44 – Halbherziges Eingeständnis
Trotz des Vorsatzes brauchten sie weitere fünfzehn Minuten, bis sie den Badestrand des Sees erreichten. Der zeichnete sich letztendlich vor allem durch ein kleines, offenbar gut besuchtes Café aus sowie einige große, aber unbesetzte Picknicktische und zwei Hütten, die als Umkleiden, respektive Toiletten, deklariert waren. Noch während Sophie und Erik eintrafen, kamen die ersten ihrer Mitschüler schon wieder aus dem Wasser heraus und ließen sich auf Handtücher fallen.
‚So wie der Himmel aussieht, dürften bald alle ziemlich nass sein. Auch ohne See.‘
Zunächst sah Erik zu, wie Sophie sich zu einigen anderen Mitschülern gesellte. Kein Zeichen von der Müdigkeit und Erschöpfung, die ihm selbst in den Knochen steckte. Stattdessen plauderte Sophie gut gelaunt mit zwei der Mädchen, die mit der Gruppe um Berger gelaufen waren. Kurz darauf lagen ihre Sachen auf dem kiesigen Strand und sie selbst war unterwegs zum Wasser.
„Man muss lockere hundert Meter reinlaufen, bevor es auch nur hüfttief wird“, raunte es hinter Erik und entlockte ihm damit gegen seinen Willen ein Lächeln.
„Danke. Verzichte“, gab er ebenso verhalten zurück und dreht den Kopf herum. Bergers Gesichtsausdruck konnte er wie so oft nicht deuten, trotzdem war Erik sich sicher, dass der Mann genauso müde aussah, wie er selbst sich fühlte.
‚Wenigstens einer.‘
Statt zu antworten, trat Berger neben Erik und rief den übrigen Schülern zu: „Sagen Sie den Nachfolgenden, dass sie in der Nähe bleiben sollen.“
Diverse „Ja, Herr Berger“-Rufe ertönten, bevor dieser sich mit einem Grinsen auf den Lippen abwandte. Erik zögerte, aber im Endeffekt war die Entscheidung, was er tun würde klar. Obwohl er sich mit Sophie gut unterhalten hatte, war die Aussicht darauf, neben ihr hier an einem See rumzuliegen, in den er eh nicht reingehen würde, nicht sonderlich erbaulich. Die Chance, eventuell irgendwie das Gespräch mit einem gewissen Jemand fortsetzen zu können, dafür deutlich ansprechender. Also drehte Erik sich ebenfalls herum und folgte Berger in Richtung der Picknicktische.
„Haben Sie Ihre Hand inzwischen ausgewaschen?“, fragte Erik, noch bevor sie einen der Tische erreichen konnten.
Er Versuch, seine Stimme möglichst ruhig klingen zu lassen, war zumindest Eriks eigenem Empfinden nach gelungen. Vielleicht war deshalb der Ausdruck in dem Gesicht, das sich ihm daraufhin zuwandte, weiterhin nicht zu deuten. Trotzdem nahm Erik es als ‚Nein‘.
„Sie meinten vorhin, es sei keine Zeit. Bis der Rest von den Schnecken eintrudelt, dürfte es noch eine Weile dauern.“
Berger starrte Erik einfach nur an. Das komische Gefühl in dessen Eingeweiden konnte sich derweil nicht entscheiden, ob es zu einem Flattern werden wollte – oder ihm lieber als Zementbrocken im Magen lag. Bergers Blick glitt den Weg entlang, den sie gekommen waren. Ein Stück weiter entfernt war auf der Straße den Hügel hinab einige ihrer Mitreisenden zu sehen. Mit einem Stirnrunzeln stellte Erik fest, dass Frau Farin mit dieser Gruppe lief, die zweite Lehrerin und ein nicht geringer Anteil des Kurses aber nicht zu sehen war. Das hieß, es waren noch nicht einmal alle auf dieser Seite des Hügels angekommen.
„Scheint in der Tat zu dauern“, murmelte Berger, bevor er nachdenklich auf seine rechte Hand hinuntersah.
