann morgen Abend?" Fast ängstlich griff er nach seinem Arm. "Nach der Arbeit? Domplatz? Ich muss unbedingt ..."
"Ich glaube nicht, dass ich Zeit habe."
"David!" Der Mann meinte es ernst, stellte sich ihm in den Weg. "Nur zehn Minuten. Nur für eine Tasse Punsch, oder so. Sag nicht Nein. Es ist mein Geburtstag. Ich bitte dich."
"Noah, lass mich los."
"Entschuldige." Wie fest er David gehalten hatte, war ihm gar nicht bewusst gewesen. "Wirst du da sein?"
"Mal sehen."
Mehr als Freunde waren sie nie gewesen. Das könnten sie auch weiterhin sein. Nichts hatte sich geändert.
Alles hatte sich geändert.
Noah nicht wiederzusehen, fand David leichter. Spätestens jetzt war er sich sicher.
Er fuhr noch schneller als sonst. Und die Tränen kamen nur von der schneidenden Kälte im Fahrtwind. Er glaubte noch lange, die Hand des Anderen warm auf seinem Arm zu spüren.
Tom hatte am nächsten Abend vor dem Hintereingang der Firma gewartet. Er meinte, weil er sowieso in der Nähe gewesen war, hatte er gedacht, sie beide könnten auch zusammen das kurze Stück gehen. Es war immerhin der Geburtstag eines Freundes, da wäre es selbstverständlich, sich blicken zu lassen. Das gehörte sich ja wohl. Besonders, wenn man eingeladen wurde. David würde das sicher genauso sehen. Da war was dran. Abgesehen davon war Widerstand wahrscheinlich sowieso zwecklos.
"Bin nur deshalb noch in der Stadt. Habe bei Noah übernachtet."
"Hattest du nicht etwas anderes vor?"
"Na ja. Schlafen wollte ich schon", meinte Tom äußerst nachdenklich. "Aber halt woanders. Und auf einer Frau. Hat irgendwie nicht funktioniert."
"Dann wärst du ganz umsonst fast drauf gegangen?", schmunzelte David. "Oh, nein!", kam ihm plötzlich ein Geistesblitz. "Hast du sie etwa auch geküsst?!"
"Ach, Kleiner. Du bist doch der Einzige für mich", seufzte der Blonde mit einem gekonnten Augenaufschlag. "Nein, so weit bin ich gar nicht gekommen. Kaum waren wir bei ihr, musste ich nämlich zum ersten Mal auf's Klo. Ich glaube, meine Schmerzensschreie haben sie abgeturnt." Er nickte ernst und ließ dabei seinen Blick sehr konzentriert durch die Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt schweifen. "Dieser verdammte Burger kam direkt aus der Hölle, das sag ich dir. Brannte drei Mal, das Ding!" Grinsend packte er den Kleineren und zog ihn in Richtung eines der Holzhäuschen.
Erst als sie fast da waren merkte David, dass er beinahe alle der Leute kannte, die da in einer großen Gruppe zusammen standen. Er wurde auch sofort freudig begrüßt, bekam umgehend eine Tasse heißen Punsch in die Hände gedrückt und schaffte es erst mal gar nicht bis zu Noah, der ihn anlächelte, als wäre ihm gerade ein Felsbrocken vom Herzen gefallen. Das Getränk war eine gute Idee, bei dieser ungewöhnlichen Kälte. Und vor allem etwas zum daran Festhalten.
"Nugget." Noah hatte eine Hand auf die Schulter des Kleineren gelegt. Er sprach leise. "Auf ein Wort?"
"Herzlichen Glückwunsch", bemühte sich David fröhlich zu klingen. Er hoffte, in der allgemein ausgezeichneten Stimmung würde es sich selbstsicher anhören. "Ich habe gar kein Geschenk für dich."
"Wir auch nicht!", kicherten die Mädels neben ihm. "Er sagt immer, er braucht nichts!"
"Dass ihr hier seid, reicht mir vollkommen."
"Gibt's ja nicht! Wünsch dir mal was!"
