Friedlich schlummerte Luisa auf Davids Brust. Auch durch seine Unterhaltung mit Tom und Noah war das Baby nicht aus der Ruhe zu bringen.
Gesellschaft lenkte ab. Wenn der junge Mann alleine war, überschlugen sich seine Gedanken im Sekundentakt.
Sein leiblicher Vater wollte ihn kennenlernen! Warum? Es gab viele Möglichkeiten. An etwas Gutes zu glauben, auch wenn David es von Herzen gerne getan hätte, erlaubte er sich nicht.
Hatte Max Angst, sein Sohn würde noch mehr von ihm wollen? Dass er versuchen könnte, irgendwelche an den Haaren herbeigezogenen Ansprüche geltend zu machen um an Geld zu kommen? Oder gar vor hätte, sich in seine Familie zu drängen? So etwas musste es sein. Bestimmt würde Maximilian klarstellen wollen, dass nichts weiter von ihm zu erwarten war.
David war fest entschlossen, der Realität offen ins Auge zu blicken. Das Leben hatte ihn schon recht früh gelehrt, dass die Enttäuschung am Ende dann nicht so groß war.
Das winzige Mädchen zog unter der Decke die Beinchen an, als ein Unbekannter vorsichtig ins Zimmer trat. Der hatte sich sicher in der Tür geirrt. Das warme Gefühl dieses Kind zu spüren, atmen zu hören, seinen Duft in der Nase zu haben, war in diesem Moment so viel interessanter. Aber als Noah sofort aufstand, den Fremden freundschaftlich umarmte und ihn beim Vornamen ansprach, wusste David wer da gerade zu ihm gekommen war. Nur glauben konnte er es nicht und darauf vorbereitet war er schon gar nicht. Na gut. Er wäre es auch in zehn Jahren nicht gewesen, aber trotzdem! Es waren noch keine vierundzwanzig Stunden vergangen, seit er überhaupt erst erfahren hatte, dass Max mit ihm reden wollte. Er verlor offenbar keine Zeit.
Angespannt blieb der ältere Mann stehen, während Tom sich aus seinem Sessel hochstemmte.
Noah beugte sich zu David hinunter und flüsterte, "Wir lassen euch alleine."
Überraschung, Unglauben, Panik! "Geh nicht!"
"Vertrau mir." Ein Hauch von einem Kuss.
Das sagte sich so leicht. Die beiden verschwanden und David hatte nichts mehr außer Luisa, woran er sich festhalten konnte.
David traute sich kaum zu atmen. Er war zu überrumpelt und zu aufgeregt, um einen Anfang zu finden. Der Mann am Fußende seines Bettes sah auch aus, als würde er noch nach den richtigen Worten suchen, die er beim besten Willen nicht fand. Weil es sie vielleicht auch gar nicht gab.
Schließlich seufzte er resignierend, ließ die Schultern hängen und schüttelte mutlos den Kopf. "Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Ich habe nicht gewusst, dass es dich gibt."
Nicht was Max gesagt hatte, sondern wie er es gesagt hatte, so voller aufrichtigem Bedauern, verschlug David endgültig die Sprache.
Der Ältere ließ sich auf einen der Sessel fallen und wischte sich mit den Händen über sein Gesicht.
"Wie geht es dir, David? Bist du glücklich?"
"Ja, ich ..." Der junge Mann musste unwillkürlich lächeln. "Ja. Das bin ich." Zusammen hatte ihm diese beiden Fragen noch nie jemand gestellt. Aber sie hörten sich sofort richtig und logisch an.
"Das freut mich." Offenbar rang Max noch immer mit sich und dem was er sagen wollte. "Du siehst aus, wie deine Mutter", meinte er schließlich. "Sie hatte auch so strahlend grüne Augen."
Eine gewisse Ähnlichkeit war nie zu leugnen gewesen. Trotzdem wusste David nicht, was er darauf hätte antworten sollen.
