Tag 8 - Samstag
82 – Nervöser Aufbruch
Als Erik ein paar Stunden später vor dem Spiegel am Kleiderschrank seiner Mutter stand, war er nicht sicher, was tatsächlich schlimmer war. Hier zu stehen in diesem eigentlich gut sitzenden, aber irgendwie trotzdem ungewohnten Anzug oder sich dabei auch noch selbst ansehen zu müssen. Gott, er sah aus wie ein verdammter Anwalt. Nur zehn Jahre zu jung.
„Ich glaube, die Krawatte braucht es wirklich nicht, Ma“, rief Erik in Richtung Flur.
Seine Mutter hibbelte garantiert schon wieder in der Küche herum. Erik wollte gar nicht wissen, wie viel Kaffee sie sich in ihrer Nervosität inzwischen reingekippt hatte. Dass das Koffein ihr Problem lediglich verschlimmern würde, hatte sie natürlich trotz seines Einspruchs gekonnt ignoriert.
„Mach sie drum, Erik. Das sieht besser aus.“
Er verkniff sich das Stöhnen und verdrehte stattdessen die Augen. Ihm ging es bei der Sache sicherlich nicht ums Aussehen. Dass Erik Berger damit wirklich nachhaltig beeindrucken könnte, war illusorisch. Und abgesehen von seiner Mutter und dem Sturkopf war der Rest der zu erwartenden Gäste Erik reichlich egal. Zumindest dahingehend, ob die fanden, dass er mit dem verdammten Ding ‚besser‘ aussah oder nicht.
„Soll ich dir helfen?“, rief seine Mutter aus Richtung Küche.
Genervt grunzte Erik und starrte auf die beiden Enden der dämlichen Krawatte. Konnte doch noch nicht so schwer sein. Er lehnte sich ein Stück nach hinten und sah aus der Schlafzimmertür in Richtung Küche. Seine Mutter war nicht zu sehen. Also zog Erik das Handy aus der Hosentasche und suchte im Internet erneut nach der Anleitung, wie man das blöde Mistding binden musste.
„Wer hat sich so einen Scheiß überhaupt ausgedacht?“, zischte Erik genervt, als – trotz Bilderstrecke – dieser Versuch genauso reichlich schief und krumm aussah wie die vorherigen. Jedenfalls nicht einmal annähernd wie auf dem Bild aus dem Internet.
Ein Kichern riss ihn aus seinen Gedanken. Als Erik aufblickte, stand seine Mutter breit grinsend im Türrahmen zum Schlafzimmer. Beleidigt, weil sie ihn jetzt auch noch auslachte, drehte Erik sich zum Spiegel herum und zog den Knoten zum sicherlich zehnten Mal an diesem Morgen wieder auf.
Ehe er weitermachen konnte, stand sie jedoch neben ihm und zog Eriks Schultern herum. Die Bewegung ihrer Hände war zu schnell, als dass er ihr hätte folgen können. Aber ein paar Sekunden später strich sie die – in Eriks Augen perfekt gebundene – Krawatte auf seiner Brust glatt.
„Nicht fair. Du musst nicht mal eine drummachen und bekommst das besser hin als ich“, murrte Erik beleidigt. Dabei hatte er sich zumindest bei den ersten Versuchen wirklich Mühe gegeben.
„Einige der Herren im Heim möchten zu gewissen Gelegenheiten auch noch glänzen. Da bekommt man Übung“, meinte seine Mutter lächelnd und strich erneut über Eriks Brust. „Du schaust toll aus, mein Junge“, flüsterte sie mit belegter Stimme.
Erik schluckte und drehte sich zum Spiegel herum. Sein eigener Typ wäre er ja normalerweise nicht, aber in dem Anzug machte er unbestreitbar eine gute Figur. Nicht einmal die Krawatte störte. Was Erik wesentlich deutlicher die Sprache verschlug, war allerdings der unverhohlene Stolz, der eben in der Stimme seiner Mutter gelegen hatte.
„Mein Kleiner ist tatsächlich erwachsen“, meinte sie mit einem verhaltenen Lachen und rieb Erik dabei über den Rücken.
„Das wäre ich auch ohne die Krawatte“, gab er grummelnd, aber mit einem Lächeln in Richtung ihres Spiegelbildes zurück.
„Ich bin stolz auf dich, Erik. Nicht nur ... weil du das Abi durchgezogen hast. Ja?“
„Danke, Mama.“
✑
Es war zwanzig vor elf, als Erik mit seiner Mutter das Schulgelände betrat. Die Zeugnisübergabe fand in der Aula statt. Dass er dafür nach all den Wochen noch einmal zurück in die Schule musste, fühlte sich merkwürdig an. Nicht zu vergessen, dass Berger ihn ausgerechnet hier an diesem verdammten letzten Unterrichtstag herausgefordert hatte.