„Ich helfe Ihnen mit dem Verband.“ Der verwunderte Blick, der Erik traf, hätte beinahe das Flattern erstickt. Er riss sich allerdings zusammen und deutete auf Bergers Hand. „Wird einhändig vermutlich schwierig.“
„Wäre nicht das erste Mal.“
Erik runzelte die Stirn, so einfach wollte er nicht nachgeben. „Sie haben gesagt, es gehört zum Erwachsensein dazu, dass man um Hilfe bitten kann.“
Das entlockte Berger zumindest ein kurzes Schmunzeln, bevor er mit den Schultern zuckte. „Wenn man sie braucht“, gab er gelassen zurück.
‚Wieso kann der sture Esel nicht einmal hierbei nachgeben?‘
„Bin sicher, es gibt das eine oder andere, wofür Sie die Hand normalerweise gebrauchen“, platzte es aus Erik heraus. Das passende Grinsen dazu konnte er sich nicht verkneifen. „Ich helf Ihnen gern bei ... allen möglichen Dingen.“
Lächelnd schüttelte Berger den Kopf. „Danke, aber ich denke, da wären wir wieder an dem Punkt, wo es ... unangemessen werden würde.“
Seufzend kratzte Erik sich am Hinterkopf. Obwohl er es gern anders sehen würde, war ihm durchaus klar, dass Berger recht hatte. Aber nachdem Erik heute zur Abwechslung dem blöden Anstand zumindest zeitweise einen Maulkorb verpassen konnte, hatte sich Berger als überraschend gesprächig und umgänglich gezeigt. Der Gedanke, das einfach aufzugeben, würde über kurz oder lang das nette Flattern in Eriks Bauch wieder vertreiben.
„Es ist sicherlich nicht unangemessen, wenn ich Ihnen helfe, die Hand zu verbinden“, fügte Erik deshalb hinzu.
Berger wollte offenbar dennoch nicht auf sein Angebot eingehen. Dessen Blick wanderte stattdessen zurück zur Straße, von der aus irgendwann in den nächsten fünfzehn bis zwanzig Minuten Frau Farin mit ihrer Gruppe von Schülern hier eintreffen würde.
„Je eher Sie nachgeben, desto schneller sind wir fertig“, setzte Erik ein weiteres Mal nach. „Geht die anderen einen Scheißdreck an, wenn ich Ihnen helfe.“
Ob es tatsächlich seine Worte oder nicht am Ende schlichte Vernunft war, die den Sturkopf dazu brachte, auf das Angebot einzugehen, war im Grunde egal. Für das Kribbeln in Eriks Bauch war entscheidend, dass sie kurz darauf im Waschraum der Umkleiden standen und er den Verband an Bergers Hand löste.
Auch wenn Erik versuchte, möglichst vorsichtig zu sein, konnte er spüren, wie sich die Muskeln im Unterarm verspannten. Einen Laut hörte er jedoch nicht. Aus dem Augenwinkel versuchte er zu Bergers Gesicht zu linsen. Dort war keine Regung zu erkennen. Langsam begann Erik die Kompresse zu lösen, die auf der Handfläche lag. Da wurde ihm die Hand aber doch entzogen.
„Nicht“, sagte Berger gepresst und schien ein weiteres Mal zu zögern.
„Sie sollten damit zum Arzt.“
„Möglich.“
Nachdem der sture Esel die ganze Zeit seine Hilfe abgelehnt hat, kam Erik dieses Eingeständnis regelrecht wie ein Schmerzensschrei vor. Prompt zog sich sein Magen zusammen, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Das schlechte Gewissen nagte jedoch weiterhin an Erik. Wenn er besser aufgepasst und nicht in Gedanken gewesen wäre, hätte er eher gemerkt, dass Berger gestoppt hatte. So war Erik direkt in den hineingerannt und hatte Berger damit über die Kante des Abhanges gestoßen.
„Es tut mir leid“, murmelte Erik verhalten, weil er nichts Besseres zu sagen wusste.
„Sie haben keine Schuld. Hören Sie auf, sich deshalb Vorwürfe zu machen.“
Statt weiter darauf einzugehen, drehte Berger das Wasser auf und ließ es vorsichtig über die Hand fließen. Erst nachdem die Kompresse völlig durchgeweicht war, zog er sie langsam ab. Diesmal schaffte Berger es nicht, das Zischen zu unterdrücken. Damit zog sich erneut auch etwas in Erik zusammen. Egal, was der Sturkopf behauptete, es war seine Schuld.
