39 – Fortschreitende Konversation
Die Tatsache, dass sie hier im Funkloch aller Funklöcher zu sitzen schienen, ohne Plan, wo sie hingehen mussten, war an sich schon beschissen genug. Dazu die miese Laune von dem Kerl neben ihm, sengende Hitze von der Sonne über ihnen und nicht zu vergessen das verfickte Grinsen, das Sandro Erik gezeigt hatte, bevor er sich erneut als Fremdenführer aufgespielt hatte. Inzwischen trotteten sie einen verfluchten Waldweg entlang, auf dem man gerade noch nebeneinander hergehen konnte.
Vor ihnen murrten die müden Mitschüler, dass sie keinen Bock mehr hatten. Die etwas Fitteren jammerten, dass das hier die beschissenste Klassenfahrt ever war. Und diejenigen, die letzte Nacht definitiv keinen über den Durst getrunken hatten und entsprechend bisher keinerlei große Probleme hatten, gifteten herum, dass der Rest gefälligst endlich die Klappe halten sollte, weil es eh nichts änderte.
„Schlimmer kann es nicht mehr werden“, jammerte Erik verhalten – scheinbar war die Nörgelei ansteckend.
„Seien Sie vorsichtig mit ihren Behauptungen“, murrte Berger ebenso leise.
Sie liefen beide weiterhin am Ende der Gruppe. Zugegeben war das der einzige Lichtblick an diesem ansonsten eher miesen Tag bisher. Wobei das eine recht großzügige Betrachtung der Tatsachen war. Denn letztendlich hatte Berger weiterhin schlechte Laune und Eriks eigene näherte sich diesem Niveau zunehmend an.
Vor allem, weil der Sturkopf neben ihm keinen Finger zu rühren schien, um die nervige Situation zu beseitigen. Schließlich hätte Berger nur vor der dämlichen Abstimmung das Maul aufmachen müssen und sein Fanklub wäre freudestrahlend mit ihm zurück ins Dorf marschiert. Dass der Rest der Gruppe genauso gefolgt wäre, stand außer Frage.
Nach einem Blick auf die beiden Jungen vor ihnen entschied Erik, dass die von einem Gespräch zwischen ihm und Berger nicht viel mitbekommen würden. Schließlich maulten sie die meiste Zeit lautstark herum, wie bescheuert die ganze Aktion war und dass sie lieber am Strand liegen und ein paar Mädels klarmachen wollten, als in irgendeinem dämlichen Wald herumzuirren.
„Warum laufen Sie hier hinten?“, fragte Erik zögerlich und schielte zu Berger.
„Wo sollte ich sonst sein?“
Nicht ganz sicher, wie er diese Gegenfrage auffassen müsste, deutete Erik mit einer Hand auf die vor ihnen laufenden Jungen. „Na irgendwo da vorne. Sie haben in den letzten Tagen doch auch den Ton angegeben.“ Berger zuckte mit den Schultern und antwortete nicht. Der fest zusammengepresste Kiefer wirkte allerdings, als wäre da durchaus etwas im Argen.
„Sie haben gar nichts getan, Erik.“
Obwohl die Worte eindeutig erschienen, bekam er das verfluchte Gefühl nicht aus seinen Innereien, dass sie nicht so gemeint waren. Vielleicht hatte er tatsächlich nichts getan, aber das hieß nicht, dass er nicht irgendeinen Unsinn gesagt hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Erik schließlich.
„Wir haben den falschen Weg genommen“, antwortete Berger emotionslos.
„Sie wissen, was ich meine.“
Das leise Lachen war in gewisser Weise ermutigend. „Bin immer noch kein Gedankenleser.“
Erik stöhnte kaum hörbar, verkniff sich aber einen weiteren Kommentar zu diesem Thema. Warum konnte der Kerl ihm nicht endlich eine klare Antwort geben?
Eine Antwort auf diese blöde Frage vom letzten Unterrichtstag wagte Erik ja schon gar nicht mehr zu hoffen. Aber manchmal wirkte Berger wie ein glitschiger Fisch, den man versuchte mit bloßen Händen zu fangen. Immer wenn Erik dachte, dass er den Kerl endlich erwischt hatte, flutschte er ihm durch die Finger.
Zögerlich sah Erik nach links, aber Berger starrte weiter stur geradeaus. Vielleicht wäre es in der Tat besser, es auf sich beruhen zu lassen.