"Hör mal, Junge", schluckte der Ältere. "Wir sind beide erwachsen. Ich würde dir gerne etwas von einer großen, romantischen Liebesgeschichte erzählen, aber so war das nicht." In der Stimme schlug sich deutlich Unsicherheit nieder. Er räusperte sich. "Sie war ein hübsches Mädchen und ich ein Volltrottel. Sie wollte heiraten und eine Familie gründen, ich noch was von der Welt sehen. Das ging nicht zusammen." Er biss sich nervös auf die Unterlippe. Etwas, das David von sich selbst kannte. Er fragte sich unweigerlich, was sie vielleicht noch gemeinsam haben könnten. "Von dir habe ich wirklich nichts gewusst. Das tut mir leid. Ich bin nie für dich da gewesen."
Der junge Mann sah das ganz anders. "Als es darauf ankam, schon. Dafür bin ich unendlich dankbar. Ich werde es nie vergessen."
"Ach, das. Nicht der Rede wert", winkte Max ab. "Hätte ich für jeden getan. Aber das meine ich gar nicht." Nur kurz streiften die Finger des Älteren die Hand seines Sohnes. "Ich wäre gerne dein Vater gewesen."
Niemand hätte beschreiben können, was diese Worte, die zu hören er sich sein Leben lang ersehnt hatte, mit Davids Herz machten. Und nun waren sie von jemandem gekommen, der ihn nicht mal kannte.
Oder deswegen.
"Da ist was, das ich vielleicht lieber gleich sagen soll", kämpfte er mit den Tränen. "Noah, also Noah und ich ..."
"Ist echt in Ordnung, der Bursche. Hättest leicht einen schlechteren erwischen können."
Davids erstaunter Blick musste Bände sprechen.
"Na, wen du gern hast, kannst du nur selbst wissen. Da hätte ich mich nie eingemischt. Aber diese andere Sache da ..." Überaus kritisch und deutlich missbilligend schüttelte Max den Kopf. "Dass du kein Fleisch isst! Also da hätte ich dich längst auf die Seite genommen und ein ernstes, ein sehr ernstes Wort mit dir geredet!"
David hatte ja mit ziemlich allem gerechnet. Aber damit nicht. Er musste lachen. Max auch und das tat gut. Es fühlte sich erleichternd und befreiend an.
Der Mann wusste anscheinend schon ziemlich viel über ihn. Was er bisher erfahren hatte, störte ihn offenbar nicht.
Ein Klopfen unterbrach die beiden. "Kann ich schon rein kommen?"
Der Ältere streckte die Hand nach einer kleinen Brünetten aus. "Das ist Astrid. Meine Frau."
"Hallo." In ihrem freundlichen Gesicht war nichts Feindseliges.
"Oh, wen hast du denn da?" Das Baby, das sie gerade entdeckt hatte, entzückte sie über alle Maßen. "Ihr habt ja sogar die gleichen Mützen!"
"Emma macht sich einen Sport daraus, die zu finden", meinte Noah, der hinter ihr, dicht gefolgt von Tom, wieder ins Zimmer getreten war. "Alles im grünen Bereich?"
"Sie war sehr brav", versicherte David ihm schmunzelnd. "Alles gut." Letzteres hatte mit Luisa nichts zu tun. Sein Schatz verstand ihn und zwinkerte glücklich.
"Die beiden sehen auch aus, als hätten sie alles im Griff", nickte Astrid.
"Ja, na ja." Der junge Mann strich sacht über den flauschigen Strampler der Kleinen." Wir haben ungefähr den gleichen Tagesausablauf. Essen und schlafen. Darum verstehen wir uns recht gut."
"Das wird schon wieder." Aufmerksam sah sie ihn an. "Finde ich schön, dass wir uns kennenlernen."
Jetzt war es wohl so weit. David hielt es für das Beste, Max und seiner Frau zuvor zu kommen. "Ich kann mir denken, dass ich ... ein Problem bin, ich meine ... Ich will ganz sicher niemandem was nehmen. Es war mir nur so wichtig, Danke sagen zu dürfen. Das ist wirklich alles."
Das Ehepaar tauschte einen ratlosen Blick.