„Ich habe gesagt, Sie sollen aufhören“, meinte Berger prompt gepresst. Scheinbar wusste der Kerl mal wieder viel zu gut, was Erik durch den Kopf ging.
„Egal, wie oft Sie es sagen, das ändert nichts an den Tatsachen“, gab Erik zurück.
Berger seufzte und schüttelte den Kopf, während er mit der durchgeweichten Kompresse versuchte, vorsichtig die Wunde weiter zu säubern. Da die weiterhin ziemlich verunreinigt aussah, öffnete Erik Bergers Rucksack und holte die Erste-Hilfe-Tasche heraus. Nach kurzem Herumwühlen zog er eine weiße Packung hervor.
„Der Graben kam zu plötzlich“, murmelte Berger, nachdem Erik ihm die ausgepackte Kompresse gereicht hatte. „Ich wäre auch ohne Ihre Mithilfe beinahe abgerutscht.“
Eriks Miene verfinsterte sich, während er beobachtete, wie Berger erneut über die verletzte Hand tupfte, um die letzten Verunreinigungen einigermaßen zu entfernen. Da er momentan offensichtlich weder helfen konnte, noch durfte, lehnte Erik sich an das Waschbecken daneben. Selbst wenn er sich eingestand, dass der Absturz ein Unfall und als solcher kaum zu vermeiden gewesen war ... es ging schließlich nicht nur darum.
„Ich hätte den Sturz abfangen sollen“, sprach Erik irgendwann aus, was ihm weiterhin so schwer im Magen lag. „Stattdessen hab ich mich kaum rühren können.“
Ein breites Grinsen zog sich über Bergers Lippen, während der zu ihm aufblickte. „Ernsthaft? Das macht Ihnen Kopfzerbrechen?“
Beleidigt verzog Erik den Mund. „Ich bin kein kleines Kind, das man beschützen muss. Ich hätte ...“
„Was hätten Sie?“, fuhr Berger lachend dazwischen. „Den Helden spielen sollen, der zur Rettung eilt?“
Ganz so wollte Erik selbst es nicht ausdrücken. Aber im Prinzip war es doch genau das. Oder nicht? Der Sturz war seine Schuld gewesen. Erik hätte ihn zumindest abfangen und Berger beschützen sollen. Anstatt sich von seinem Lehrer retten zu lassen wie ein kleines Kind. Immerhin war er selbst der kräftigere und größere Mann.
Es gab nicht viele Leute, die Erik etwas bedeuteten. Unsicher sah er zu Berger. Es war doch normal, dass man solche Menschen beschützen wollte. Oder? Dass er nicht einmal das auf die Reihe bekam, war beschämend.
Der blöde Kerl lachte aber erneut und grinste vor sich hin. „Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, Herr Hoffmann. Die Rolle der Prinzessin in Nöten steht mir nicht.“
„Darum geht es nicht ...“
„Hören Sie auf!“, fuhr Berger erneut dazwischen, diesmal vehementer. Als er aufblickte, war der Blick kühl, vielleicht sogar wütend. Ganz sicher war Erik sich nicht, aber das belustigte Grinsen von eben war verschwunden. „Ich bin Ihr Lehrer. Glauben Sie ernsthaft, ich würde zulassen, dass Sie sich verletzen, wenn ich es verhindern kann?“
Die Worte schnitten Erik heiß in den Bauch. Allerdings nicht, weil Berger trotz seiner offensichtlichen körperlichen Unterlegenheit genug Geistesgegenwart gehabt hatte, um ihn bei dem Sturz zu schützen. Etwas, bei dem Erik selbst gnadenlos versagt hatte.
„Ich bin Ihr Lehrer.“
Immer und immer wieder dröhnte dieser beschissene Satz durch Eriks Hirn. War das am Ende eben doch alles, was zwischen ihnen jemals sein konnte? Sah Berger weiterhin nur das in ihm? Ein renitenter Schüler, der mehr Probleme machte als die anderen? Den man beschützen musste. Vor Abstürzen, Sandro, Panikattacken – nicht zu vergessen vor sich selbst.
„Nächste Woche sind Sie nicht mehr mein Lehrer“, sagte Erik schließlich. Auch wenn er versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen, war sie am Ende trotzdem nur ein verflucht jämmerliches Krächzen. „Würden Sie mich dann fallen lassen?“
Berger presste die Lippen aufeinander und runzelte die Stirn, antwortete jedoch nicht.