„Ich bin immer noch Ihr Lehrer. Viel zu ... alt.“
Erik musste sich ein wütendes Schnauben verkneifen, als er den Blick wieder nach vorn richtete. Achtundzwanzig war nun wirklich nicht sonderlich alt. Okay, es waren neun Jahre mehr, als er selbst vorweisen konnte. Aber das würde in neunzehn weiteren keinen interessieren. Bei dem Gedanken begann etwas in Eriks Bauch zu flattern. Das war eine verflucht lange Zeit und auch wenn er es ungern zugab, im Grunde wusste er wirklich nicht viel über Berger. Aber Erik plante hier ja schließlich nicht ernsthaft für die nächsten Jahrzehnte. Ganz so dämlich und verpeilt war dann auch wieder nicht.
„Glauben Sie denn daran, dass ihre nächste Liebesbeziehung die einzig verbleibende in Ihrem Leben sein könnte, Erik?“
Das Flattern verstärkte sich erneut. Hatte Berger das nicht irgendwann Anfang des Jahres im Unterricht zu ihm gesagt? Bis heute war Erik sich nicht sicher, wie er diese Frage beantworten sollte. Es klang albern, kindisch und irgendwie dämlich, anzunehmen, dass er sich nur noch einmal zu verlieben brauchte, und das würde bis zum eigenen Tod anhalten. Wie viele Leute gab es, die das in seinem Alter erreichten?
‚Bleibt die Option des kurzen Lebens‘, warf der Quälgeist wenig hilfreich ein.
Erik schloss genervt von sich selbst die Augen und stolperte für einen Moment blind durch die Gegend, bevor er sie doch besser wieder öffnete. Dann war Berger eben neun Jahre älter als Erik. Das spielte letztendlich keine Rolle. Und sein Lehrer wäre der Kerl nächste Woche auch nicht mehr. Also hätten sich die beiden Punkte erledigt.
Dass Berger Männern nicht abgeneigt war, hatten sie Eriks Meinung nach ebenfalls geklärt. Und er war sich sicher, dass der Kerl es ziemlich beschissen gefunden hatte, als er dachte, Erik hätte sich mit Mathis in der Umkleide vergnügt.
„Ich will Ihnen das nicht antun.“
Erik stockte. Wortwörtlich. Mit Stehenbleiben und dafür umso schneller vorwärts rasendem Herzen. Wo zum Teufel kam das denn her?
„Erik? Alles okay?“
Unfähig zu antworten, starrte er Berger an. In seinem Hirn rotierte jede zur Verfügung stehende Zelle. Sah man von denen ab, die durch Alkohol und Schmerztabletten betäubt waren, kam das auf eine deutlich höhere Anzahl als sonst. Trotzdem konnte Erik nicht feststellen, wann er Berger das hatte sagen hören.
‚Gestern?‘
Scheiße! Was zum Henker hatte Erik gesagt oder getan, dass der Kerl mit so einem dämlichen Spruch kommen würde? Und was sollte Berger ihm antun können?
„Erik.“
Überrascht fuhr er zusammen – hatte Mühe, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren und nicht weiter in den versunkenen Tiefen seiner Erinnerung nach den Geschehnissen der letzten Nacht zu kramen.
„Herr Hoffmann!“
Okay, jetzt wurde Berger allmählich sauer. Zeit, die Hirnzellen für etwas Produktiveres zusammenzuraffen. „Ja“, gab er schnell zurück und zwang sich selbst dazu, weiterzulaufen.
„Alles in Ordnung?“, fragte Berger jedoch ein weiteres Mal nach.
Da war erneut diese Falte auf seiner Stirn. Genau die, bei der es Erik schon früher am Tag in den Fingern gejuckt hatte, sie wegzustreichen. Nicht zu vergessen das eigentlich recht angenehme Flattern, das im Moment aber reichlich unangemessen erschien. Vom miesen Timing mal ganz abgesehen.
