"Halt! Bitte! Was machen Sie da?" Aufgeregt sprang David am Mittwochabend vom Rad. Der junge Mann lehnte es notdürftig an die Wand, es fiel sofort um. Er nahm sich nicht die Zeit, sich darum zu kümmern.
Zuerst hatte ihn der Container auf dem Parkplatz nicht gestört. Bei so vielen Wohnungen war es nicht ungewöhnlich, dass andauernd ein- und umgezogen oder entrümpelt wurde. Aber dann! Das alte Sofa, die Fleckerlteppiche, die Stehlampe! Es waren Annelieses Sachen, die hochkant in den Müll flogen.
"Nix wissen, nur machen Arbeit", meinte einer der Männer knapp und drückte sich mit einem Hängeschränkchen aus dem Badezimmer vorbei. So wie es schepperte, hatten sie sich nicht einmal die Mühe gemacht, es vorher auszuräumen.
"Wir haben einen Auftrag", erklärte ein anderer. Jung, groß, freundlich. David beruhigte das nicht.
"Aber, von wem denn?"
Der Bursche kramte ein Papier aus einer Tasche. "Von ... der Mieterin. Beziehungsweise ihrem Sachwalter. Keine Sorge, alle Wertgegenstände wurden bereits abgeholt. Wir machen das nicht zum ersten mal", setzte er hinzu und schenkte David dabei ein mitleidiges Lächeln. "Es ist immer ein bisschen traurig, wenn man am Ende sieht, was von einem Leben übrig bleibt, nicht wahr?"
Der Goldschmied nickte. Er sagte nichts dazu. Was denn auch? Er hob sein Fahrrad auf, stellte es ordentlich vor dem Haus ab und brachte das Schloss an. Dann ging er langsam die Treppe nach oben in den ersten Stock und sperrte die Tür auf.
Das war doppelt verstörend, da unten. Sie beseitigten alle Spuren, obwohl Anneliese noch nicht mal tot war. Nicht, dass es das besser gemacht hätte. Es wäre nur eher nachvollziehbar gewesen. Wenn jemand nicht mehr lebte, war es nicht ungewöhnlich dass irgendwann alles verschwand, oder? So war das eben. Was sollte auch bleiben, außer einer Hand voll CDs von den Beatles, seine Mutter hatte sie gemocht, er nicht so, und den paar Erinnerungsfetzen in den Gedanken der Menschen die einen geliebt hatten.
Immer vorausgesetzt natürlich, dass man Glück hatte und es solche gab. Wenn es nun David selbst treffen würde, wer ...
Let it be.
Sofort kam die Katze neugierig auf ihn zu, er bückte sich, nahm sie wortlos auf den Arm, drückte dem kleinen Tier einen Kuss ins Fell und setzte sich mit ihm auf die Couch im Wohnzimmer. Das dumpfe Geräusch zerbrechender Möbel war in unregelmäßigen Abständen von draußen zu hören.
David schaute sich um. Unweigerlich kam ihm die Frage in den Sinn, ob das alles was ihn hier umgab, was er so gerne und mit so viel Hingabe über Jahre ausgesucht hatte, wohl in einem einzigen Müllcontainer Platz hätte. Vermutlich schon.
Ob das überhaupt jemand interessieren würde wenn er morgen nicht mehr da wäre? Vermutlich nicht.
Schnurrend drückte der kleine Tiger sein Köpfchen gegen den Brustkorb des jungen Mannes.
Menschen ohne funktionierendes Soziales Umfeld wären weniger glücklich, hatte Noah letzten Sonntag gesagt. War das so? Was war dann mit ihm, David? Hatte er sich diese Frage je gestellt? Nein, das hatte er nicht. Warum? Weil er Angst vor der Antwort hatte.
Let it be, let it be.
Es war ihm nicht darum gegangen Freunde zu finden, nachdem er hier angekommen war. Er hatte einfach nur weit genug weg gewollt. Gerne noch weiter, aber hier hatte man ihm einen Job angeboten. Der war weniger Ausdruck von Selbstverwirklichung, als eine absolute wirtschaftliche Notwendigkeit. Von irgendwas musste er schließlich leben und dadurch konnte er es. Aber sonst? Da war nichts.
Da war auch vorher nie viel gewesen, auch das schon wieder eine unbequeme Wahrheit, eine über die er lieber nicht nachdenken wollte.
Seine Kindheit war nicht großartig tragisch gewesen. Es hätte schlimmer sein können, da war er sich ganz sicher. Das wurde es dann eh später, aber zuhause war das ganz okay gewesen. Da wurde nur hemmungslos zugeschlagen, aber ihm war nie jemand an die Wäsche gegangen, alles klar?
