85 – Ehrliche Versicherung
Erik ignorierte die Rufe seiner Mutter während er in sein Zimmer schlurfte. Im Augenblick hatte er genug gehört. Wenn sie dieses Gespräch ernsthaft fortsetzen wollte, dann nicht jetzt. Erik wusste ja selbst nicht mehr, was er denken und fühlen sollte. Wie könnte er das da seiner Mutter erklären?
Er schloss die Zimmertür hinter sich und lief zum Bett. Anstatt sich hinzulegen, setzte Erik sich darauf, den Rücken an die Wand gelehnt. Mit einem Seufzen schloss er die Augen.
Wahrscheinlich wäre Erik eingeschlafen, sobald er in die Horizontale ging. Aber womöglich wäre das ja sogar eine gute Idee. Schlafen, ausruhen und mit etwas Glück sah die Welt nach dem Aufwachen besser aus. Das verfluchte Ziehen in Eriks Eingeweiden schien da allerdings anderer Meinung zu sein.
„Scheiße ...“, murmelte er und rieb sich die Augen.
Ein winziger, offensichtlich noch rational denkender Teil seines Hirns meinte, dass es sinnvoll wäre, das gebügelte Hemd und die schicke Hose loszuwerden. Dann war da eine recht geknickt klingende Stimme, die meinte, er würde sie heute eh nicht mehr brauchen. Und als ob Erik nicht schon oft genug gedacht hätte, er würde bereits auf der Schwelle zum Wahnsinn stehen, kam diesmal noch eine dritte dazu. Eine, die behauptete, dass Erik gefälligst den Arsch hochbekommen musste, wenn er nicht jede Chance versemmeln wollte, dieses Fiasko irgendwie geradezubiegen.
„Als ob da noch eine wäre ...“
Ein Klopfen an der Tür entlockte Erik ein leises Stöhnen, jedoch keine Antwort. Wenn er lange genug schwieg, würde seine Mutter bestimmt verschwinden. Im Moment war sie aber da, stand dort vor der Tür und wusste vermutlich selbst nicht, was sie von der Sache halten sollte. Zumindest stellte Erik sich das so vor. Vielleicht wünschte er es sich aber auch nur. Denn in dem Fall dachte sie wenigstens nichts Schlechtes.
„Wäre ein Fortschritt“, murmelte Erik verhalten. Trotzdem antwortete er ihr nicht. Stattdessen zog er die Knie an und sank ein Stück weiter in sich zusammen.
Es klopfte erneut. Wieder schwieg Erik. Für einen Moment malte er sich aus, wie es wäre, wenn nicht sie, sondern Berger vor dieser Tür stehen würde. Nun, in dem Fall gäbe es keinen Grund zu zögern. Also würde Erik aufspringen, den Mann hier herein zerren und sehen, ob der tatsächlich küssen konnte. Und was der sexy Badboy noch so alles draufhatte. Die Vorstellung fing gerade an, die Standbilder vor Eriks geistigem Auge in einen Kurzfilm zu verwandeln, als er sich selbst stoppte.
Das war lächerlich. Es ging doch schon lange nicht mehr nur um diesen Kuss. Und alles andere? Nun, Erik würde wohl kaum hier hocken wie ein nasser Sack, wenn es nur um irgendwelche körperlichen Dinge gehen würde.
„Erik, bitte. Ich möchte mit dir reden. Darf ich reinkommen?“
Er schloss die Augen und atmete einen Moment tief durch. Am liebsten hätte er ihr zugerufen, dass die geschlossene Tür sie oft genug nicht vom Betreten abgehalten hatte. Aber das wäre ihr gegenüber nicht fair.
‚Sie ist Berger gegenüber auch nicht fair gewesen‘, versuchte es trotzig in Eriks Kopf zu widersprechen. Aber dem konnte er nicht zustimmen. Immerhin war sie nicht in der Öffentlichkeit auf Berger losgegangen, sondern hatte erst einmal bei Erik nachgefragt, was passiert war.
‚Und jetzt?‘
„Erik?“
Schon wieder. Sie gab einfach nicht auf. „Geh weg, Ma“, rief er ihr schließlich zu.
Zunächst kam keine Antwort. Allerdings hörte er auch nichts, was darauf hindeuten würde, dass sie sich entfernte. Erik seufzte. Und er hatte immer geglaubt, dass er den Dickschädel von seinem Arschlochvater geerbt hatte. Scheinbar war das ein Trugschluss.
