5 – Unterkühlter Dialog
„Dreißig Minuten sind gleich rum.“
Erschrocken fuhr Erik zusammen. Er brauchte allerdings nicht aufsehen, um zu wissen, wer ihn da, mal wieder derart emotionslos, angesprochen hatte. Erik nickte und steckte sich das letzte Stück seiner Brote in den Mund. Berger würde sicherlich keine Antwort erwarten.
„Sie sollten doch in Sichtweite vom Bus bleiben“, fügte der Blödmann von Lehrer irgendwann hinzu.
Erik drehte den Kopf, konnte dabei zwar nicht Berger, wohl aber den Bus zwischen den anderen Autos erkennen. Wenigstens ein Stück. Sicherlich gute dreißig Zentimeter.
„Kann ihn sehen“, meinte er entsprechend lapidar.
„Man Sie aber vom Bus aus nicht.“
War das ein Lächeln, das er in Bergers Stimme zu hören glaubte? Erik war sich nicht sicher und es im Grunde egal. Schließlich hatte er sich vorgenommen, dem Kerl möglichst fern zu bleiben. Mal ganz ehrlich. Wenn es ihm schon Probleme machte, dem Blödmann beim Schlafen zuzusehen, wollte Erik gar nicht wissen, in was für Schwierigkeiten er geraten konnte, falls er es nicht allmählich schaffte, Berger aus seinem Hirn zu bekommen.
„Ich bin kein Baby mehr“, murrte Erik genervt. Er konnte es sowieso nicht leiden, wie ein Kind behandelt zu werden, aber von Berger definitiv nicht.
„Dann sollten Sie erst einmal erwachsen werden.“
Wütend stopfte Erik die Dosen mit dem restlichen Essen zurück in den Rucksack. Dummerweise passte es nicht und versaute ihm damit den angepissten Abgang.
‚Na toll‘, dachte Erik bei sich. ‚Jetzt siehst du auch noch aus wie ein Volltrottel.‘
Berger sagte jedoch nichts, stand weiterhin hinter ihm, wo Erik ihn nicht sehen konnte. Was aber keinen Unterschied machen sollte, denn er wollte den Blödmann ja sowieso nicht ansehen. Sondern ihm aus dem Weg gehen. Deshalb packte Erik hastig die Bücher aus dem Rucksack und stattdessen die Dosen wieder nach unten. So passt es besser und die Leselektüre auf diese Weise oben drauf.
‚Oh, verdammt.‘ Erik erstarrte. ‚Hat Berger die gesehen?‘
Falls ja, gab er zumindest keine blöde Bemerkung dazu ab. War der Kerl überhaupt noch da? Vorsichtig drehte Erik den Kopf herum und sah prompt ein paar dunkle Turnschuhe, die wohl zu Berger gehören dürften.
„Die Pause ist fast vorbei“, bemerkte der mit einem merkwürdigen Unterton in der Stimme. Verwundert runzelte Erik die Stirn. Hatte der Kerl nicht vorhin eher genervt gewirkt?
„Klingt nicht gerade begeistert“, meinte Erik, bevor ihm klar wurde, dass er das laut gesagt hatte.
„Eine Woche am Strand in Südfrankreich mit einer Horde hormongesteuerter Irrer, die denken, ihnen gehört die Welt, weil sie gerade ihr Abi gemacht haben? Nein. Nicht begeistert“, gab Berger überraschend trocken und ehrlich zu.
Verwundert erhob Erik sich und sah zu seinem Lehrer. Erst als er neben Berger stand, schlug ihm die inzwischen wohlbekannte Duftwolke entgegen. Allerdings verweigerte sich sein Hirn diesmal erfolgreich dem Aussetzen. Trotzdem verwunderte es ihn ein Stück weit, denn Erik hätte schwören können, dass er den Geruch im Bus nicht so intensiv wahrgenommen hatte.
‚Dabei seid ihr hier im Freien, es sollte genau umgekehrt sein.‘
Bergers Blick konnte Erik wie immer nicht einschätzen – und schon gleich gar nicht standhalten. Also drehte er schließlich den Kopf lieber in Richtung Bus.