Hastig schob Erik den Gedanken beiseite und lächelte stattdessen seiner Mutter zu. Obwohl sie immer wieder betonte, dass es ‚sein Tag‘ heute war, sah Erik das anders. Garantiert hätte er sich das Zeugnis auch irgendwann einfach abholen oder zuschicken lassen können. Die Entscheidung, an der Zeugnisübergabe und dem Abiball teilzunehmen, hatte er hauptsächlich für sie getroffen.
‚Na gut, vielleicht nicht nur für sie.‘
Denn wenn Erik die Ehrlichkeit zu sich selbst, die er in den letzten Tagen begonnen hatte, mal weiterführte, hatte er zum Abiball vor allem aus einem Grund zugesagt: Weil ein gewisser Jemand ebenfalls dort sein würde. Immerhin hatte Erik vor, den Mann heute endgültig davon zu überzeugen, dass das zwischen ihnen funktionieren konnte. Egal, was Frauen wie die Farin dazu sagten.
„Alles in Ordnung?“, fragte Eriks Mutter besorgt.
„Ja, schon gut“, gab er mit einem Lächeln zurück. Wirklich überzeugt sah sie jedoch nicht aus. „War letzte Nacht nur recht spät.“
Sie nickte und schwieg. Ob sie ihm diesmal glaubte, konnte Erik nicht sagen – aber letztendlich auch nichts daran ändern. Im Moment hatte er genug mit den Dingen zu tun, bei denen er hoffentlich noch etwas würde bewirken können.
Wie aufs Stichwort fiel sein Blick just in diesem Augenblick auf einen schwarzhaarigen Hinterkopf, der Erik ausgesprochen bekannt vorkam. Prompt legte das Pochen in seiner Brust ein paar Schläge an Tempo zu. Natürlich war ihm bewusst gewesen, dass Berger als Vertreter von Herrn Darian auch an diesem Morgen hier sein würde. Trotzdem war sich Erik nicht sicher, wie er dem Mann im Augenblick gegenübertreten sollte.
Andererseits war zu hoffen, dass Berger ihr Gespräch von letzter Nacht nicht ausgerechnet hier vor allen Leuten fortführen wollte. Außerdem hatte Berger immerhin zugesagt, dass er Erik diesen Tag Aufschub gewähren würde. Jetzt musste er den Sturkopf nur noch überzeugen, dass es keine Sau interessieren würde, was zwischen ihnen lief, wenn Erik erst einmal dieses Zeugnis in Händen hielt. Irritiert sah er Berger hinterher, als der, anstatt in die Aula zu gehen, zunächst nach links ausscherte und um das Schulgebäude herumlief.
„Was ist denn los mit dir, Erik?“
„Nichts“, murmelte er gedankenverloren. Dieses schmerzhaft ziehende Gefühl einer zunehmend dunkler werdenden Vorahnung wurde stetig stärker.
„Ein Freund von dir?“
Überrascht fuhr Erik herum und sah seine Mutter an. „Freund?“
„Der Mann, dem du nachgesehen hast.“
Hitze stieg schlagartig in Erik auf, als er hastig abwinkte. „Nein. Ich ... Also ...“, stammelt er und versuchte krampfhaft, irgendeine glaubhafte und unschuldig klingende Erklärung zu finden, warum er seinem Lehrer hinterher sah.
Nachdem seine Mutter auch noch anfing zu grinsen, wurde das miese Gefühl in Eriks Magengegend schon wieder unangenehmer. Sie zwinkerte ihm zu und flüsterte: „Sag bloß ...?“
Oh, verdammt! Das war weder der richtige Zeitpunkt noch der richtige Ort, um von seiner Mutter dabei erwischt zu werden, wie er anderen Kerlen hinterherschaute.
„Nein, es ... ist nichts“, beeilte Erik sich deshalb, ihr zu versichern. Mehr als ein inkohärentes Gebrabbel schien er aber weiterhin nicht zustande zu bekommen. „Ich habe ... gar nicht ...“
Ihr Grinsen wurde breiter. Wenigstens hob sie die Hand, um das leise Kichern zu unterdrücken. Konnte es eigentlich noch peinlicher werden?
„Jetzt stell dich nicht so an, Erik. Ich will doch mal stark hoffen, dass du mir, deinen Freund auch irgendwann vorstellst, wenn du denn einen hast.“
Scheinbar konnte es deutlich peinlicher werden – regelrecht blamabel. Weder Tom noch Dominik hatte er ihr vorgestellt, auch nie ernsthaft das Verlangen danach gehabt. Erik schluckte und versuchte zu grinsen, aber sein Gesicht fühlte sich eher wie eine verzerrte Grimasse an.