„Nein“, meinte Erik schließlich und schaffte es, ein Grinsen aufzusetzen. „Ich latsch hier durch den Wald mit einem Haufen ... Leute, von denen ich die meisten keine zehn Sekunden vermissen werde, wenn dieses Schuljahr endlich vorbei ist. Wir haben null Plan, wo wir sind, lang müssen oder ... zumindest potenziell ankommen könnten. Und die einzige grundlegend angenehme Begleitung will weder mit mir reden, noch ... irgendetwas ... anderes tun.“
Berger schnaubte und schüttelte den Kopf. „Da waren Sie in Ihren Aufsätzen subtiler.“
„Tja, mit ‚subtil‘ bin ich nicht weit gekommen bisher.“
Diesmal war es Berger, der stockte und mit undeutbarem Blick zu Erik aufschaute. „Wollen Sie das echt hier klären? In Hörweite der anderen?“
Das Flattern in Erik Bauch wurde kurzzeitig von einem Ziehen unterbrochen, fing sich kurz darauf aber wieder. „Nein. Allerdings habe ich wenig Hoffnung, dass Ihre Antworten woanders besser ausfallen würden.“
Diesmal verzog Berger das Gesicht. Ein kurzer Seitenblick wanderte zu den beiden Jungen, denen sie gefolgt waren. Inzwischen hatten die sich lockere zehn Meter entfernt – sie selbst waren damit definitiv dabei, den Anschluss zu verlieren.
„Sie haben völlig falsche Vorstellungen, Erik“, setzte sein Lehrer schließlich zögerlich an.
„Worüber?“
„Mich!“, rief Berger und zuckte vor der eigenen Lautstärke erschrocken zusammen. Die beiden Jungen liefen aber weiter, hatten offenbar nichts bemerkt. „Sagen Sie mir, wo das hinführen soll.“
Einen Moment lang erwartete Erik, dass sein mentales Arschloch an dieser Stelle die eine oder andere weiche Unterlage – vorzugsweise ein Bett – anführen würde. Der Kommentar blieb überraschenderweise aus. Dummerweise hatte Erik so keine Ahnung, was er antworten sollte.
Berger atmete tief durch und fuhr sich durch die Haare, bevor er ansetzte: „Ich ...“ Aber anstatt den Satz zu beenden – oder wenigstens mal wirklich anzufangen – brach Berger sofort ab und schüttelte den Kopf.
In Eriks Bauch begann es zu brodeln. Der Kerl hatte ihm schon einmal mit dem Altersunterschied kommen wollen. So einfach würde Berger diesmal nicht davonkommen: „Was? Sie sind ‚zu alt‘? Das ist Blödsinn und das wissen Sie. Wenn ich mit Ihnen ausgehe, werden Sie nach dem Ausweis gefragt, nicht ich. Und in nicht einmal einer Woche bin ich auch nicht mehr Ihr Schüler.“
Ein Schnauben, bevor Berger erneut den Kopf schüttelte. „Wir müssen weiter“, antwortete er lapidar.
Erik konnte förmlich sehen, wie die Schotten sich schlossen und der Kerl sich hinter der üblichen, kalten Fassade verschloss. Allmählich fing diese Ausweichtaktik an, massiv zu nerven. Trotzdem stapfte er Berger hinterher, der mit deutlich schnellerem Schritt als bisher versuchte, zum Rest der Gruppe wieder aufzuholen.
„Sie sind nicht besser“, murrte Erik wütend, als er zu Berger aufgeschlossen hatte.
Es dauerte einige Minuten, aber schließlich fragte der zurück: „Als wer? Und womit?“
„Als das, was Sie mir vorwerfen“, sagte Erik und blickte zu Berger hinüber. Der sah seinerseits irritiert zurück. Bevor der Kerl eine weitere blöde Frage stellen konnte, antwortete Erik: „Sie wissen über mich auch nicht wirklich etwas. Wer sagt Ihnen, dass Sie von mir nicht ebenso eine völlig falsche Vorstellung haben?“
Weil er zur Abwechslung auf eine Antwort verzichten konnte, beschleunigte Erik erneut seine Schritte und kämpfte sich mit einem gemurmelten „Entschuldigung“ an den beiden Jungen vor ihnen vorbei.
Vielleicht hatte der bescheuerte Lehrer jetzt auch endlich einmal was zum Nachdenken. Wobei Erik wenig Hoffnung darauf hegte, dass das bei dem zu irgendeiner Art von Gedankenchaos führen würde.
‚Diese Flucht nach vorn wirkt nicht sonderlich erwachsen‘, warf prompt der mentale Quälgeist in bester Arschlochmanier in die Runde. Auf den hatte Erik aber ebenfalls keinen Bock und so lief er kurz darauf in der Mitte der sich zunehmend auseinanderziehenden Gruppe.
Das machte leider gar nichts besser. Denn abgesehen davon, dass er sich eine dämliche Antwort von dem blöden Sturkopf da hinten ersparte, hatte er jetzt eben auch keine Gesellschaft mehr. Jedenfalls nichts, was als ‚gut‘ in dieser Hinsicht hätte herhalten können. Als Erik kurz nach vorn und hinten schielte, waren da nur Leute, mit denen er an guten Tagen schon nicht viel am Hut hatte.