Der Größere wirkte nervös, wie er da stand. Unsicher. Ganz und gar untypisch. "Lass uns ..." Sein Handy klingelte, er schloss kurz die Augen, sah dann aber doch nach. "Das ist meine Mama. Ich bin gleich wieder da."
Noah telefonierte ein wenig abseits und David überlegte, wie er sich möglichst schnell verabschieden könnte, ohne unhöflich zu wirken. Er stellte die Tasse auf einem der Stehtische ab, um nichts zu verschütten. Seine Hände zitterten. Es hatte mit der niedrigeren Temperatur nicht mal viel zu tun. Aber den Frauen um ihn herum fiel es auf.
"Hey, Noah! Dein Schatz erfriert hier gleich!", fühlte eine von ihnen sich genötigt, ihn zu informieren.
Sehr witzig. Die verwechselte da was. Warum war von Schatz eigentlich nichts zu sehen? Wo war denn der?
"Ist das so?", fragte Noah. "Das geht nicht." Er nahm seinen Schal ab, legte ihn sacht um David, zog ihn an sich und schloss beide Arme um ihn.
Da setzten mal kurz alle gängigen Naturgesetze aus. Alles wurde still und warm. Außer ihnen beiden gab es niemanden mehr. Nirgendwo.
Keiner der Anwesenden schien diesen Anblick seltsam zu finden. Keiner außer David, kaum dass er wieder klar denken konnte. Alle anderen unterhielten sich angeregt weiter. Lachten und feierten als wäre nichts. Hier lief gerade etwas gewaltig schief! Er versuchte sich zu befreien, einen Schritt weg zu machen. Funktionierte nicht. Noah hielt ihn fester, beugte sich hinunter und flüsterte, "Geh nicht. Du fehlst mir so."
So was muss man erst mal aushalten! Was sollte denn das? Hätte er ihn nicht doch noch losgelassen, David wäre daran zugrunde gegangen, da war er sicher. Er merkte erst dass Noah hinter ihm her lief, als der ihn in der Getreidegasse einholte, ihn packte und zur Seite zog, damit sie nicht mehr in Gefahr waren angerempelt zu werden.
"Okay", meinte der Größere. Seine Stimme bebte hörbar. "Nugget, hör mir zu."
"Lass mich nach Hause, ja?"
"Zehn Sekunden", flüsterte Noah.
"Bitte was?"
"Ich wünsche mir zehn Sekunden", schluckte er. "Mehr will ich nicht. Schenkst du sie mir? Du ... du müsstest aber einverstanden sein, sie zu vergessen."
"Warum soll ich mich an die nicht mehr erinnern?"
"Weil wir sonst vielleicht keine Freunde mehr sind, sobald die Zeit um ist. Versprichst du es?"
Weil sein Gegenüber nicht annähernd aussah als wäre das für ihn ein Witz, zuckte David mit den Schultern und nickte.
Eins.
Im nächsten Augenblick vergaß er zu atmen, Noahs Lippen streiften die seinen. Zwei. Gerade so viel, dass es von einem Windhauch zu unterscheiden war. David wich zurück, nur weit genug um ihm in die Augen zu sehen. Drei. Nein, das war kein Scherz. Gar nicht! Vier. Noah legte sanft eine Hand an die Wange des Kleineren, der konnte nicht mal mehr blinzeln. Fünf. Die zweite Hand des Größeren strich durch die rotblonden Haare nach hinten, streifte den Nacken, leicht warm, zärtlich. Sechs. Blieb zwischen den Schulterblättern liegen und zog David in eine feste Umarmung. Und einen Kuss. Sieben. Der fühlte sich nicht mehr an, als könnte er ein Versehen sein. Nie und nimmer. Acht. Er war nicht stürmisch oder fordernd. Nur voller Sehnsucht. Unendlich liebevoll. So sehr, dass David bewusst oder unbewusst ganz leise seufzte, als der Andere ihn löste. Neun.
"Ich liebe dich, Nugget."
Zehn.