„Wenn ich Sie am Montag in der Stadt treffe ... bin ich Ihnen dann egal?“
Weiterhin keine Antwort. Stattdessen senkte Berger wieder den Blick auf die eigene Hand. Die sah aus, als wäre der Dreck inzwischen entfernt. Aber die Haut war über den gesamten Handballen und die Handkante aufgerissen. An einigen Stellen tief genug, dass wieder Blut durchsickerte.
„Sie sind mir jedenfalls nicht egal. Weder heute noch nächste Woche.“
„Erik ...“
Er schüttelte den Kopf und seufzte leise, bevor er sagte: „Ich steh nicht auf Prinzessinnen. Aber Sie sind mir wichtig. Ich ... hätte besser aufpassen müssen.“
Da Berger diesmal nicht antwortete, schloss Erik das Erste-Hilfe-Set. Den Rucksack seines Lehrers ließ er neben dem auf den Boden fallen. Die rote Tasche mit dem Verbandszeug hielt Erik jedoch weiterhin in einer Hand, während er mit der anderen über die Schulter zum Ausgang deutete.
„Ich warte draußen bei den Picknicktischen. Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie kein sturer Idiot mehr sein wollen und ich Ihnen die Hand verbinden darf.“
Berger setzte erneut zu einer Antwort an, aber diesmal wartete Erik nicht ab, sondern drehte sich wie angekündigt um und verließ den Waschraum. Kaum stand er im Freien, wanderte Eriks Blick automatisch in Richtung der Straße. Frau Farin und ihre Gruppe von Schülern war entgegen seiner vorherigen Schätzung inzwischen fast da. Vermutlich beeilten sie sich im Angesicht des drohenden Gewitters jetzt doch etwas mehr.
Oben auf der Bergkuppe war eine weitere Gruppe rund um Frau Hirvi zu sehen. Die standen dort und schienen sich nicht wirklich vorwärts zu bewegen. Zwar konnte Erik nicht genau erkennen, wer alles zu dieser Gruppe gehörte, aber zumindest eine Person musste abgesehen von Frau Hirvi ebenfalls dort oben stehen. Hanna war bisher weder hier unten am See noch in der Gruppe von Frau Farin zu sehen. Mit einem kurzen Schnauben sah Erik nach links zu den zwei großen Picknicktischen. Wenn die Trantüten unbedingt klitschnass werden wollten, sollten sie sich halt weiter Zeit lassen.
Die Tür zum Waschraum fiel erneut ins Schloss.
„Natürlich würde ich Sie nicht fallen lassen“, sagte eine verhaltene Stimme hinter Erik und ließ ein dezentes Kribbeln seinen Rücken hinunterlaufen.
Er blickte über die Schulter, aber Bergers Ausdruck war verschlossen wie eh und je. Trotzdem keimte irgendwo in Erik die Hoffnung, dass er dem Sturkopf tatsächlich nicht so egal war, wie er in den letzten Monaten gedacht hatte. Immerhin war Berger bisher weder vor Erik weggelaufen, noch hatte er ihn von sich gestoßen.
„Lassen Sie sich jetzt von mir verarzten?“
„Hab ich eine Wahl?“
Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er die Erste-Hilfe-Tasche ein Stück hochhob und sie Berger vor die Nase hielt. „Natürlich. Sie haben immer eine Wahl. Verband oder nicht Verband, ist heute wohl die Frage.“
Schnaubend schüttelte Berger den Kopf. „Eine ausgesprochen schlechte Shakespearevariation, Herr Hoffmann.“
Nichtsdestotrotz war da ein kurzes Lächeln, das über Bergers Lippen gehuscht war. Entsprechend zufrieden sah Erik zu, wie der Sturkopf seinen Rucksack neben den Tisch stellte und sich anschließend auf eine der Bänke setzte. Obwohl es vollkommen albern erschien, kam Erik nicht umhin, das als Erfolg zu verbuchen. Um ebendiesen nicht durch sein eigenes Zögern zunichtezumachen, folgte Erik Berger und öffnete, nachdem er sich neben ihn gesetzt hatte, die Erste-Hilfe-Tasche.
Zwar hatte Erik nicht sonderlich viel Erfahrung damit, Leute zu verarzten, aber den Verband ein paar Mal um Hand und Gelenk zu legen, war keine große Kunst. Außerdem hatte er das heute ja schon einmal erfolgreich geschafft.