‚Heute ist ein mieser Tag.‘
Erik biss die Zähne zusammen und beschleunigte seine Schritte erneut. Die zwei Mädchen vor ihm maulten genervt, als er sich an ihnen vorbeidrängelte. Ein paar Meter weiter vorn sah er Sophie und für einen Moment war da die Idee in Eriks Kopf, dass er ja für eine Weile neben der herlaufen könnte. Schließlich hing die ihm in den letzten Tagen oft genug auf der Pelle. Er könnte den ‚Gefallen‘ ja zur Abwechslung erwidern.
Der Schmerz in seinem Kiefer wurde stärker, als er die Zähne fester aufeinanderpresste. Wenn Erik schon so weit war, dass er sich lieber mit Sophie als mit Berger unterhielt, war irgendetwas definitiv nicht mehr in Ordnung.
„Scheiße“, murmelte Erik verhalten, passte sich dabei aber allmählich dem Tempo der anderen Schüler um ihn herum an.
Zehn Minuten später war er kurz davor, sich doch wieder weiter nach hinten fallen zu lassen. Andererseits würde es reichlich beschissen aussehen, hier einfach stehen zu bleiben und darauf zu warten, dass Berger vorbeikam. Zumal Erik keine Ahnung hatte, was er dem sagen sollte. Der sture Bock konnte ihm ganz sicher nicht vormachen, dass da null Interesse war. Ansonsten hätte er längst eine eindeutige Abfuhr kassiert. Oder?
‚Hanna hat die auch nicht bekommen‘, verhöhnten Eriks eigene Gedanken ihn mal wieder. War er am Ende eben doch nur genauso lästig wie die?
Glücklicherweise konnte er darüber nicht sonderlich lange nachgrübeln. Sie erreichten einen Geröllplatz, wo die Ersten sich bereits seufzend, stöhnend und jammernd niedergelassen hatten. Augenscheinlich war es Zeit für die nächste Rast. Dass sie inzwischen eine Stunde überfällig waren, erwähnte niemand – wäre im Grunde genommen auch nur noch eine Randnotiz für dieses jämmerliche Schauspiel.
Als Eriks Blick über die Gesichter glitt, stellte er schnell fest, dass Damian und Alina zusammen mit Hanna und einem weiteren Mädchen abseits saßen. Alle vier sahen nicht sonderlich glücklich aus und die bösen Blicke, die einige der anderen ihnen zuwarfen, sagten vieles. Zumindest wenn es darum ging, wer für diese beschissene Idee mit der Wanderung verantwortlich war.
‚Alle Schuldigen auf einem Haufen.‘
Da Erik selbst allmählich die Beine schwer wurden, trat er, nachdem er ebenfalls den Platz betreten hatte, zu einem Baum hinüber. Erik lehnte sich mit dem Rücken dagegen und schloss für einen Moment die Augen. Einmal mehr war er dankbar für die Schmerztabletten, die Berger ihm am Morgen gegeben hatte. Ohne die würde ihm vermutlich erst recht der Schädel dröhnen. Was die ohnehin beschissenen Umstände geradezu unerträglich gemacht hätte.
‚Apropos ... wo ist Berger eigentlich schon wieder?‘
Suchend sah Erik sich um, konnte den Kerl aber nicht unter den Anwesenden entdecken. Dafür trudelten weiterhin Nachzügler ein. Scheinbar hatte sich die Gruppe inzwischen ziemlich in die Länge gezogen. Glücklicherweise war der Weg nicht zu übersehen, sonst würde am Ende der eine oder andere hier verloren gehen.
Wie automatisch zuckte sein Blick in Richtung Sandro, der mit gesenktem Kopf neben Ines saß – die allerdings nicht sonderlich glücklich aus der Wäsche blickte. Das tat aber zugegeben im Moment niemand. Trotzdem wäre Erik bei gewissen Leuten nicht böse, wenn die sich hier im Wald verirrten.
„Es war eine Scheißidee weiterzugehen“, murmelte jemand, den Erik nicht sofort ausmachen konnte.
„Du hast genauso dafür gestimmt“, zischte es prompt von Sandro zurück.
