47 – Erhitztes Gemüt
Die dämlichen Handwerker waren bereits am Zusammenpacken gewesen, als Erik bei der Hütte eingetroffen war. Inzwischen waren sie seit gut einer halben Stunde verschwunden – die verdammte Lichtung entsprechend ruhig. Das Einzige, was die Stille unterbrach, waren Vogelgezwitscher und irgendwelche Insekten. Die so beschissenen kitschige Stimmung ließ Eriks eigene weiter in den Keller sinken.
Das ganze Schuljahr hatte er diese verdammten Fantasien über seinen Lehrer gehabt. Nicht selten hatte er sich selbst dafür gehasst. Bis heute war Erik nicht sicher, wie krank das Zeug tatsächlich war, das er verfasst hatte. Und trotzdem hatte Berger ihn nicht deshalb verurteilt. Nicht verraten, nicht angeschwärzt, seine Mutter nicht zum Gespräch eingeladen.
„Was machen Sie hier?“
Überrascht sah Erik auf. Genau der sture Esel, über den er sich hier mal wieder den Kopf zerbrochen hatte, stand am Fuß der Treppe. Konnte er den Kerl eigentlich nicht deuten, weil Erik sich selbst davor fürchtete, was er sehen könnte? Bisher hatte Berger ihn nie ernsthaft abgewiesen. Im Grunde gar nicht. Jedenfalls nicht so, wie Berger das eben bei Hanna gemacht hatte. Zum ersten Mal war da etwas wie ‚Angst‘, dass sich das womöglich ändern würde.
„Was soll ich hier machen?“, gab Erik statt einer richtigen Antwort zurück.
Er saß neben der Eingangstür, mit dem Rücken an die Wand der Hütte gelehnt. Die Tür war abgeschlossen. Der Gedanke daran, wo Berger die letzte halbe Stunde verbracht hatte, zog Eriks Eingeweide zusammen. Selbst wenn Hanna nicht neben ihm gesessen hatte, war sie trotzdem dort gewesen. Ein paar andere aus dem Kurs hoffentlich auch.
„Sie verpassen das Essen“, sagte Berger, kam aber nicht näher. „Wenn Sie jetzt gehen, gibt es bestimmt noch etwas.“
Erik überlegte kurz, schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Wand hinter seinem Rücken fallen. „Kein Hunger“, murmelte er. Ganz richtig war das nicht. Tatsächlich hoffte Erik, dass man das Knurren seines Magens nicht hören konnte. Appetit hatte er trotzdem nicht. Die Mühe, aufzustehen und zum Speisesaal zu laufen, erschien im Augenblick ohnehin zu groß.
„Sie sollten etwas essen.“
Erik öffnete ein Auge und grinste Berger schelmisch an, während er antwortete: „An mir wächst nur noch eine Sache. Wenigstens von Zeit zu Zeit. Aber dafür brauch ich kein Essen.“
Berger schnaubte und kam jetzt doch näher. Er stapfte zur Eingangstür und schloss auf. Kurz darauf war die Tür zu einem der Zimmer zu hören. Gesagt hatte der sture Esel natürlich nichts mehr weiter. Aber irgendwie konnte Erik ihm das nach dem Gespräch mit Hanna nicht einmal verübeln.
Seufzend rappelte Erik sich auf und schlich in das eigene Zimmer. Wieder konnte er ein Grummeln im Magen spüren – das aber ausnahmsweise nichts mit Berger, sondern vielmehr mit dem durchaus vorhandenen Hunger zu tun hatte. Für eine Sekunde überlegte Erik, ob er nicht doch zum Abendessen gehen sollte. Aber die Vorstellung, dass Hanna dort sein könnte, drehte ihm den Magen um.
‚Die blöde Kuh ist Berger bis zu dessen Wohnung nachgeschlichen.‘
Selbst jetzt, nachdem Erik sich eingestanden hatte, dass da mehr Interesse war, als seine Hausaufgaben auf den ersten Blick vermuten lassen würden, erschien ihm das als ein absolutes Unding. Berger bis zu seiner Wohnung zu verfolgen, war Stalking. Die Übelkeit, die in Erik aufstieg, wurde zunehmend stärker.
‚Und du hast gedacht, ein paar Sexfantasien wären krank.‘
Wirklich ‚gesund‘ konnte man Eriks Gedanken vermutlich nicht nennen. Aber die hatten es immerhin nur aufs Papier geschafft. Berger nachzustellen, war eine vollkommen andere Liga. Eine, bei der Eriks eigenes Tun mit einem Mal nicht mehr ganz so widerwärtig erschien, wie er bisher gedacht hatte.