„Es tut mir leid, wenn ich in den letzten Jahren nicht oft genug hier war, Erik.“
Er stöhnte und schüttelte automatisch den Kopf, selbst wenn sie das offensichtlich nicht würde sehen können. So hatte er das nicht gemeint. Immerhin war er alt genug gewesen. Er war kein Kind mehr, schon lange nicht. Dieser Gedanke ließ den Kloß in Eriks Hals aber erneut anwachsen. Dabei war der Schmerz doch eben noch verschwunden gewesen – aus dem Hals, der Brust und selbst dem Bauch.
„Ich glaube dir, Erik.“
Überrascht hob er den Kopf. Beinahe hätte er erwartet, dass sie im Zimmer stand. Aber er war allein. Ein Zustand, den Erik nie als schlimm oder furchtbar empfunden hatte. Wenn niemand da war, konnten sie einen nicht verletzen. Nicht mit Worten, Taten oder auch nur Blicken. Allein zu sein, hieß, sicher zu sein. So war es immer gewesen – zumindest vor der Ewigkeit einer zu lange anhaltenden Woche.
„Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, fuhr Eriks Mutter mit zitternder Stimme vor der Zimmertür fort. „Aber wenn du mir sagst, dass du dich tatsächlich verliebt hast, dann ... lass das Gefühl nicht gehen, nur weil jemand dagegen sein könnte.“
Schon wieder war da dieser Druck hinter seinen Augen – ein verräterisches Brennen, das dort nichts zu suchen hatte. Er war ein Mann. Die heulten nicht. Tränen waren für Memmen und Weicheier.
„Ich vertraue dir, Erik.“
Hastig wischte er sich über die Wangen. Das war doch lächerlich! Er würde hier nicht sitzen und flennen! So war er nicht – nie gewesen. Wollte Erik auch nicht sein. Wenigstens sah seine Mutter diese Peinlichkeit nicht.
„Also ... falls Du heute nicht auf den Abiball willst, kann ich das verstehen“, sagte sie ruhig.
Für einen Moment war da wieder nur Schweigen. Bevor Erik sich dazu durchringen konnte, etwas zu sagen, fuhr seine Mutter fort – ihre Stimme diesmal deutlich fester und entschlossener als zuvor.
„Aber ich denke, das wäre ein Fehler. In der Grundschule hast du irgendwann entschieden, dass du zum Ringen willst. Ich habe bis heute keine Ahnung, wie du damals auf diese absurde Idee gekommen bist. Aber du wolltest es unbedingt, Erik. Obwohl ich absolut dagegen war. Trotzdem hast du nicht lockergelassen. Bis ich nachgegeben habe.“
Erik runzelte die Stirn.
„Du hast immer gemacht, wovon du ehrlich überzeugt warst, mein Junge. Egal, was ich oder andere davon gehalten haben. Und damit hast du es weiter gebracht, als alle geglaubt haben.“
Erik erstarrte. Sein Blick hing weiterhin auf der geschlossenen Zimmertür. Was wirklich der Grund für sein schon wieder schneller schlagendes Herz war, wusste er nicht. Vielleicht wollte er es auch nur nicht zugeben. Aber sie hatte recht.
Erik konnte sich nur zu gut an die Beurteilungen aus den ersten zwei Schuljahren erinnern. An die Gespräche, die er zwischen seinen Eltern belauscht hatte, wenn die dachten, er wäre längst im Bett.
Seine Grundschullehrer hatten Erik keine sonderlich rosige Zukunft vorhergesagt. Keine Impulskontrolle. Die Unfähigkeit, mit den Emotionen anderer umzugehen oder die auch nur zu erkennen. Zu introvertiert und gleichzeitig zu aggressiv, wenn man ihn reizte. Und gereizt hatten die anderen ihn schon damals gern.
Zumindest bis er mit dem Ringen anfing und Eriks Körper sich entsprechend verändert hatte. Dass er im Verlauf der folgenden Jahre auf eine Größe von über einen Meter neunzig angewachsen war, hatte sicherlich sein Übriges getan. Mit jemandem seiner Statur hatten es sich irgendwann die wenigsten noch verderben wollen – obwohl Erik selbst es nie auf eine Konfrontation angelegt hatte.