Streit passte der harmoniebedürftigen Frau Hirvi so gar nicht ins Bildungskonzept und deshalb fuhr sie umgehend dazwischen: „Hören Sie auf. Wir haben abgestimmt. Es wird keine Schuldzuweisungen geben.“
Das sah Erik nach einem Blick zu Damian und seinen drei Weibern vom ‚Planungskomitee‘ anders. Diesmal hielt er aber wohlweislich die Klappe. Beim letzten Stopp hatte das schließlich auch zu keiner Verbesserung geführt. Während er auf die vier zusammengesunkenen Gestalten starrte, schob sich Frau Farin durch Eriks Sichtfeld. Etwas irritiert folgte sein Blick ihr automatisch.
Als sie zielstrebig den letzten eintrudelnden Schülern entgegenlief, war Erik schnell klar, zu wem sie wollte. Ganz sicher nicht zu den beiden müden Gestalten, die sich kurz darauf auf der gegenüberliegenden Seite dieses Dreckplatzes niederließen. Nein, natürlich ging die Frau direkt zu dem Kerl, der den Abschluss ihrer Truppe darstellte. Allerdings sah Berger, kaum dass er bemerkte, wer da auf ihn zukam, wieder ausgesprochen verkniffen aus und stockte bereits am Rand ihres Rastplatzes.
‚Da liegt definitiv etwas im Argen.‘
Die umgehend einsetzende Neugier war vielleicht nicht sonderlich ‚anständig‘, aber diese beschissene Einstellung hatte ihm schließlich bisher, was Berger anging, eher Probleme bereitet als geholfen. Möglichst unauffällig schlenderte Erik deshalb ein paar Meter in die Richtung, wohin Frau Farin just in diesem Augenblick Berger erreichte. Es sah aus, als wolle sie ihn beiseiteziehen. Damit traf sie allerdings nicht auf Gegenliebe, sondern eher auf Gegenwehr.
Aus dem Augenwinkel schielte Erik in die Runde der versammelten Schüler, ob ihn irgendjemand beobachtete. Aber die schienen alle mit sich selbst genug beschäftigt zu sein. Sogar Hanna hielt den Kopf gesenkt. Drei bis vier Meter von Berger und Frau Farin entfernt, ließ Erik sich neben einem Baum zu Boden gleiten und starrte stur in die Mitte der kleinen Lichtung. Leider war er wohl doch nicht nah genug, denn obwohl er aus dem Augenwinkel sehen konnte, dass Frau Farin Berger etwas zuflüsterte, konnte er nicht verstehen, worum es ging.
Berger sah allerdings nicht glücklich aus und schüttelte leicht den Kopf, bevor er einen Schritt nach rechts machte – und dabei den Abstand zu Erik um gut einen Meter verringerte.
Da auch Frau Farin scheinbar nicht mehr ganz so viel Wert auf Lautlosigkeit zu legen schien, konnte er diesmal ihre gezischten Worte verstehen: „Sie können sich hier nicht länger heraushalten.“
„Ach ja? Ich mache genau das, was Sie erreichen wollten, als Sie Frau Fink angerufen haben“, gab Berger seinerseits wütend zurück.
Zunächst sah die Farin aus, als wollte sie widersprechen, dann schnappte ihr Mund aber doch wieder zu und sie sah Berger verkniffen an. Der hatte augenscheinlich kein Interesse an einem weiteren Gespräch und drehte sich erneut um. Nachdem sein Blick dabei auf Eriks traf, war er selbst sich nicht sicher, ob der Kerl tatsächlich zusammenfuhr. Ein Moment des Zögerns, bevor Berger sich wieder zu Frau Farin umdrehte.
Erik konnte nur zu gut sehen, dass Berger zunächst tief durchatmete. Die Hand, die gedankenverloren das üblicherweise ordentlich gekämmte Haar durcheinanderbrachte, zeigte ebenso, dass Berger aufgewühlt war. Zumindest bildete Erik sich das ein. Beide entfernten sich erneut ein Stück. Diesmal sah es aus, als würde Berger nun doch mit der Farin reden.
Dummerweise waren die beiden so wieder zu weit weg, um zu verstehen, worum es ging. Während Berger weiterhin recht verkniffen aussah, zeichnete sich auf Frau Farins Gesicht deutliche Erleichterung ab. Offensichtlich würde sie die Hilfe bekommen, die sie gesucht hatte.
‚Wie soll er den Mist hier denn in Ordnung bringen?‘, fragte Erik sich prompt.
Sie waren mitten im Nirgendwo. Als Erik sein Handy herauszog, war da kein einziger Balken zu sehen. Der Versuch, Maps aufzurufen, scheiterte umgehend. Sie wussten also weiterhin nicht, wo genau sie waren, lang mussten oder wie weit sie von ihrem Ziel entfernt waren.