"Was denn für ein Problem?", fragte Max. "Für wen denn?"
Astrid ging ein Licht auf. "Du hast tatsächlich ein paar Tage in ordentlichen Schwierigkeiten gesteckt, mein Lieber!", ließ sie ihren Mann wissen. "Ich dachte erst, du hättest eine Affäre."
"Wer, ich?"
"Auf einmal hattest du keinen Appetit mehr, bist zum Telefonieren nach draußen gegangen und warst mit den Gedanken ganz wo anders. Es hätte mir gleich unrealistisch vorkommen müssen. Für eine heimliche Geliebte bist du viel zu faul", neckte sie ihn.
"Hey!" Kurz war er gekränkt. "Gut, du hast recht. Wäre mir zu anstrengend. Was man da alles durchmacht um nicht aufzufliegen!"
"Kein Vergleich dazu, was man durchmacht wenn man trotzdem aufliegt!", stellte sie nachdrücklich klar.
"Ach, das ist gar nicht so kompliziert", erklärte Tom. "Man braucht mehrere Handys. Basisausstattung. Logisch. Und dann muss man einige Grundregeln beachten. Erstens, Frauen reden. Finger weg von besten Freundinnen! Von Schwestern sowieso, weil ... "
"Mal schön langsam, Casanova", bremste Astrid den breit grinsenden Blonden in seinem Informationsfluss. "David", wandte sie sich wieder ihm zu, "der ist kein guter Umgang für dich." Ihr belustigtes Gesicht strafte die Feststellung allerdings Lügen. "Und ja, von dir zu erfahren, hat mich kalt erwischt. Aber ehrlich nur kurz. Als du geboren wurdest, war ich zwölf Jahre alt. Soll ich ihm eine Szene machen, weil er mit einer Frau die nicht mehr lebt, einen Sohn hat, von dessen Existenz er nichts ahnte?"
Das war sehr direkt. Aber so wie sie es ausgedrückt hatte, klang das tatsächlich paranoid.
"Du hast übrigens zwei Halbgeschwister. Deine Schwester ist sieben, dein Bruder fünf Jahre alt."
"Wir haben ihnen noch nichts von dir erzählt", fügte Max zögernd hinzu. "Weil wir nicht wissen, ob du ihnen überhaupt begegnen möchtest. Wir können uns damit abfinden, wenn du sagst, du willst uns nicht in deinem Leben. Aber sie würden es nicht verstehen."
"Doch, ich habe Kinder gern!", platzte es aus David heraus. Er griff nach Noahs Hand. Max und Astrid waren richtig nett. Es wäre schön sie öfter zu sehen und mehr über die Familie zu erfahren.
"Wie habt ihr euch kennengelernt?", fragte Noah.
"Bei der Arbeit", lächelte Max seine Frau an. "Ich habe eine kleine Baufirma, spezialisiert auf Außenanlagen. Hangbefestigungen, Pflaster, Wege. So was. Astrid ist Gärtnerin. Sie und Ihre Kollegen haben auf dem gleichen Grundstück gearbeitet. Dem Eigentümer ging alles zu langsam. Nur am Meckern. Ich hätte nichts gesagt. Ich denke mir immer, diese Leute sind mit ihrer Persönlichkeit eh schon gestraft genug. Aber als der uns alle zum dritten Mal angepflaumt hat, hat Astrid ihn so was von zusammengefaltet, dass ihm Hören und Sehen vergangen ist. Da war ich mir sicher, die Frau will ich heiraten. Und wie war's bei euch?"
"Ganz ähnlich", freute Noah sich. "Auch bei der Arbeit. Und David hat auch wen zusammengefaltet!"
"Ja? Wen denn?", war Astrid total gespannt, während Noah bei der Erinnerung daran verzweifelt versuchte, nicht zu lachen. Es gelang ihm nicht.
"Mich!"
David zog seinen Schatz für einen Kuss zu sich, den er nur zu gerne bekam. Das war damals ein ganz anderes Leben gewesen. Heute war er glücklich.