Einer Prügelei aus dem Weg gegangen war er dennoch nicht. Erik war in den letzten Jahren nie weggelaufen. Weder vor Sandro noch vor jemand anderem.
Trotzdem war er eben kurz davor gewesen, genau das zu tun. Ein Teil von Erik hatte ernsthaft darüber nachgedacht, den Abiball ausfallen zu lassen. Was erwartete ihn da schon? Eine Absage mit der ultimativen Aussage, dass Erik es nicht wert war.
Er biss die Zähne zusammen und schloss die Augen. „Das ist nicht sicher“, flüsterte Erik leise, als könnten die paar Worte ihm tatsächlich die Kraft geben, die er brauchte.
Das Pochen in seiner Brust wurde stärker. Genauso wie das zaghafte Flüstern in Eriks Kopf. Kein Verführer, kein sarkastisches Arschloch, sondern eine stetig sicherer werdende Überzeugung, dass Berger unter anderen Umständen nicht zögern würde. Alles, was Erik tun musste, war klarzustellen, dass alle anderen da draußen scheißegal waren.
„Leichter gesagt als getan.“
Erik schloss die Augen – versuchte, den aufsteigenden Schmerz zu unterdrücken. Wenn er Berger überzeugen wollte, konnte er hier nicht rumsitzen und heulen. Sie hatten nichts Falsches getan und falls Berger sich auf Erik einließ, wäre das ebenso wenig verwerflich. Scheiß auf die Farin und ihre dämlichen Gerüchte. Sollte sie doch irgendetwas erzählen. Das hieß schließlich noch lange nicht, dass ihr jemand glauben würde.
Ruckartig erhob Erik sich und stand mit einem Mal vor der Zimmertür. Eher er wirklich darüber nachgedacht hatte, war sie bereits aufgezogen. Seine Mutter stand jedoch nicht mehr davor. Etwas irritiert sah Erik den Flur entlang, aber auch dort war sie nicht zu sehen. Es dauerte weitere Sekunden, bis ihm das leise Klappern auffiel. Schnell lief er zur Küche hinüber, stockte jedoch im Türrahmen.
„Erik ...“, flüsterte seine Mutter verhalten.
Sie deutete auf seinen üblichen Platz. Eine Tasse mit dampfendem Kaffee stand bereits dort. Ein wirkliches Lächeln brachte Erik nicht zustande, die Mundwinkel zuckten dennoch.
Im Grunde brauchte er nur die richtigen Worte zu finden, um Berger davon zu überzeugen, dass es kein Problem gab. Und falls doch welche kommen sollten, würden sie die eben gemeinsam durchstehen müssen. Zu einem Journalisten gehörte der richtige Umgang mit Worten doch wohl dazu. Außerdem hatte Berger ihn gegen Ende des Jahres immer öfter dafür gelobt, dass seine Texte deutlich überzeugender geworden waren.
Eriks Lächeln wurde breiter. Denn mit einem Mal erschien es gar nicht mehr so unmöglich. Aufgeben kam nicht infrage.
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„Bist du dir sicher?“
„Nein.“
Das unverhohlene Lachen an seiner Seite ließ Erik beleidigt schnauben. Wie zum Teufel sollte er diese blöde Frage bitte beantworten? Seit dem Mittag rasten seine Gedanken nur so von einer Ecke in die nächste, ohne dabei tatsächlich irgendwie brauchbare Ideen hervorzubringen. Vor allem, wenn es um die Frage ging, wie er Berger an diesem Abend überhaupt gegenübertreten sollte, mangelte es Erik an jeglichen Ideen.
Dabei hatte Berger im vergangenen Schuljahr seine Fantasie doch in mehr als nur einer Hinsicht beflügelt. Aber womöglich war genau das ja das Problem. Zumindest von Eriks Seite aus, war die sexuelle Spannung zwischen ihm und Berger dermaßen dominant geworden, dass er den nicht nur ins Bett bekommen wollte. Dass es im Grunde überhaupt nicht mehr darum ging.
‚Okay, das ist gelogen‘, musste Erik sich seufzend eingestehen. Dass er mit Berger nur zu gern endlich auf Tuchfühlung gehen wollte, ließ sich auf keinen Fall bestreiten.