„Wenn ... wenn es so weit ist“, brachte er schließlich heraus. „Bitte, lass uns jetzt einfach reingehen und das hier hinter uns bringen.“
„Es muss dir nicht peinlich sein, Erik.“
„Ist es aber“, zischte er zurück und fuhr prompt zusammen, als ihm klar wurde, was er da tat. „Tut mir leid“, murmelte er sofort. Schließlich konnte seine Mutter nichts dafür.
Wenn er ehrlich war, hatte Erik selbst bei Berger bisher nie darüber nachgedacht, ob und wann er ihr von dem erzählen wollte. Sicherlich nicht gleich am Anfang. Jedenfalls nicht, bis sich diese Sache zwischen ihnen irgendwie eingespielt hatte. Aber jetzt, wo Erik tatsächlich über die Frage nachdachte, war da durchaus ein Flattern in seinem Bauch.
Der Gedanke, dass er in absehbarer Zukunft vor seiner Mutter stehen und ihr nicht nur irgendjemanden, sondern eben genau Berger als seinen ‚Freund‘ vorstellen könnte, war durchaus verlockend.
„Wir ... Es ist spät. Lass uns einfach reingehen, Ma.“
Diesmal widersprach sie nicht, machte auch sonst keinen weiteren Kommentar. Da das Gedränge vor der Aula ohnehin stetig zunahm, ließen sie sich vom Strom der anderen um sie herum mittragen. Obwohl es inzwischen keine fünfzehn Minuten mehr waren, bevor die Feier anfangen sollte, war gut die Hälfte der Plätze frei. Allerdings bemerkte Erik schnell, dass ein guter Teil der Schüler, die eigentlich rechts vom Mittelgang sitzen sollten, sich noch links bei ihren Familien befanden.
„Es sind so viele Leute da“, murmelte Eriks Mutter verhalten und umfasste seinen Arm.
„Schon gut, Ma“, flüsterte er zurück, darum bemüht, seine Stimme ruhig zu halten.
Trotzdem kam auch Erik nicht umhin, zu bemerken, dass nicht wenige seiner Mitschüler offenbar mit der halben Familie hergekommen waren. Eltern, Großeltern, Geschwister. Da waren Gruppen von bis zu zehn Leuten, die gut gelaunt beieinanderstanden. Als Erik zu seiner Mutter schielte, konnte er ihre fest zusammengepressten Lippen sehen.
„Wag es ja nicht, dich dafür zu entschuldigen, dass mein homophober Arsch von Vater nicht hier ist“, knurrte Erik und zog sie mit sich den Gang entlang. „Ich brauch auch keine zehn Leute, die mir scheinheilig gratulieren.“
Ihr Griff um Eriks Oberarm wurde fester – seine Mutter antwortete jedoch nicht. Stattdessen deutete sie zu einer der ersten Reihen auf der linken Seite. Dort waren noch mehrere Plätze frei.
„Du kannst ruhig zu deinen Freunden rübergehen“, meinte Eriks Mutter mit einem zufriedenen Lächeln, nachdem sie sich auf einen der Stühle gesetzt und ihr Kleid zurechtgezupft hatte.
Erik kniff die Lippen zusammen. Davon, dass er keinen der Typen auf der anderen Seite des Ganges noch einen Freund nannte, musste sie nichts wissen. Sie hatte Eriks Outing gut aufgenommen. Dass das bei seinen Mitschülern ganz anders ausgesehen hatte, sollte sie besser nicht erfahren. Schon gleich gar nicht, was das vergangene Schuljahr sonst alles mit sich gebracht hatte. Es war vorbei – und Erik nicht bereit, irgendetwas davon weiterhin Bedeutung beimessen zu wollen.
Mit einem Mal war da aber doch etwas von Bedeutung – besser gesagt jemand. Denn während Erik in Richtung seines Kurses blickte, war es mit einem Mal Berger, der dort den Gang entlang nach vorn lief. Mit den Händen in den Hosentaschen und leicht gesenktem Kopf sah er nicht gerade fröhlich aus. Dazu das verkniffene Gesicht. Da hob Berger den Blick und sah zur Seite der Schüler hinüber. Scheinbar hatte ihn jemand gerufen. Nachdem Berger seinen Weg fortsetzte, war da das gleiche falsche Lächeln, das Erik schon viel zu oft gesehen hatte.
Der Anblick schmerzte beinahe körperlich. Im Verlauf der letzten Woche war dieses ganz andere Lächeln auf Bergers Lippen zu vertraut geworden. Ein ehrliches, echtes Lächeln von dem Erik sich wünschen würde, dass nur er es geschenkt bekam. In jedem Fall eines, das er noch viel öfter sehen wollte.
