Als erstes, nachdem er die Augen aufgeschlagen hatte, checkte David das Handy. Er wusste selbst nicht, warum er das tat. Und erst recht nicht, warum er enttäuscht war, weil keine neue Nachricht zu sehen war. Dieses Gefühl schob er schnell beiseite.
Er stand ungewöhnlich spät auf. Hauptsächlich einfach so, aber auch, weil ihm der ein oder andere Knochen ein bisschen weh tat. Außerdem spürte er Muskeln, von denen er bisher keine Ahnung gehabt hatte, dass es sie überhaupt gab. Und das, obwohl er aus dem Training inzwischen einiges gewohnt war. Alles halb so wild, nur seine Hände sahen aus wie ein Fall für die Notaufnahme.
Und sein Frühstück, wie einer für Amnesty International.
Ein höchst zufriedenes Lächeln breitete sich auf Davids Gesicht aus, als er den gedeckten Tisch in seiner Küche überblickte. Vor dem jungen Mann stand eine Tasse Kakao, Schoko-Knuspermüsli, Marmorkuchen, Brotaufstrich und ein großer Becher Sahnepudding, der laut Herstellerangaben zum überwiegenden Teil aus E-Nummern bestand. Es gab hier nicht ein gesundes Lebensmittel. Obwohl man gegen Nutella nichts sagen konnte. Nicht, wenn man es auf Vollkornbrot schmierte. Es war zwar keines da, aber wenn welches da gewesen wäre, wäre das sicher okay gewesen. Fast sicher. Na gut, vielleicht. Nein, eher nicht.
Kurz dachte er darüber nach, sich einen Apfel auf den Teller zu legen. Rein optisch wäre das eine enorme Bereicherung. Aber David hätte ihn sowieso nicht gegessen. Nicht heute. Müsli klang doch auch extrem gesundheitsbewusst!
Martinshörner waren keine ungewöhnlichen Geräusche in dieser Stadt. Nur die Lautstärke, die sich sogar noch steigerte, riss den jungen Mann unsanft aus seinen Gedanken. Ein Rettungswagen bog mit Blaulicht in die Einfahrt, der Notarzt folgte unmittelbar dahinter. So was war nie gut. Die beiden Fahrzeuge hielten unter Davids Küchenfenster und dann liefen eine Menge Menschen in das Nebenhaus.
Na, bitte! Die waren also nicht hier, um ihn vor einer Überdosis Zucker zu retten! Ein ungutes Gefühl blieb trotzdem. Es wurde ungleich schlimmer, als es kurze Zeit später an der Tür klingelte.
Was für ein strahlend schöner Tag! Noah hatte so gut geschlafen, wie schon lange nicht mehr. Er liebte es, seine Freunde um sich zu haben, sie sahen sich zu selten. Dieses Resort war außerdem ziemlich beeindruckend, und er freute sich auf das Fest.
Was Frühstücksbuffets betraf, hatte der Mann inzwischen eine Menge gesehen, weil er sich berufsbedingt oft in Hotels aufhielt. Aber das hier war schwer zu toppen. Sicher zwanzig verschiedene Sorten Brot und Gebäck, unzählige Aufstriche, von Marmelade bis Gänseleber sowie eine kaum überschaubare Anzahl von Fleisch- Wurst- und Käsesorten, bildeten den Anfang dieser Tafel. Gewaltige Körbe quollen über von Obst, zum Teil waren es Früchte, die Noah noch nie gesehen hatte. Kuchen und Torten aller Art standen ebenso bereit wie eine unfassbare Auswahl an Cerealien und Milchprodukten. Vier Köche waren zudem damit beschäftigt, diverse Köstlichkeiten, wie Ham and Eggs oder fluffige Pancakes zuzubereiten. Allein vom Hinsehen bekam man Appetit.
Noah nahm sich eine Tasse schwarzen Kaffee ohne Zucker, eine Scheibe Vollkornbrot mit einem Klecks Frischkäse und einen knackigen, roten Apfel. Ja, der Mann war glücklich, alles war perfekt, es gab überhaupt keine Probleme!