„Erik ...“
Er schnaubte und schüttelte den Kopf. „Ich weiß, wie ich heiße“, gab er kühl zurück. „Wie oft willst du meinen Namen heute eigentlich sagen, Ma? Der nutzt sich am Ende noch ab. Ist ja nicht so, als ob ich einen weiteren in Reserve hätte.“
Das Lachen diesmal klang weniger abfällig, dafür umso ehrlicher. „Sei froh, dass ich mich durchgesetzt habe. Dein Vater wollte, dass du seinen Namen als Zweitnamen bekommst.“
Er stöhnte erneut. „Ma, der Abend verspricht scheiße genug zu werden, mach es nicht noch schlimmer, bitte.“
Als Erik zu seiner Mutter sah, verzog die gerade nicht amüsiert den Mund. „Etwas weniger Kraftausdrücke bitte, mein Junge.“
Erik verdrehte die Augen. Wenn das nach ihrem Gespräch vom Nachmittag das einzige Problem war, würde er ihr mit Freude nachgeben: „Jawohl.“
Schweigen trat ein und riss die gute Stimmung prompt wieder herunter. Mochte allerdings auch daran liegen, dass sie nur so erschien. Das Gespräch mit seiner Mutter hatte sie zwar davon überzeugt, dass Berger kein mieses pädophiles Arschloch war, das wahllos über seine Schüler herfiel. Da hörte es aber auch auf.
Wirklich begeistert war seine Mutter weiterhin nicht – wobei das weniger an Bergers Job als an seinem Alter lag. Erik hatte allerdings ebenso eingesehen, dass er mehr im Moment wohl nicht erwarten konnte. Immerhin kannte sie Berger nicht – und der heutige Abend war nicht der richtige Zeitpunkt, um das zu ändern.
Deshalb war das scheinbar harmonische Geplänkel von eben lediglich Ausdruck ihrer gemeinsamen Unsicherheit. Erik verkniff sich ein Seufzen, während er den Blick auf seine Füße senkte. Mit den Händen in den Hosentaschen stapfte er neben seiner Mutter her.
Das Hotel, in dem der Abiball stattfinden sollte, befand sich auf einem Hügel am Rand der Stadt. Zwar hatte er seiner Mutter angeboten, das Taxi bis zum Hotel zu bezahlen, aber sie hatte gemeint, er solle sein hart verdientes Geld lieber sparen. Und da ein Bus fast bis vor die Tür des Hotels fuhr, war dieses auch mit den öffentlichen Verkehrsmitteln gut erreichbar gewesen.
Als sie durch das Tor in den kleinen Park vor dem Hotel traten, kam sich Erik trotzdem fehl am Platz vor. Sie liefen den kiesigen Weg entlang. Die Hand seiner Mutter am Arm hielt Erik sie fest, damit sie in ihren hochhackigen Schuhen nicht stolpern. Er sah nach rechts, wo ein strahlend blauer Himmel gute Stimmung verbreitete. Nur leider nicht für Erik.
„Lass uns versuchen, den Abend zu genießen“, raunte seine Mutter und zog damit die Aufmerksamkeit auf sich zurück.
Ihre Stimme zitterte, aber Erik versuchte das genauso zu ignorieren, wie das Ziehen und Rumoren in seinem Bauch.
„Klar“, gab er lediglich murmelnd zurück.
Wie ihm dieses Kunststück gelingen sollte, wusste Erik trotzdem nicht. Der späte Nachmittag war genauso heiß, wie es der restliche Tag gewesen war. In Hemd, Sakko und mit der blöden Krawatte um den Hals, hatte Erik eher das Gefühl, er würde jeden Moment ersticken. Zumindest konnte ihm das die Schwertspitze ersparen, die sich irgendwann im Verlauf des Abends in ihn bohren musste. Jedenfalls wenn er Berger nicht zuvorkam und den Mann doch noch irgendwie überzeugte, dass es kein Problem sein würde, falls er mit Erik ausging.
„Wie genau wird der Abend eigentlich ablaufen?“, fragte seine Mutter mit einem Mal.
Verwundert sah Erik zu ihr hinüber und überlegte. „Keine Ahnung“, gab er schließlich zu. „Es gibt vier Gänge, glaube ich. Dazwischen irgendein Programm, dass sich die vom Abschlussballkomitee ausgedacht haben.“
„Ach, Erik.