„Ist eh deutlich schöner.“
„Wie bitte?“
Überrascht sah Erik zu seiner Mutter. „Was?“, fragte er verwirrt.
„Du hast eben etwas gesagt“, gab sie mit einem Stirnrunzeln zurück.
„Wie? Nein. Ich ... Äh ...“
Das verhaltene Lachen seiner Mutter hätte Erik unter anderen Umständen womöglich weiter in die Verzweiflung getrieben. Stattdessen nutzte er jedoch die Gelegenheit und verabschiedete sich murmelnd von ihr. Da die Feier hoffentlich jeden Moment beginnen würde, war es ohnehin an der Zeit, sich endlich auf seinen Platz auf der anderen Seite zu begeben.
Um dorthin zu kommen, nahm Erik den Weg vorn um die Stühle herum. Das führte ihn allerdings direkt durch die Gruppe der Kursleiter. Bevor ihm klar wurde, dass dies zwar der kürzeste, aber womöglich nicht unbedingt cleverste Weg war, stand Erik auch schon vor genau dem Mann, dem er doch eigentlich an diesem Morgen aus dem Weg gehen wollte.
„Guten Tag, Herr Berger“, sagte Erik.
„Herr Hoffmann ...“
Dieses erzwungen unverfängliche Lächeln war nicht das, welches er sehen wollte. Erik schaffte es nicht, sich ein eigenes abzuringen, und nickte lediglich. Wenn er hier länger herumstand, hätte Erik sich zumindest verleitet gefühlt, zu fragen, ob Berger gut nach Hause gekommen war. Was reichlich dämlich anmutete, denn immerhin stand der Mann gesund und munter vor ihm. Wobei eine genauere Betrachtung von Bergers Augenringen vermuten ließ, dass der nicht besser geschlafen hatte als Erik selbst. Von ‚munter‘ wäre in diesem Fall nicht zu reden.
„Sie ... sollten an Ihren Platz gehen, Herr Hoffmann“, murmelte Berger und trat einen Schritt beiseite, um Erik den Weg frei zu machen.
Was sollte diese verdammte Förmlichkeit? Der Kerl sah ihn nicht einmal an. In Eriks Nacken kribbelte etwas – allerdings nicht auf die angenehme, mit Vorfreude erfüllte Art und Weise, wie er es in den letzten Tagen erlebt hatte. Es fühlte sich eher an, als würden tausend Augen auf ihm ruhen. Das Kribbeln breitete sich in seinem Hals aus, verdichtete sich und wuchs zu einem Kloß an, der Erik unangenehm auf den Adamsapfel zu pressen schien.
„Herr Berger? Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?“
„Natürlich, Frau Fink ...“, murmelte dieser und lief mit gesenktem Blick an Erik vorbei.
Einen Augenblick lang sah er Berger hinterher, dann dämmerte es Erik, dass das nur noch auffälliger war. Hastig stopfte er die Hände in die Hosentaschen und lief in Richtung seines Kurses. Hinter sich konnte er Frau Finks Stimme hören. Aber sie war zu leise, als dass er die Worte ausmachen könnte. Das Ziehen in Eriks Magen verstärkte sich erneut.
Hatte die Farin etwa doch ihre Chefin angerufen? Unsicher sah er über die Schulter hinweg zu den zwei Lehrern. Sie wirkten beide nicht sonderlich aufgeregt. Trotzdem zupfte Berger immer wieder am Saum des Sakkos oder strich die Krawatte glatt, während er mit zusammengekniffenen Lippen und gesenktem Kopf Frau Fink einsilbige Antworten gab.
Am liebsten wäre Erik zurückgelaufen und hätte klargestellt, dass Berger nichts falsch gemacht hatte. Aber das würde garantiert nicht so rüberkommen wie geplant. Und wirklich der richtige Ort und Zeitpunkt war das hier sowieso nicht. Egal, was Erik sagte, es würde Fragen mit sich bringen, deren wahrheitsgemäße Antworten offensichtlich niemand glaubte. Mehr und mehr setzte sich in Erik die Überzeugung durch, dass Berger ihm genau deshalb letzte Nacht eine Abfuhr erteilt hätte.
‚Weil du das Risiko am Ende eben nicht wert bist.‘
Erik verzog den Mund und wandte sich wieder ab. Vorerst blieb ohnehin keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Leise Musik begann von irgendwoher aus einem der Lautsprecher zu dudeln. Wie der Rest der Anwesenden nahm Erik das als Signal dafür, dass er sich endlich auf seinen Platz begeben sollte.