„Warum fahren Sie dann überhaupt mit?“
Aus dem Augenwinkel konnte Erik Berger mit den Schultern zucken sehen. „Darian musste sich ja in die Vaterschaft verabschieden und der Rest hatte ... wenig Interesse.“
„Niemand wollte den Sauhaufen an der Backe haben?“
Diesmal lachte Berger tatsächlich. Etwas, das ihm ausgesprochen gut stand, wie Erik sofort bemerkte. Prompt verdammte er sich jedoch für den Gedanken und schob ihn dahin zurück, woher er gekommen war. In diesen düsteren Teil seines Hirns, in dem auch das nervige Arschloch wohnte, das dem Kerl da drüben weiterhin nur zu gern an die Wäsche gehen würde.
„Die Formulierung war netter, auch wenn vermutlich genau das gemeint war.“
„Das erklärt nicht, warum Sie nicht ebenfalls abgelehnt haben“, hakte Erik weiter nach.
In dem Moment piepte ein Handy und Berger zog daraufhin seines aus der Hosentasche. Ein kurzes Wischen, und der Alarm war abgeschaltet.
„Ihre Zeit ist rum, Erik. Der Bus wartet nicht“, meinte Berger mit einem weiteren Lächeln und deutete in die entsprechende Richtung.
Langsam setzte Erik sich in Bewegung. Momentan schien Berger vergleichsweise gute Laune zu haben. Auch wenn er offensichtlich nicht gern, und womöglich nicht einmal freiwillig, an dieser Fahrt teilnahm. Das war vermutlich der beste Zeitpunkt, um diese eine Sache anzusprechen.
„Ich würde gern am Gang sitzen“, murmelte Erik verhalten. Dass er sich bei erstbester Gelegenheit ganz von Bergers Seite verkrümeln würde, sagte er lieber nicht.
„Es sind noch drei andere Plätze frei. Sie können sitzen, wo sie möchten“, antwortete der ruhig und lächelte kühl zurück.
„Ich ... Können Sie nicht einfach mit mir den Platz tauschen?“
„Nein.“ Diesmal war die Antwort regelrecht eisig und mindestens ebenso schneidend. Irritiert sah Erik auf und zu Berger. Der sah jedoch seinerseits nicht zu ihm zurück, sondern stur in Richtung Bus. „Ich sitze nicht am Fenster.“
✑
Das Brennen in Eriks Magen war unerträglich. Dieser Blödmann von Lehrer hatte es schon wieder getan. Ihn einfach verbal beiseitegeschoben, als wäre er ein unwichtiges Insekt.
‚Er kann genauso gut an diesem beschissenen Fenster sitzen!‘, zischte es in Eriks Kopf, während er verstohlen nach draußen schielte.
Berger war nirgendwo zu sehen und für einen Moment überlegte Erik, ob er sich nicht dennoch einfach auf den Platz am Gang setzen sollte. Was wollte der Kerl schon machen?
‚Dir vor allen den Arsch aufreißen und dich dann trotzdem auf den Fensterplatz schieben.‘
Vermutlich würde es genau so laufen.
Deshalb saß Erik fünfzehn Minuten nach der geplanten Abfahrtszeit am Fenster und starrte hinaus, als Berger sich mit einem Seufzen neben ihn fallen ließ. Auch die beiden Lehrerinnen stiegen nun endlich ein. Während Frau Hirvi die Schüler durchzählte, schloss der Fahrer bereits die Tür.
Offenbar waren alle anwesend. Für einen Moment konnte Erik sich nicht die Hoffnung verkneifen, dass der eine oder andere seiner Mitreisenden ja vielleicht doch bei der nächsten Pause verloren gehen würde. Die Chancen dafür standen jedoch nicht wirklich gut.
Gedankenverloren starrte Erik wieder aus dem Fenster, denn zu Berger wollte er ganz sicher nicht sehen. In der Reihe vor ihnen begannen die beiden Lehrerinnen prompt sich wieder zu unterhalten. Ihre Gespräche waren zum Glück nicht sonderlich laut, allerdings auch noch einmal deutlich weniger interessant.
Für einen Augenblick überlegte Erik, wie die Sitzverteilung wohl aussähe, wenn statt den beiden Frauen, ein zweiter männlicher Lehrer dabei wäre. Vielleicht würde Berger dann dort sitzen und mit dem quatschen.