Irgendwie kam er sich ziemlich dämlich vor, dass er keine Ahnung hatte, was an diesem Abend auf ihn zukommen würde. Jedenfalls abgesehen von einem Herrn Berger, mit dem Erik scheinbar nicht reden durfte, obwohl er es wollte. Seine Zähne knirschten, so fest presste Erik sie aufeinander.
„Na komm, mein Junge, wir sind sowieso schon spät dran.“
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Ein Teil von Erik hatte den ganzen Nachmittag über mit dem Gedanken gespielt, frühestens eine Stunde nach Beginn hier aufzuschlagen. Jetzt, da es achtzehn Uhr und somit offizielle Eröffnung des Abiballs war, wusste Erik, dass sein Gefühl ihn in der Hinsicht nicht betrogen hatte.
„Da hättest du mich auch noch eine Stunde pennen lassen können“, flüsterte er in Richtung seiner Mutter.
Die lachte jedoch nur leise und schüttelte den Kopf. Vermutlich dachte sie, das wäre ein Scherz gewesen. Dabei lag Erik im Augenblick nichts ferner als das. Denn hier vor dem Saal zu stehen, in dem der Abiball stattfinden sollte, war nicht gerade seine Vorstellung von Unterhaltung.
„Hey, ist das nicht Miroslaw dort drüben?“, fragte seine Mutter und deutete auf eine Stelle hinter Erik.
Vorsorglich verzichtete er darauf, sich umzudrehen, zuckte lediglich mit den Schultern. War ja nicht so, als ob der Kerl Erik tatsächlich noch interessieren würde. Da gab es ganz andere Kandidaten, die eher seine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Genau genommen einer.
Der befand sich am gegenüberliegenden Ende des Raumes. Zwar stand Berger mit dem Rücken zu ihnen, aber den Mann würde Erik inzwischen immer und überall erkennen – da war er absolut sicher.
„Ihr wart doch früher oft zusammen unterwegs, oder nicht?“, fuhr Eriks Mutter jedoch unbeeindruckt von seinem Schweigen fort. „Mein Gott, ihr seid alle so erwachsen geworden.“
„Manche sehen nur so aus“, murmelte Erik, bevor er sich bremsen konnte.
Glücklicherweise schien seine Mutter es über den nicht gerade geringen Geräuschpegel um sie herum nicht gehört zu haben. Falls doch, ignorierte sie es zumindest.
„Ich schau mal, ob ich herausbekommen kann, wie lange es noch dauert“, meinte Erik und lächelte sie entschuldigend an.
Warum hatten die Idioten eigentlich den Beginn auf achtzehn Uhr gelegt, wenn da gerade einmal der Saal aufgeschlossen werden würde? Da Erik mit seiner Mutter kurz vor sechs hier aufgetaucht war, standen sie sich wenigstens erst seit zehn Minuten die Beine in den Bauch. Bei einigen der Anwesenden dürfte das aber anders aussehen. Zumindest sah Erik immer wieder verkniffene Gesichter, die sogar genervter aussahen, als er sich fühlte.
Der Versuch, zur Eingangstür zu kommen, um dort irgendwie in Erfahrung zu bringen, warum sie weiterhin hier herumstanden, scheiterte jedoch. Stattdessen wurde Erik zur Seite abgedrängt. So stand er mit einem Mal keine drei Meter hinter Berger.
Ein Teil von Erik wollte diese paar Schritte machen, dem Mann die Hand auf die Schulter legen und ihn herumdrehen. In seinem Kopf konnte er es förmlich sehen. Ein erwartungsvoller Blick. Erik brauchte nur das Richtige zu sagen und Berger würde seinen Widerstand endlich fallenlassen. Fragte sich nur, welche Worte es denn brauchen würde, um den Mann zu überzeugen.
„Los geht’s!“, rief von irgendwoher eine Stimme, als wolle sie ihn anfeuern.
Gerade noch rechtzeitig wurde Erik klar, dass sie natürlich nicht an ihn gerichtet gewesen war. Den Ruf nahm offenbar jeder als Kommando. Ein Ruck ging durch die Gruppe vor der Tür und mit einem Mal drängten alle in Richtung Saal. Glücklicherweise war Erik groß genug, um dabei nicht von den Füßen gerissen zu werden. Warum es alle dermaßen eilig hatten, war ihm ein Rätsel. Schließlich gab es für jeden einen Platz. Wozu hätten sie sonst vorher Karten kaufen müssen?