Die Übelkeit ließ glücklicherweise langsam nach, dafür kam das Grummeln zurück. Da Erik weiterhin nicht zum Speisesaal wollte, durchsuchte er seinen Rucksack. Von der Wegzehrung, die er am Morgen eingepackt hatte, war noch etwas übrig. Das würde für heute genügen. Der Appetit war ihm schließlich ohnehin vergangen.
Anschließend vielleicht kurz ausruhen.
✑
Nur langsam wurde Erik klar, wo er war. Mit einem Stöhnen drehte er sich auf den Rücken und starrte zur Zimmerdecke. Wirklich etwas erkennen konnte er nicht.
‚Mitten in der Nacht‘, wurde Erik klar. Ein weiteres Seufzen entkam ihm. ‚Das kommt davon, wenn man am helllichten Tag einpennt.‘
Langsam richtete Erik sich auf und sah sich um. Mit der Hand kratzte er über das T-Shirt vor seiner Brust. Er hatte nicht einmal geduscht, nachdem sie wieder da waren. Wirklich verschwitzt fühlte Erik sich nicht und da es draußen stockdunkel war, hieß das vermutlich, dass Berger bereits schlief. Bei den dünnen Wänden wachte der am Ende auf, sobald Erik das Wasser aufdrehte. Da Berger ziemlich fertig ausgesehen hatte, beschloss er, die Dusche auf den nächsten Morgen zu verschieben.
„In Klamotten schlafen, ist trotzdem ziemlich assi“, sagte Erik sich selbst und stand auf. Das Shirt vom Tag sowie kurze Hose samt Unterhose landeten auf dem Stapel mit Dreckwäsche, der seit seiner Ankunft hier täglich anwuchs.
Mit frischer Unterwäsche am Leib machte Erik sich wieder auf den Weg zurück zum Bett. Wirklich müde war er nicht, aber was blieb ihm hier schon anderes übrig. Sein Datenvolumen würde vermutlich nicht für sonderlich viel surfen am Handy reichen. Und die blöde Herberge hatte ja kein kostenloses W-Lan. Zumindest nicht hier in diesen Hütten. Vielleicht hätte das im Haupthaus ja anders ausgesehen.
Plötzlich war ein Geräusch zu hören und Erik fuhr herum. Er starrte in Richtung der Zimmertür, aber natürlich kam niemand herein. Wer sollte sich auch mitten in der Nacht hier herumtreiben?
„Berger“, flüsterte Erik verhalten und trat ans Fenster heran. Scheinbar lag sein Lehrer doch nicht wie angenommen todmüde im Bett.
Erik blickte hinaus und konnte er im Mondlicht eine Gestalt erkennen, die sich auf die Treppe setzte. Ein Gefühl von Déjà-vu überkam ihn, während er auf den gebeugten Rücken starrte. Selbst bei dem schwachen Licht konnte Erik erkennen, dass Berger neben der Jeans nur ein T-Shirt trug. Für einen Augenblick wirkte es falsch, dass der Mann so etwas überhaupt besaß. Immerhin hatte Erik ihn bisher nur in den verdammten langärmligen Hemden gesehen.
‚Und dem Badeshirt.‘
In Eriks Brust wuchs das unschöne Gefühl, das er in letzter Zeit häufiger verspürt hatte. Es war nicht wirklich bestimmbar. Kein schmerzhaftes Ziehen oder reißen, aber trotzdem fühlte es sich an, als würde da etwas fehlen. Wie ein Loch an einer Stelle, wo es nicht hingehörte. Und gerade jetzt pfiff der Wind durch – spielte dabei eine einsame Melodie, die Erik nicht hören wollte.
Aber manchmal tat es verflucht weh.
Woher der spontane Entschluss kam, hätte Erik nicht sagen können. War am Ende ohnehin nicht wichtig. Entscheidend war vermutlich nur, dass er erneut zur kurzen Hose griff, sie überstreifte, sich ein frisches T-Shirt schnappte und zwei Minuten später ebenfalls vor die Hütte trat.
Berger saß längsseits auf der Treppe. Kaum hatte er Erik gehört, hob er den Kopf und sah verwundert zu ihm auf. „Habe ich Sie geweckt, Erik? Das tut mir leid.“
„Nein“, gab er mit einem zögerlichen Lächeln zurück. Langsam trat Erik einen Schritt vor und hielt Berger eine Flasche Bier vor die Nase. „Für Sie.“
Darauf, dass eine Hand hochkam, um auf das Angebot einzugehen, wartete Erik jedoch vergeblich. Also stellte er die Flasche stattdessen vor Berger ab und trat zurück zur Hütte. Dort ließ er sich an der Wand neben der Tür hinabgleiten, bis er dem sturen Esel von Lehrer quasi gegenübersaß.