‚Ist aber nicht so‘, belehrte Eriks Verstand ihn nüchtern. ‚Bringt nichts, da drüber zu grübeln. Drei Mädchen mehr im Kurs als Jungen, also zwei Lehrerinnen als Begleitung.‘
Als er nach links schielte, hatte Berger schon wieder die Augen geschlossen. Wollte der Kerl jetzt etwa die ganze Fahrt über schlafen? Auf der anderen Seite des Ganges waren die Plätze wieder frei geworden. Diesmal wirklich, da sich der Rest des Kurses scheinbar im hinteren Teil des Busses zusammenrottete und feierte. Für einen Moment kochte die Wut in Erik hoch, weil er hier eingeklemmt neben dem Blödmann von Lehrer sitzen musste. Dabei hätte er es sich genauso gut dort drüben auf zwei Plätzen bequem machen können. Wäre doch ebenso für Berger von Vorteil.
Aber anstatt etwas zu sagen, presste Erik die Lippen zusammen und kramte eines der Bücher heraus. Wenn Berger ihn nicht weglassen wollte, sollte er sich halt in dem unbequemen Sitz quälen, während er versuchte zu schlafen. War schließlich nicht Eriks Problem. Womöglich würde die ungeplante Nähe zu dem Blödmann ja dazu führen, dass diese verdammten Bilder in seinem Kopf endlich aufhörten.
Manchmal geschahen schließlich Wunder – sagte man zumindest.
✑
Wie auch immer die Busfahrer es geschafft hatten, die Verzögerung nicht weiter anwachsen zu lassen ... nach über dreizehn Stunden erreichten sie schließlich das Ziel ihrer Fahrt. Erik fühlte sich grauenhaft. In den zu engen Sitzen eingequetscht all die Stunden festzusitzen war absolut wider seine Natur. Da hatte auch das Buch nicht helfen können, das er gelesen hatte.
Zum einen hatte die Nähe dieses dämlichen Blödmannes zu Eriks Linken dazu geführt, dass er sich ohnehin kaum konzentrieren konnte. Außerdem war zumindest der Anfang von dem Buch leider nicht so interessant gewesen, wie Erik gehofft hatte. Nicht schlecht, aber zu viel, über das er hätte nachdenken müssen. Und um seine Denkfähigkeit war es während der Fahrt nicht sonderlich gut bestimmt gewesen.
Stumm seufzend sah Erik aus dem Fenster, als sie durch die kleine Stadt fuhren, an deren Rand sich ihre Unterkunft befand. Wenigstens würde er jetzt endlich aufstehen und sich wirklich die Beine vertreten können. Die Pausen, die sie während der Fahrt gemacht hatten, waren zunehmend kürzer geworden, je weiter sie sich ihrem Ziel näherten – und gleichzeitig dem Zeitplan immer deutlicher hinterher hingen.
Dabei hatten sie für heute nicht einmal mehr wirklich etwas geplant. Außer dem obligatorischen Strandbesuch war für diesen Tag nach einem kurzen Mittagessen und dem Bezug ihrer Unterkunft nichts mehr vorgesehen.
‚Sobald es an den Strand geht, setzt du dich ab‘, sagte Erik sich. ‚Definitiv nachdem Berger die Hüllen fallen gelassen hat.‘
Erik konnte gerade noch verhindern, dass er sich zu eben dem umdrehte. Ganz sicher würde er sich für den Rest des Tages nach dem zu erhoffenden Anblick möglichst weit von dem Kerl fernhalten.
Vorerst hatten sie jedoch endlich ihre Herberge erreicht. Einer nach dem anderen stiegen sie aus dem Bus. Schon waren die ersten begeisterten Ausrufe zu hören, als der Rest des Kurses die Holzhütten Linkerhand des Parkplatzes entdeckte. Erik wäre am liebsten im Bus geblieben. Da konnte man bestimmt auch gut drinnen schlafen.
Nachdem Berger sich endlich aus dem Sitz gequält hatte, konnte Erik ebenfalls aussteigen. Der sich ihm bietende Anblick verbesserte allerdings nicht den bisherigen ersten Eindruck. Linkerhand der Einfahrt, auf einer Art minimalistischem Campingplatz, standen fünf dunkelbraune Holzhütten, die wie Minibungalows aussahen. Drei Stufen führten zu einer kleinen Veranda hinauf, die sich vor der Eingangstür über die gesamte Breite der Hütte zog. Links und rechts der Tür ein Fenster. Der vermutlich etwa quadratische Grundriss war deutlich kleiner, als Erik sich erhofft hatte. Wie viele auch immer da rein passten, es würde beengt zugehen. Aber wenigstens erschienen so groß genug, dass es womöglich zwei Schlafräume gab.