Hastig blickte Erik sich um. Zu seiner Rechten war Berger. Für einen Moment war er versucht, zu dem hinüberzugehen. Gerade noch rechtzeitig konnte Erik sich selbst bremsen, nachdem er Frau Fink neben Berger sah. Der Anblick gefiel ihm gar nicht. Hatte es wegen des Vormittags etwa doch noch Ärger gegeben?
Ehe Erik näher darüber nachdenken konnte, ergriff plötzlich jemand seinen Arm. Er drehte den Kopf nach links. Es war lediglich seine Mutter gewesen. Mit einem falschen Lächeln zog Erik sie mit sich.
„Alles klar?“, fragte sie leise, während sie den Kopf nach vorn schob, damit sie besser um Erik herum sehen konnte.
„Sicher“, murmelte er.
Den Arm um ihre Schulter gelegt, schirmte er sie vom Rest der Meute ab. Noch einmal drehte sich Erik nach rechts, aber Berger war nicht zu sehen. Womöglich war dieser bereits im Saal. Er biss sich auf die Lippe und schwieg.
Es würde nichts ändern. Zwischen all den Leuten hier hätte Erik Berger ohnehin nicht ansprechen können. Nein, dafür bräuchte es schon einen Moment mit diesem alleine. Aber es war zu befürchten, dass der Abend lang werden würde. Entsprechend würde sich hoffentlich ebenso die eine oder andere Gelegenheit ergeben.
Zwar hatte Erik weiterhin keine Ahnung, was er dann sagen wollte. Dass er Berger ohne dieses Gespräch einfach gehen lassen würde, stand aber absolut außer Frage.
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Es war inzwischen halb neun und allmählich wurde es offiziell. Das hier war die Hölle. Schlimmer als die verdammte Klassenfahrt, nervenaufreibender als jede beschissene Deutschstunde im letzten Schuljahr – oder irgendetwas anderes, was Erik im Moment eingefallen wäre.
Nachdem sie Viertel nach sechs endlich in den Saal gelassen worden waren, landete Erik mit seiner Mutter an einem einigermaßen erträglichen Tisch. Erik hatte es sogar geschafft, sich dort so zu positionieren, dass er Berger im Blick behalten konnte.
Dieser saß seinerseits mit diversen anderen Lehrerinnen und Lehrern zusammen. Zufrieden stellte Erik fest, dass Berger wenigstens ohne Begleitung gekommen war. Das traf allerdings auf den Rest an dessen Tisch ebenso zu, also war das womöglich ‚normal‘.
Zu dem Zeitpunkt hatte Erik gedacht, dass das eine gute Idee war, sich ausgerechnet hierhin zu setzen. Dass dieser Platz geradezu ideal für ihn wäre. Immerhin würde Erik auf diese Weise sofort sehen, wenn Berger endlich aufstand, um aufs Klo oder eine rauchen zu gehen.
Die Vorstellung, eben diesen auf dem Weg abzufangen, schrie zwar förmlich nach Stalker, aber Erik hatte sich erfolgreich eingeredet, dass es weniger jämmerlich war, wenn er das mit dem ‚Abfangen‘ auf Bergers Rückweg erledigen würde.
Dummerweise war der in den vergangenen, mehr als zwei Stunden nicht in Richtung Toilette verschwunden. Oder sonst wohin. Stattdessen saß Berger lächelnd und scheinbar gut gelaunt an dem verdammten Tisch dort drüben und ließ sich das Essen schmecken.
Okay, das war bisher auch echt lecker gewesen, das musste Erik sich eingestehen. Dass es sich dabei aber mit dem ‚Unterhaltungsprogramm‘ des Abschlussballkomitees abwechselte, war allerdings ein ziemlicher Dämpfer.
Erik wandte seinen Blick kurzzeitig auf die Leinwand zu seiner Rechten. Die Videoshow dort war Gott sei Dank endlich zu Ende. Peinlicher hätte es echt nicht kommen können. Niemand, aber auch wirklich niemand wollte schließlich sehen, wie ein verpickelter fünfzehnjähriger Luca an irgendeinem Schulsportfest als Letzter über die Ziellinie gekommen war.