Erst als Frau Farin zu ihrer Kollegin zurücklief, bemerkte Erik, dass das Gespräch mit Berger offenbar endgültig beendet war. Letzterer sah weiterhin nicht zufrieden aus – hätte Erik aber auch sehr verwundert, wenn es in dieser beschissenen Situation irgendetwas geben würde, was als ‚positiv‘ betrachtet werden konnte.
Wieder atmete Berger tief durch, stapfte anschließend er durch die Gruppe hindurch zum gegenüberliegenden Rand des Schotterplatzes. Dort ging – kaum erkennbar – der Weg offenbar weiter. Nachdem Berger den Pfad inspiziert hatte, sah er missmutiger aus als ohnehin schon.
‚Es wäre klüger gewesen, gleich umzukehren‘, sagte Erik sich, hielt aber den Mund.
Wenn sie jetzt zurückliefen, würden sie lockere drei Stunden brauchen, um ihr Ziel zu erreichen. Wäre das hier nicht so ein Funkloch, hätten sie vom Dorf aus wenigstens die Busfahrer anrufen und zurück in ihre Unterkunft fahren können. Wobei sie ja vielleicht einen der Dorfbewohner erweichen konnten, sie vom Festnetz aus Anrufen zu lassen. In der heutigen Zeit würde ja wohl irgendjemand in diesem Kaff ein Telefon haben, das funktionierte.
Aber die Übrigen davon zu überzeugen, den Weg zurückzulaufen, dürfte ziemlich unmöglich sein. Denn dann müsste ja ein Teil von denen zugeben, dass sie Scheiße gebaut hatten bei der Abstimmung. Und schließlich konnte man die verfickte Straße, die sie erreichen wollten, über die Bäume hinweg weiterhin erkennen. Luftlinie sollten sie in weniger als einer halben Stunde dort sein. Dass das in diesem verfluchten Wald einem beschissenen Trugbild glich, hatten sie inzwischen alle kapiert.
„Also auf“, rief Berger und bedeutete dem Kurs, sich zu erheben. „Wenn wir heute noch ankommen wollen, müssen wir weiter.“
Eigentlich hätte es ihn nicht verwundern sollen. Es war ziemlich klar, dass Frau Farin Berger dazu gebracht hatte, sie bei diesem Irrsinn zu unterstützen. Trotzdem kam Erik nicht umhin, sich zu fragen, wieso der tatsächlich nachgegeben hatte. Und er war vermutlich nicht der Einzige, denn da waren einige verwunderte Blicke, die nach dieser Ansage Berger trafen.
Natürlich sprang Hanna umgehend auf. Mit einem unguten Gefühl im Magen beobachtete Erik, wie sie sich zusammen mit einigen anderen zu einer Gruppe zusammenfand, damit sie weiterlaufen konnten. Mit einem Mal sah er ein Bild von Hanna vor sich, wie die Berger von hinten quasi anfiel und ihre Arme um diesen schlang. Das ungute Gefühl wurde zu einem Brennen, das wiederum die Wut anfachte. Obwohl er sich nicht daran erinnerte, Erik war sich sicher, dass das tatsächlich passiert war. Und die einzige Möglichkeit dafür war letzte Nacht.
‚Ist Berger deshalb so angefressen?‘
Etwas verwundert registrierte Erik, dass ebender sich abwandte und stattdessen in Richtung der Straße blickte, die sie seit geschlagenen zwei Stunden versuchten zu erreichen. Während er als Tarnung eine Flasche Wasser aus dem Rucksack zog und etwas trank, schob Erik sich möglichst unauffällig zum Anfang der Gruppe vor.
Frau Farin trat in die Mitte des Schotterplatzes und forderte einige der jammernden und murrenden Schüler auf, sich zu erheben. „Die Pause ist vorbei. Kommen Sie. Wir sind alle müde, aber wir haben es ja bald geschafft.“
Eine sehr optimistische Aussage, wie Erik fand. Er hütete sich allerdings davor, irgendetwas zu sagen. Stattdessen gelang es ihm, sich am Rand der Gruppe bis fast ganz nach vorn zu schieben. Es war zwar nicht sonderlich wahrscheinlich, dass Berger ihm antworten würde. Das merkwürdige Gespräch mit Frau Farin und die Tatsache, dass der Kerl plötzlich doch wieder aktiver wurde, machten Erik allerdings neugierig.