Fast hätte er seinen Teller fallen lassen, als Emma völlig außer Atem auf ihn zustürmte. "Noah! Du musst sofort kommen! Ein Problem!"
"Hi. Sind Sie David?"
"Ja?" Der Rotblonde sah sich einem jungen Mann in einer Rotkreuz-Jacke gegenüber, der sehr erleichtert wirkte ihn gefunden zu haben.
"Ähm ... also es ist so, Frau ... wie heißt sie jetzt noch gleich? Von nebenan? Ich habe so ein beschi... so ein schlechtes Namensgedächtnis", entschuldigte der Zivildiener sich mit einem Schulterzucken. "Wir müssen sie mitnehmen, aber sie weigert sich. Der Doc lässt fragen, ob Sie mal kurz rüber kommen könnten?" Erwartungsvoll schob er einen Kaugummi von der einen Wange zur anderen.
"Ich? Aber wieso denn?"
"Betagte Menschen sind oft ein bisschen stur. Das erleben wir häufig. Da ist es immer leichter ist, wenn denen eine vertraute Person klar macht, was los ist."
Alt? Dann konnte es sich nur um Anneliese handeln. Sonst kannte er auch keinen aus dem Nebenhaus. Aber wieso klang das, als würde David sie gut kennen? Er hatte sich ein paarmal neben die Frau auf die Bank vor dem Haus gesetzt. Die ehemalige Lehrerin war auch immer alleine gewesen. Und der junge Mann hatte gelegentlich eine Kleinigkeit für sie eingekauft oder hatte mal einen Umweg zur Apotheke gemacht, damit sie nicht extra hatte aus dem Haus gehen müssen. Das war aber auch schon alles.
"Was ist mit ihr?", fragte der Rotblonde vorsichtig.
"Gebrochene Hüfte. Ist wohl schon gestern Vormittag passiert. Gut, dass der mobile Pflegedienst sie gefunden hat. Weil, in dem Alter ..."
"Ja." Irritiert griff David nach seinem Schlüssel, trat auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu. Gestern Vormittag? Dann hatte Anneliese fast einen Tag und eine ganze Nacht hilflos in ihrer Wohnung gelegen. Und David hatte sich währenddessen selbst leid getan, weil seine Fingerknöchel ein wenig lädiert aussahen. Dafür schämte er sich gerade ganz gewaltig.
Die alte Frau sah erschreckend schlecht aus, als David in ihrer Wohnung ankam und er fühlte sich ganz schön hilflos. Er wusste gar nicht, was er Anneliese sagen sollte. Sie griff verzweifelt nach seiner Hand, sprechen konnte sie nicht. Mehr als ein unverständliches Flüstern brachte sie nicht mehr zustande.
"Sie sind David, nehme ich an?" Der Notarzt war sympathisch, wirkte ruhig und abgeklärt.
"Ja?"
"Sie weigert sich ins Krankenhaus zu fahren, weil niemand sich um Herbert kümmern kann. Sie will nicht, dass er ins Heim kommt. Wissen Sie, wer das ist? Wir haben keine weitere Person im Haushalt angetroffen."
"Ihre Katze", fiel ihm ein. Sie hatte oft von Herbert gesprochen, außer dem sie niemanden zu haben schien.
"Wären Sie so nett?"
"Was, ich?"
"Kommen Sie mal her", flüsterte der Mediziner. "Wir müssen die Frau ins Krankenhaus bringen. Jetzt. Aber sie ist vollkommen aufgelöst, das geht so nicht. Ich bitte Sie sehr, nehmen Sie ihr diese Sorge und dann machen Sie was Sie für angemessen halten, ja?"
Das tat David dann auch. Weil es ihm richtig vorkam. Er versprach, sich gut um die Katze zu kümmern und versicherte Anneliese nachdrücklich, dass Herbert auf keinen Fall ins Tierheim käme. Die Frau atmete erleichtert tief durch und schlief ein.
Die Sanitäter packten zusammen und brachten sie hinaus zum Rettungswagen. Der Arzt verabschiedete sich mit einem festen Händedruck.
"Was werden Sie jetzt tun?", fragte er lächelnd.