Etwas, das Erik glücklicherweise erspart geblieben war. Er musste grinsen und schielte zu Sandro hinüber. Der wirkte weniger zufrieden. Bei der nicht ganz unerheblichen Anzahl an Bildern und Videos, die man von dem Kerl für diese Folter ausgegraben hatte, war das nicht verwunderlich. Schon konnte Erik Bergers Stimme in seinem Kopf hören, die ihn ermahnte, dass Schadenfreude nicht sonderlich attraktiv war.
Das scherte Erik im Moment jedoch nicht im Geringsten. Sollte der Kerl ihm das halt persönlich sagen. Aber Berger war ja nicht hier, sondern dort drüben an dem verdammten Lehrertisch. Die Genugtuung, dass Sandro und ein paar andere seiner Kohorten bei dieser Folter am meisten gelitten hatten, würde Erik also weiterhin begleiten.
Da lediglich zwei weitere Gänge folgen würde, bestand Hoffnung, dass auch diese Grausamkeit von Programm endlich ein Ende haben würde.
Anschließend würden die Verwandten und Lehrer irgendwann gehen. Zumindest hatte Eriks Mutter bereits bei ihrer Herfahrt gesagt, dass sie spätestens um zehn verschwinden wollte. Fragte sich also weiterhin, wie Erik es schaffen sollte, Berger abzufangen, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekam. Der war ihm schließlich eine Antwort schuldig. Vorher musste Erik außerdem dafür sorgen, dass ebendiese auch so ausfiel, wie er selbst sich das vorstellte.
Seufzend sank Erik in sich zusammen, nur um prompt einen Klaps an seinem Oberschenkel zu spüren, der ihn stumm aufforderte, sich gefälligst ordentlich hinzusetzen. Dafür brauchte es keine Worte – die Stelle, an der die Hand traf, war heute schon mehrmals malträtiert worden. Glücklicherweise immer stumm, ansonsten hätte das hier peinlich werden können.
Dabei kannte Erik die Typen, mit denen er am Tisch saß, nicht einmal. Was seine Mutter nicht davon abhielt, sich schon seit ihrer Ankunft hervorragend mit der Dame neben ihr zu unterhalten. Wenigstens amüsierte sie sich auf diese Weise. Allerdings fühlte Erik sich dadurch erst recht fehl am Platz.
Umso stärker beharrte eine eher trotzig anmutende Seite in ihm darauf, dass er lieber woanders sitzen würde. Selbst auf die Gefahr hin, dass er sich zwischen einem Haufen Lehrer erst recht zum Affen machte. Schließlich saßen seit jeher nur die Störenfriede und Problemschüler am Lehrertisch.
„Weder hat er ein Problem, noch ist er eins. Oder macht welche.“
Hastig senkte Erik den Blick auf das weiße Tischtuch vor ihm. Es dauerte einen Moment, bis ihm einfiel, wo er Berger diese Worte hatte sagen hören. Bei dem Gedanken, dass der Mann ihn bisher nie als Problem betrachtet hatte, flatterte etwas zaghaft in Eriks Innerem auf. Selbst mit gesenktem Kopf schaffte er es, erneut zu Berger zu schielen.
‚Von wegen keine Probleme.‘ Der Gedanke brachte ein zaghaftes Lächeln auf Eriks Lippen.
Tatsächlich hatte er einen ganzen Haufen Probleme. Im Grunde genommen nichts anderes. Angefangen damit, dass Erik keine Ahnung hatte, wie er es anstellen sollte, Berger endlich alleine abzupassen. Und dass er Probleme verursachte, stand genauso außer Frage. Warum sonst hätte Frau Fink sich am Morgen in das Gespräch zwischen Eriks Mutter und Berger einmischen sollen? Wenigstens saß die stellvertretende Direktorin jetzt nicht auch noch neben Berger.
Jemand stellte einen Teller vor Erik ab. Verwirrt sah er zunächst auf das Essen, anschließend hoch. Wie zweimal zuvor huschten eilige Angestellte durch den Raum und verteilten den nächsten Gang. Damit waren sie bei Nummer drei von vier. Nachdem alle am Tisch einen Teller hatten, griff Erik zum Löffel und schob ihn durch die Mousse.