Auch das mit den Schlägen hatte erst so richtig angefangen, als die Mutter nicht mehr da gewesen war. Aber er war noch da gewesen, David, zwölf Jahre alt, er hatte doch nichts dafür gekonnt ... und der Vater ... kein schlechter Mensch, überfordert halt. Er hätte einfach neu anfangen können, wenn es nur den Sohn nicht gegeben hätte, der so wenig den Erwartungen des Alten entsprochen hatte, aber na ja. Drei Jahre später hatte der Mann es dann eh getan, hatte ihn vor die Tür gesetzt, natürlich erst mitten in der Nacht, mussten ja die Nachbarn nicht sehen, nicht wahr? Und vor allem nicht hören. Es reichte, wenn der Junge es kapierte, wie sehr man sich schämen musste. Für so einen wie ihn.
Speaking words of wisdom, "let it be"
Der alte Herr hatte sicher recht gehabt.
Vielleicht war es auch damals bereits nicht aufgefallen, dass David von einem Tag auf den anderen nicht mehr da gewesen war. In diesem Dörfchen, mit den hübschen Häuschen und den gepflegten Gärten. Möglicherweise gab es dort mehr solcher makelloser Fassaden, hinter denen in Wirklichkeit zu viel getrunken und geraucht wurde. Wo sich keiner um den anderen scherte, hinter denen die Kinder jeden Abend weinten, weil sie Angst vor dem Alleinsein hatten. Wer wusste das schon? Da tanzte keiner aus der Reihe. Nie. Was hätten die Nachbarn gesagt? All diese Leute gingen die ganze Woche brav zur Arbeit, am Sonntag in die Kirche, fuhren im Urlaub nach Tirol oder höchstens nach Kroatien auf einen Campingplatz und glaubten fest an die Lottofee, diese Schlampe, die doch nie kam. Eine Idylle, die der stille Teenager gestört hatte.
Er hatte dann bei der Tante gewohnt. Die hatte viel arbeiten müssen, die Oma war schon ein Pflegefall gewesen und dann hatte David der Schwester seiner Mutter auch noch auf der Tasche gelegen.
Das Zeugnis war gut gewesen. Er wollte keinem zur Last fallen, sein eigenes Geld verdienen. Der junge Mann begann seine Ausbildung so früh wie möglich, zog in ein kleines Zimmer über einer Pension und später in seine erste eigene Wohnung.
Er arbeitete, schlief, aß, las. Er verliebte sich für immer, jedesmal, und dann machte er Schluss für immer. Jedesmal. Nie wollte er einen von ihnen wiedersehen und tat es auch nicht.
Auch den Vater wollte er nicht wiedersehen. Der ihn auch nicht, darum war es kein Problem. Das ging alles.
Bis zu dem Tag, an dem dieses bisschen Leben aus dem Ruder gelaufen, David abgehauen war, und das Weite gesucht hatte. Bestimmt hatte das wieder kaum einer gemerkt. Oder gar keiner. Abgesehen von denen, vor denen er geflohen war natürlich. Die hätten ihn nie gefunden, wenn er nicht selbst dafür gesorgt hätte.
Er stand auf, mitsamt dem Großteil seines sozialen Umfelds im Arm, das er liebevoll zwischen den Ohren kraulte.
And when the night is cloudy,
there is still a light that shines on me.
Shine on 'til tomorrow,
let it be.
Es schnurrte genüsslich, sein kleines, flauschiges, heimatloses Lichtlein. Das war doch gar nicht so übel, alles. Jetzt. Hier. Für einen wie ihn. Bewölkt, aber mit Aussicht auf ... ja, was eigentlich? Wie formulierte man einen Wunsch, wenn man sich nicht mal erlaubte, darüber nachzudenken?
Das Handy lag mal wieder neben der Obstschale. Der Klingelton und die Anzeige auf dem Display rissen ihn aus seinen Gedanken: Noah! Der Rotblonde biss sich nervös in die Unterlippe. Nachdenken! Oder einfach mal nicht? Let it be?
"Hallo?"
"David, ich bin's. Ich habe ein Programm für dich. Ich bin ohnehin gerade in der Nähe und werfe dir gleich einen Stick in deinen Briefkasten, ja?"
"Okay?"
"Brauchst du Hilfe um es zu installieren? Dann müsstest du mir irgendwann kurz deinen Laptop überlassen."
"Nein, das kann ich", meinte der Rotblonde leise. Erneut krachte es unten. Das war einmal eine Kommode gewesen. In Eiche-rustikal. Aber trotzdem.
"Gut, dann sehen wir uns am Samstag?"
"Ja." Und ein Küchenschrank gleich hinterher. "Noah?"
"Ja?"
In der einen Hand hielt David das Telefon, in der anderen den Stubentiger. Beides etwas zu fest umklammert. "Vielleicht ... könntest du doch ... ich meine, nur wenn du Zeit hast und es dir nichts ausmacht. Ich kann es sonst schon selbst, aber nicht so gut und das dauert meistens lange und ..."
"Mach ich gerne. Musst mir nur sagen, wann es dir passt."
"Ich ... bin eh zuhause. Komm ... einfach rauf."
"..."
"Noah? Bist du noch da?"
"Ja! Ich meine ... ja."
"Okay, dann ..."
"Bis gleich!"
There will be an answer.
Let it be.