Jetzt griff Berger doch nach der Flasche, drehte sich ebenfalls herum und setzte sich seinerseits mit dem Rücken gegen den Pfosten des Verandageländers neben der Treppe. Auf der anderen Seite wohlgemerkt. Selbst wenn sie beide die Beine ausstreckten, würden sie sich nicht einmal berühren.
Es wirkte merkwürdig nervös, wie Berger mit den Fingern über das Etikett strich und an einer Ecke davon pulte. Der dunkle Streifen auf der hellen Haut am linken Handgelenk schien hingegen allmählich ein gewohnter Anblick zu werden. Einer, über den Erik heute nicht wirklich nachdenken wollte.
„Ich glaube nicht ... dass es in Ordnung ist, wenn ich mit Ihnen trinke“, murmelte Berger, ohne Erik anzusehen.
Dieser rang sich ein Lächeln ab. „Ich weiß. Sie könnten sich alleine betrinken und ich bleib dafür heute nüchtern.“
Lächelnd schüttelte Berger den Kopf. Die Flasche war aber weiterhin in seiner Hand. „Lieber nicht.“
„Ich habe gehört, wie Sie vorhin mit Hanna im Speisesaal geredet haben.“
Berger verzog den Mund und sank in sich zusammen. Erik hätte nicht sagen können, wie lange er auf eine Antwort wartete, aber es fühlte sich an, als wären es Stunden. Trotzdem kam sie nicht. Er lächelte gequält und senkte den Blick auf die zweite Flasche, die er ebenfalls weiterhin ungeöffnet in Händen hielt.
„Sie haben gesagt ... ich hätte Ihnen nie einen Liebesbrief geschrieben“, murmelte Erik schließlich. Wieder keine Antwort – allmählich fing es an zu nerven. „Was ich Ihnen vorgesetzt habe, dürfte deutlich schlimmer gewesen sein. Warum ... gab es da nie ein Gespräch mit meiner Mutter?“
Es war schwer, mit gesenktem Kopf zu Berger zu sehen, aber irgendwie gelang es Erik trotzdem. Immerhin entging ihm so nicht das sanfte Zucken an den Mundwinkeln.
‚Ein Lächeln? Vielleicht ...‘
„Waren nicht an mich adressiert, oder?“, gab Berger schließlich heiser zurück. „Stand weder mein Name drüber noch drinnen. Waren nur ... Hausaufgaben.“
Erik war sich nicht sicher, ob er das positiv oder negativ bewerten sollte. Aber es klang falsch und das dürfte ihnen beiden klar sein. Der Kerl da drüben war zu clever, um nicht verstanden zu haben, über wen Erik geschrieben hatte.
„Und wenn ich mich speziell an diesen ersten Aufsatz erinnere ... also das waren weder Sie noch ich da drinnen.“
Überrascht hob Erik den Kopf und sah sich einem geradezu hinterhältigen Grinsen gegenüber. „Wie bitte?“, presste er keuchend heraus.
Berger zog ein Bein an, stützte den Ellenbogen gegen das Knie und legte anschließend das Kinn in seine verletzte rechte Hand. „Hm ... Weiß nicht, ob so ein Gespräch angemessen ist.“
„Warum? Angst, dass Sie sich geirrt haben und ich es womöglich doch wahr gemacht hätte?“ Erik schluckte. Was redete er denn da? Wo kamen diese verfluchten Worte her?
Das Lächeln auf der anderen Seite der Veranda war unvermindert, während Berger inzwischen die Bierflasche am oberen Ende hielt und zwischen den Fingern auf seinem linken Bein hin und her drehte.
„So sind Sie nicht“, sagte Berger.
Die gleichen Worte hatte er schon mehrmals ausgesprochen, aber Erik war sich weiterhin nicht sicher, ob sie wahr waren. Denn da war mal wieder dieses Kribbeln, das aus seinem Bauch tiefer kroch, sich ausbreitete und mit jeder Sekunde nach mehr Blut verlangte. Dieser Drang, aufzustehen, dort rüber zu gehen und sich diesen verfluchten Kuss zu holen.
Wenigstens den.
Aber gleichzeitig sträubte sich alles in Erik dagegen. Nicht nur, weil es nicht anständig wäre. Nein, da war noch mehr. Berger sollte es wollen. Es durfte nicht einfach nur ein beschissener Kuss sein. Den könnte Erik von jedem Idioten bekommen, wenn er es wirklich darauf anlegen würde. Aber das wäre nicht das Gleiche. Und es wäre nicht das, was Erik tatsächlich wollte. Das war Berger. Ganz. Mit Haut und Haar und jedem verfluchten Organ, das da irgendwo drinnen war.