Jetzt schon Nachtisch? Kam der nicht üblicherweise als Letztes? Hatte er einen Gang verpasst? Darüber wäre Erik nun wirklich nicht böse gewesen. Egal, wie lecker das Essen war, er konnte es nicht abwarten, selbiges endlich hinter sich zu bringen.
Ein kurzer Blick zu den anderen am Tisch zeigte bei denen keine Verwunderung. Gelangweilt schob Erik den Löffel in den Mund. Vermutlich schmeckte das Zeug echt lecker – jedenfalls wenn er den genießerischen Lauten am Tisch Glauben schenken wollte. In Eriks Mund schien die Schokoladenmousse aber eher zu einer zähen und viel zu süßen Masse zu mutieren, die ihm den Hals verklebte.
Wie automatisch sah Erik einmal mehr zu Berger. Der schien das Zeug, im Gegensatz zu den vorherigen Gängen, ausgesprochen zu genießen. In Frankreich hatte der Kerl sich auch eher an irgendwelchen Süßkram gehalten, während des Essens. Vielleicht stand er da ja drauf.
Leider brachte diese Erkenntnis Erik das bei der Frage, wie er Berger zu einem Date überreden konnte kein Stück weiter. Denn ganz sicher würde der Mann sich nicht mit Schokolade bestechen lassen. Er sah auf seinen Teller. Wenn es so einfach wäre, würde er hier wohl kaum wie ein Volltrottel seinem Gedankenchaos nachhängen.
„Schmeckt es nicht, Erik?“
„Was?“
Verwundert drehte er den Kopf nach rechts und sah in das besorgte Gesicht seiner Mutter. Es dauerte zwei, drei weitere Sekunden, bis ihre Frage durch Eriks konfuses Hirn gewandert und verarbeitet worden war.
„Doch, Ma. Schmeckt ... super.“
Er lächelte und wandte sich wieder seinem Teller zu. Mit gesenktem Kopf schielte Erik erneut zu den anderen am Tisch, die beachteten ihn jedoch weiterhin nicht. Seine Mutter war offenbar durch die Versicherung beruhigt, widmete sich erneut dem Essen – und dem Gespräch mit ihrer Tischnachbarin.
Erik atmete tief durch. Ein weiterer Gang, danach war diese Farce beendet. Unter dem Tisch zog er das Handy aus der Hosentasche und prüfte erneut die Uhrzeit. Weiterhin nicht einmal neun Uhr.
Wie lange würden die Lehrer noch bleiben, nachdem die Eltern verschwunden waren? Verzogen die sich um die gleiche Uhrzeit? Oder war es üblich, dass sie länger blieben? Eine Aufsicht würden sie jetzt ja nicht mehr benötigen. Die verdammte Schule war zu Ende! Das würde sogar dieser sturköpfige Deutschlehrer eingestehen müssen. Zumindest, wenn Erik es schaffte, Berger abzufangen, bevor der sich verkrümeln konnte.
Ein sanftes Flattern in Eriks Bauch gaukelte ihm für einen Moment vor, dass er den Rest der Nacht nicht in seinem eigenen Bett verbringen würde. Er sah erneut zu Berger. Das Lächeln war im Augenblick nicht da – und irgendwie gefiel Erik die Vorstellung, dass er nicht der Einzige war, der hier lieber eher als später verschwinden wollte.
Andererseits war es schon in gewissem Sinne erbärmlich, dass Erik es nicht einmal jetzt schaffte, diesen letzten Meilenstein seiner Schullaufbahn auszukosten. Oder? Da hatte Erik sich monatelang den Arsch aufgerissen, um auf diese Klassenfahrt mitzukommen, und hatte am Ende kaum etwas in dieser Woche wirklich genießen können. Jedenfalls wenn man von der Nacht am Strand und ein, zwei anderen Momenten absah. Und jetzt? Saß er hier auf seinem Abschlussball und fand es einfach nur öde – und langweilig.
„Darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“, ertönte in diesem Moment Hannas viel zu gut gelaunte Stimme aus dem Lautsprecher.
Erik musste sich ein Stöhnen verkneifen. Welcher Idiot hatte der das Mikro anvertraut?
„Wie jedes Jahr wurde bei der Vorbereitung der Abizeitung auch wieder das Lehrerranking durchgeführt“, fuhr Hanna mit einem strahlenden Lächeln fort.
„Oh Gott“, presste Erik heraus. Es konnte tatsächlich schlimmer werden.