Die deutlich heftigere Herausforderung bei der Sache war die absolute Sicherheit, dass Berger Erik während der ganzen Aktion keine Sekunde aus den Augen ließ. Und das damit verbundene Wechselspiel aus heiß und kalt, das Erik dabei die Wirbelsäule rauf und runter rannte. Ganz zu schweigen, was das in seinem Schritt auslöste. Ein Lächeln stahl sich auf Eriks Lippen, weil sein mentaler Quälgeist den Augenblick nutzte, um sich auch endlich mal wieder als Kommentator zu betätigen.
„Sie amüsieren sich heute in der Tat recht gut, oder?“, fragte Berger seinerseits prompt und ließ Erik damit kurzzeitig zucken.
Einen Moment lang überlegte Erik, aber bisher war er am heutigen Tag gut damit gefahren, mal nicht die Klappe zu halten. Also würde er auf diese Art vielleicht langfristig bei Berger nicht mehr so sehr auf Granit beißen wie bisher.
Er hielt den Kopf gesenkt, schielte aber dennoch nach oben in Richtung seines ‚Patienten‘. „Ich dachte nur gerade, dass ich Doktorspielen schon immer etwas abgewinnen konnte.“
„Aha.“
Auch wenn Berger darum kämpfte, ernst zu bleiben, entging Erik das Zucken um die Mundwinkel herum nicht. Trotzdem kam diesmal leider kein weiterer Kommentar. Wahrscheinlich nicht verwunderlich. Immerhin hielt der Kerl sich ja standhaft daran fest, dass er Eriks Lehrer wäre. Was zugegeben faktisch durchaus der Fall war.
Kaum dass die Hand fertig verbunden war, fing Berger direkt an, die Erste-Hilfe-Tasche wieder zusammenzupacken und in seinen Rucksack zu stecken.
„Gut, dass Sie die dabeihatten“, bemerkte Erik, damit das anhaltende Schweigen nicht doch noch unangenehm werden konnte.
Berger zuckte ein weiteres Mal mit den Schultern und schloss den Rucksack. „Wäre recht unverantwortlich, wenn wir keine dabeihätten. Oder?“
„Bin ziemlich sicher, dass da außer Ihnen niemand dran gedacht hat.“
Wieder war da dieses leichte Lächeln auf Bergers Lippen, während er antwortete: „Hat ja außer mir auch keiner wirklich gebraucht.“
Mit einem Grinsen hob Erik seinen Fuß auf die Bank und deutete auf den Verband, den Berger ihm nach ihrem Kampf gegen die Dornröschenhecke verpasst hatte. „Sie sehen also ein, dass das da völlig übertrieben war.“
Vielleicht bildete er sich den Rotschimmer auf Bergers Wangen nur ein, aber er stand dem Kerl ausgesprochen gut. Prompt waren da Bilder in Eriks Kopf, die den Anblick in ein deutlich angenehmeres Setting verpflanzten. Eines mit weniger Publikum und dafür umso weicheren Laken.
Um sich nicht wieder in seinen Gedanken zu verlieren, hob Erik den eigenen Rucksack vom Boden hoch und fing an, das mitgebrachte Essen auszupacken. Da sie für die Wanderung deutlich länger gebraucht hatten, knurrte Eriks Magen inzwischen recht heftig. Nachdem Berger verarztet war und er selbst ja ohnehin nicht ins Wasser gehen würde, erschien es sinnvoll, etwas gegen das Knurren zu unternehmen.
Um das Gespräch in Gang zu halten, bot Erik Berger einen Teil davon an. Er hatte zwar nicht übermäßig viel eingepackt, für zwei würde es aber sicherlich reichen. Natürlich zögerte der Sturkopf schon wieder, Erik seufzte hörbar und schob dem Mann wenigstens einen Apfel hinüber.
„Es wird Sie garantiert nicht kompromittieren, wenn Sie den essen“, gab Erik murrend zurück, während er sich einem der Brote widmete.
Aus dem Augenwinkel konnte er kurz darauf sehen, wie Berger den blöden Apfel zwischen den Fingern drehte, ohne ihn tatsächlich anzurühren. Allmählich nervte das.