"Was ich versprochen habe."
"Meiner persönlichen Einschätzung nach wird es, wenn es überhaupt noch dazu kommt, Monate dauern bis die Dame in diese Wohnung zurückkehren kann. Könnte also gut sein, dass Sie ab heute einen dauerhaften Mitbewohner haben!" Er wirkte beinahe vergnügt. "Sie haben uns sehr geholfen. Viel Glück."
Und dann stand David plötzlich alleine in der fremden Wohnung. Er hatte jetzt zwar einen Schlüssel mehr, aber dafür überhaupt keinen Plan. Unsicher sah der junge Mann sich um. Einen Stubentiger konnte er nirgendwo entdecken. Obwohl es eindeutige Hinweise auf seine Existenz gab. Ein Katzenklo im Badezimmer zum Beispiel. Oder die beiden Schüsselchen auf dem Küchenboden. In einem war Wasser. Auf einer Anrichte stand Futter in Dosen, daneben ein Mülleimer. Jemand sollte den Unrat nach draußen tragen. Weil keiner sonst da war, tat David es selbst.
Es könnte Monate dauern? Das war gar nicht gut. In der Spüle stand benutztes Geschirr. Nach kurzer Überlegung wusch und trocknete er es ab, bevor die Speisereste daran Schimmel würden ansetzten konnten. Er machte einen ordentlichen Stapel auf dem Küchentisch daraus, weil er nicht wusste, wo er es einräumen sollte. Es kam ihm nicht richtig vor, in Annelieses Schränke zu schauen. Einen öffnete er dann doch, und zwar den Kühlschrank. Es war sicher keine gute Idee, verderbliche Lebensmittel für unbestimmte Zeit hier liegen zu lassen. Aber was sollte man damit tun? Ausräumen? Immer noch besser, als wegwerfen. David würde Anneliese sagen was er genommen hatte, und ihr die Sachen ersetzen. Es waren drei Eier, eine volle Packung Milch und ein Stück Käse. Den Aufschnitt konnte der Goldschmied nicht gebrauchen. Er war nicht umsonst schon sein halbes Leben Vegetarier, Fleischwaren rochen für ihn nicht mal mehr essbar. Herbert sah das sicher anders, der war immerhin ein Raubtier. Wenn auch ein winziges. Kurzerhand legte David die paar Blätter Wurst mitsamt dem Papier für die Katze auf den Boden.
Lange dauerte es nicht, bis die Kleine vorsichtig aus ihrem Versteck unter dem Sofa auftauchte. Es war ja auch wieder ruhig in ihrem Revier. Herbert hatte ein getigertes Fell und sah aus, als wäre er nicht mehr der Jüngste. Argwöhnisch fixierte er David mit wachen Augen.
"Na, du?", sagte der junge Mann leise zu ihm. "Tut mir ehrlich leid. Sieht aus, als gäbe es nur noch dich und mich."
Von nun an ging David zwei Mal am Tag hinüber in die Wohnung der alten Dame, wechselte das Wasser und fand heraus, wie viel Futter er in die andere Schüssel geben musste, damit der Kleine die Portion schaffte. Die ersten Male hatte der junge Mann es zu gut gemeint und so hatte das Tier einen Teil seines Essens übrig gelassen. Nach etwa einer Woche nahm er den Stubentiger mit in seine Wohnung. Mitsamt dessen Klo. Es war eine Nacht- und Nebelaktion, denn laut Mietvertrag durfte David keine Haustiere halten. Aber er konnte nicht mehr schlafen, weil er sich Sorgen um den armen Herbert machte, der immer alleine war.
Lächelnd hob der junge Mann die Katze hoch und strich ihr liebevoll über das weiche Fell. "Erst vorsätzliche Körperverletzung und jetzt das. Zeichnet sich hier ein Trend ab? Ist das der Beginn einer kriminellen Laufbahn? Was meinst du, hm?", lachte der Bursche leise und kuschelte sich glücklich an das wohlig schnurrende Tigerchen.
Mietvertrag hin oder her, David hatte sicher das Richtige getan. Einsamkeit konnte unmöglich gut sein. Für Herbert.