Vielleicht war Erik deshalb ja doch ein Arschloch.
„Obwohl Sie zweifellos dominante Tendenzen haben ... Sie haben sich schon so lange eine Kette angelegt, dass Sie selbst ohne die weiterhin neben dem Pflock stehen würden.“
Nicht zum ersten Mal hatte Erik das Gefühl, als könnte der Blödmann seine Gedanken lesen. „Wie bitte?“, keuchte er erneut und sah mit weit aufgerissenen Augen zu Berger. Dessen Lächeln war noch immer da – auch wenn es inzwischen wesentlich scheuer wirkte.
„Außerdem ... Ganz ehrlich? Ich bin zu alt für einen Quickie im Klassenzimmer. Die Schultische sind so beschissenen klein und schmal, das macht keinen Spaß. Glauben Sie mir.“
Bevor er sich bremsen konnte, war die nächste Frage schon aus Erik herausgebrochen: „Sprechen Sie aus Erfahrung?“
„Ja.“
Irgendwie wartete Erik darauf, dass da noch mehr kam. Dass Berger etwas hinzufügte – lauthals loslachte, grinste, irgendetwas. Aber der Kerl lächelte einfach weiter und sah ihn mit einer verfluchten Herausforderung in den Augen an.
‚Fuck!‘
„Wollten Sie das nicht trinken?“
„Hm?“ Irritiert von dem plötzlichen Themenwechsel sah Erik auf die Flasche in der eigenen Hand, auf die der Sturkopf da drüben mit dem Finger zeigte. „Ah! Hab ... keinen Flaschenöffner gefunden.“
Berger lachte, stellte die Flasche beiseite und beugte sich nach vorn. Als der schwarze Haarschopf plötzlich kurz über Eriks Schoß war, schoss dem das Blut überraschenderweise in die Wangen, nicht in die entgegengesetzte Richtung. Berger zog ein Feuerzeug aus der Hosentasche und mit einem Plopp war die Bierflasche offen.
Und der fiese Kerl saß wieder da, wo er eben bereits gesessen hatte.
„Dan...ke.“
„Zum Wohl“, meinte Berger und hielt seine eigene – weiterhin geschlossene Flasche nach oben.
„Sie werden nicht mit mir trinken, oder?“
Berger lächelte lediglich, antwortete jedoch nicht. Nun gut. Das wäre letztlich überflüssig. Sie wussten beide, was er sagen würde. Erik trank einen großen Schluck aus der Flasche und senkte den Kopf. Schweigen trat ein und vertrieb das angenehme Kribbeln. Trotzdem tobte etwas in Erik, das er nicht beschreiben konnte. Womöglich einfach nur dieser Funken Hoffnung, dass er sich nicht total lächerlich machte. Berger hatte Hanna klar abgewiesen. Es hatte Treffen mit ihren Eltern gegeben. Da war ein deutliches ‚Nein‘ gewesen.
Und bei Erik? Berger hatte ihn nie wegen der Aufsätze verpetzt. Keine Gespräche mit seiner Mutter, der Direktorin oder sonstige Zurechtweisungen. Kein Schulpsychiater, keine Bullen.
‚Kein Nein.‘
Erik nahm einen weiteren großen Schluck. Womöglich würde es helfen, seine Zunge zu lockern. Trotzdem erschien ihm die eigene Stimme erbärmlich schwach und leise, während Erik schließlich die eine Frage stellte, die ihm im Augenblick blieb: „Was ... muss ich tun, damit Sie mir eine Chance geben?“
Nachdem Berger weiterhin nicht antwortete, sah Erik irgendwann wieder auf. Aber er konnte den Gesichtsausdruck von dem Kerl erneut nicht deuten. Sah er das nur nicht oder war Berger zwischenzeitlich tatsächlich immer wieder so kühl und emotionslos? Der Druck in Eriks Brust wuchs an. Dieses unbestimmte Gefühl, als würde da irgendetwas fehlen. Ein schwarzes Loch, das stetig drängender versuchte etwas zu finden, das es stopfen konnte.
‚Es ist nur eine Fassade‘, flüsterte es in Eriks Kopf.
Er war geneigt zuzustimmen. Noch vor ein paar Minuten war da jemand anderer gewesen. Jemand, der mit ihm gesprochen hatte, der Erik einen Einblick gewährt hatte. Und sei es nur für ein paar Sekunden. Aber er war da gewesen. Und irgendwo hinter dieser scheinbar emotionslosen Fassade war dieser Kerl – und wartete. Worauf auch immer. Ein weiterer Schluck. Nicht mehr viel und die Flasche wäre leer.