Missmutig sah Erik sich weiter um. Die andere Seite des Weges säumte ein lang gezogener, weißer, eingeschossiger Bau. Dort gab es sicherlich weitere Zimmer. Hoffentlich. Denn die Enge der Hütten mutete nicht sonderlich einladend ein.
Erik drehte sich zurück zu den Holzhütten. Seine Hoffnung auf ein Zimmer in dem lang gestreckten Bau war quasi nicht existent. In der Beschreibung der Fahrt hatte dummerweise gestanden, dass sie in Bungalows untergebracht sein würden. Das konnten ja nur die da drüben sein. Eriks Laune sank sekündlich. Trotzdem blieb er erst einmal stehen.
Während Frau Hirvi und Frau Farin versuchten, Ordnung in das Chaos der jungen Leute zu bringen, wandte Berger sich dem Gebäude zu ihrer Rechten zu. Er murmelte etwas davon, dass er sich um die Anmeldung kümmern würde, und die Schüler schon mal die Hütten beziehen sollten. Dann war Berger verschwunden.
Erik selbst blieb zunächst weiterhin in der Nähe des Busses. Letztendlich würde er bei der Bettenverteilung genauso viel mitzureden haben, wie bei der Platzwahl im Bus. Mehr als das, was übrig blieb zu nehmen, konnte er wohl kaum machen. Wenigstens würde er diesmal auf keinen Fall im Bett neben Berger enden.
‚Scheiße!‘
Schnell versuchte Erik an etwas anderes zu denken, aber jetzt, wo der Gedanke einmal da war, drängte er sich wie immer in den Vordergrund. Wie oft hatte er sich in den vergangenen Monaten vorgestellt, wie er dem Kerl endlich ein paar Falten in die gebügelten Hemden machte? Von anderen Dingen, die er mit dem Rest des Mannes anstellen wollte, mal ganz zu schweigen.
Um sich abzulenken, schnappte sich Erik die Reisetasche und stapfte jetzt doch in Richtung der Bungalows. Egal, welches Bett, sie ihm übrig ließen, es würde wie es aussah tatsächlich hier drüben sein. Er hatte die kleinen Bauten schon fast erreicht, als er bereits die ersten Diskussionen über die Bettenverteilungen hörte.
„Doppelstockbetten?“, dröhnte Sandros tiefe Stimme durch die Luft. „Ist das hier ein Kinderferienlager oder was?“
„Ist doch in jedem der zwei Zimmer auch ein Einzelbett“, maulte ein anderer Junge zurück. „Jetzt stell dich nicht so an. Nur weil die Betten zu klein sind, um mit Ines zu pimpern.“
„Suchst du Streit?!“
Da Erik sowohl auf Sandro, als auch den erwähnten Streit sehr wohl verzichten konnte, wandte er sich vorsorglich der nächsten Hütte zu. Denn in dieser hier wollte er ganz sicher nicht schlafen.
‚Der Schlafsack wäre doch eine gute Idee gewesen.‘
Wenn Sandro, Oliver und Luca sich in Hütte eins verschanzt haben sollten, dann würde sich hoffentlich in einer der anderen ein Platz für Erik finden. Kritisch blickte er sich um. Es gab nur fünf Hütten. Irritiert runzelte er die Stirn. Wie viele Leute passten denn nun in diese Dinger rein?
„Also für das Bad sollten wir früh einen Plan machen“, hörte Erik in diesem Moment von rechts aus einer der Mädchen Hütten.
„Jetzt chill endlich mal, Hanna!“, fauchte Jenny zurück, die sich offenbar dieselbe Wohnstätte ausgesucht hatte. Warum es ausgerechnet die beiden in die gleiche Hütte verschlagen hatte, erschloss sich Erik nicht, aber da sie unter Garantie streng nach Männlein und Weiblein trennen würden, galt hier ebenso: Nicht seine Hütte, nicht sein Problem.
„Bei sechs Leuten muss man halt planen“, widersprach Hanna sofort.
Erik erstarrte. Unsicher blickte er sich um und stellte erneut fest, dass es nur fünf Hütten gab – sie sich also auf diese verteilen würden. Schon spürte er, wie sich sein Puls beschleunigte und die Wut anfing, sich in seinem Bauch zu sammeln.
‚Vielleicht deine Chance‘, flüsterte es aber stattdessen in Eriks Kopf. Mit heftig klopfendem Herzen zog er den Riemen der Reisetasche auf der Schulter fester und drehte auf dem Absatz um.