„Haben Sie eigentlich grundsätzlich keinen Hunger oder schlägt meine Anwesenheit Ihnen dermaßen aufs Gemüt?“
Hätte Eriks Blick nicht an der Hand mit dem Apfel gehangen, wäre ihm vermutlich entgangen, wie diese sich schlagartig darum verkrampfte.
Auch wenn er diese Frage heute bereits mehrmals gestellt hatte, kam Erik nicht umhin, sie noch einmal zu formulieren: „Sagen Sie mir endlich, was ich letzte Nacht angestellt habe?“
„Nichts“, gab Berger wie gehabt zurück, die Stimme leise aber kühl, während er den Apfel jetzt doch zu sich heranzog.
„Was hab ich gesagt?“
Diesmal erwiderte Berger nichts – jedenfalls nicht sofort. Und am Ende des Tages war das vermutlich genau die Antwort, mit der Erik gerechnet hatte. Wäre ja auch ein Wunder, wenn der Kerl eine klare Ansage machen würde. Obwohl er weiter fürchtete, dass diese am Ende genauso ausfallen würde, wie Frau Farin das in Bezug auf Hanna von Berger gefordert hatte.
Immerhin hätte dieses dämliche Katz-und-Maus-Spiel ein Ende, wenn der Kerl endlich das Maul aufbekam und Erik klar und deutlich sagte, dass er nichts von ihm wissen wollte. Aber das tat er nicht. Also hoffte ein total bescheuerter Teil in ihm weiter, dass Erik wenigstens die Chance bekommen würde, herauszufinden, ob da wirklich etwas war.
‚Frag halt endlich direkt‘, forderte er sich selbst auf.
Wie immer versagte Erik an dieser Stelle das bisschen Mut, welches er am heutigen Tag bisher zusammengekratzt hatte. Stattdessen hörte er Bergers Handy klingeln und sah aus dem Augenwinkel zu, wie der missmutig den Anruf annahm.
Regelrecht genervt meinte der, dass er unterwegs wäre. Verwundert sah Erik auf – kurz darauf dabei zu, wie der Kerl etwas umständlich den Rucksack aufsetzte und von der Bank kletterte.
„Was ist los?“, fragte Erik verwirrt.
„Jemand ... hat sich den Fuß verstaucht und kommt den Berg nicht runter.“
Erik runzelte die Stirn. „Und jetzt wollen Sie da rauf und den tragen, oder was?“
Die grünen Augen blitzten Erik au feine Art und Weise an, bei der jeder normale Mensch vermutlich zusammengezuckt wäre. Bei ihm selbst verursachte der Blick eher ein weniger dezentes Kribbeln unterhalb der Gürtellinie. Wieder einmal wurde Erik nur zu klar, warum er die Idee von einem ‚Badboy Berger‘ ausgesprochen anziehend fand.
Der war zwar offensichtlich gerade reichlich ‚böse‘, im Sinne von ‚angefressen‘ – allerdings definitiv kein Junge mehr. ‚Stehst ja auch auf Männer, nicht auf Jungs‘, flüsterte es prompt in Eriks Kopf und verstärkte das Kribbeln.
Nur zu gern würde er endlich herausfinden, was wirklich an dieser Vorstellung dran war. Abgerissene Jeans, T-Shirt, ein hämisches Grinsen auf den verführerischen Lippen, die sich fest um eine halb abgebrannte Zigarette legten. Aber es war kein jugendlicher Berger, den er dort sah. Wobei der Kerl ja nicht wie seine achtundzwanzig Jahre aussah. Statt Erik aber noch ein bisschen mehr Futter für Fantasien zu geben, griff Berger lediglich zu dem Apfel und drehte ihn erneut zwischen den Fingern.
„Wie Sie sehr richtig bemerkt haben, Erik, hat augenscheinlich niemand sonst so weit gedacht, Verbandszeug mitzunehmen“, murmelte Berger und stapfte anschließend davon, ohne sich umzusehen.
Erik zögerte nicht und begann, die Brote wieder einzupacken. Bevor er aufspringen konnte, rief Berger ihm jedoch zu: „Bleiben Sie hier und essen Sie.“ Sofort setzte Erik an, um zu widersprechen. Da sah Berger ihn noch einmal über die Schulter hinweg an und hob lächelnd die Hand. „Ich gehe allein. Aber danke für den Apfel.“