Du kannst nicht anders: Du musst mitsingen. Zwar kennst du den Text nicht, aber das hält dich nicht auf, mit schiefen "Aaaaahhhs" einzustimmen. Die ätherische Musik fängt deine Stimme auf wie ein Wasserbett einen Stein und wogt um dich her.
Hellblaues Licht schimmert zwischen dem hohen Gras hindurch. Dann siehst du die körperlosen Wesen, leuchtend wie Diamanten, erfüllt von kleinen Kugeln wie Luftblasen unter dem Meer. Sie scheinen der Ursprung des Gesangs zu sein.
Neugierig umringen sie dich. Ihre Stimmen werden lauter, fast, als wollten sie dich übertönen, doch dann beginnen sie, sich deiner Stimmlage anzupassen.
Du ahnst etwas und stimmst dein Lieblingslied an. Und wer hätte es gesagt: Bald hast du eine kleine Chorbegleitung. Die Wesen weiten die Melodie allerdings aus, bis man das Lied kaum noch erkennt. Immer wieder zieht es deine neue Bekanntschaften zu den Klängen zurück, die ihre natürlichen Laute sein müssen.
Ihr singt lange. Der Gesang ist so wunderschön, dass er dir Tränen in die Augen treibt. Bewundernd siehst du die Lichtgestalten an. Du fühlst dich wie schwebend, und langsam wirst du heiser, sodass du verstummst und verzückt lauschst. Langsam fallen dir die Augen zu, und du beginnst zu träumen.
Du schwebst, fliegst über einem weiten Feld. Im Gras unter dir funkeln Tautropfen wie Sterne. Du siehst bunte, leuchtende Schmetterlinge, die mit dir durch die Nacht fliegen, körperlose Lichtgestalten und Pusteblumensamen. Über euch am Himmel zeigt sich ein Polarlicht. Das dunkle Gras wogt wie ein unwirkliches Meer.
Die ganze Zeit erklingt das Lied. Schließlich merkst du, dass du ebenfalls singst – und nicht nur das: Du hast deinen Körper abgelegt und bist nichts weiter als einer der vielen Schmetterlinge. Die Nacht ist euer Zauberreich geworden, indem ihr euren Reigen tanzen dürft.
Die Morgensonne ist dir fast ein trauriger Anblick. Als du die Augen öffnest, hast du deinen Traum schon wieder vergessen, nur ein Gefühl von tiefem Glück und ebenso tiefer Friedlichkeit bleiben dir erhalten. Du hast die Nacht einfach auf den harten Steinen am Flussrand verbracht. Jetzt protestiert dein Körper mit Schmerzen gegen die unsanfte Behandlung. Wehmütig denkst du an dein eigenes Bett zurück, während du dich streckst und dann dein Boot fertig machst, um weiter dem Fluss zu folgen.
Von deinem Traum bleibt nicht mehr als eine ferne Erinnerung, doch obwohl du es nicht mehr weißt, wurde dir ein Geschenk gemacht, und seine Wirkung wird sich Zeit deines Lebens immer wieder zeigen: In den wenigen Momenten zwischen Wachen und Schlafen stehen die fernen Wiesen im Sternenlicht dir wieder offen, niemals wird ihr Zauber ganz aus deinem Leben verschwinden.
Du ruderst den Fluss hinab … Kapitel 260: