53 – Lästiger Anhang
Noch vor ein paar Stunden hatte Erik gedacht, dass der Tag ganz gut begonnen hatte. Mal ehrlich? Bisher war dieser Mittwoch deutlich besser verlaufen als verflucht viele andere Tage in den letzten Wochen und Monaten. Und das, obwohl Sophie sich in Dinge einmischte, die sie nichts angingen. Ganz zu schweigen davon, dass die permanente Gegenwart von Hanna Erik die Magensäure den Hals hinauf jagte.
Aber immerhin war er an diesem Morgen zur Abwechslung weder von Schmerzen noch vom unerbittlichen Kreischen einer Kreissäge aufgewacht. Anschließend hatte Erik den Anblick eines beschämt und zurückhaltend wirkenden Herrn Bergers genießen dürfen. Etwas, das man nun wirklich nicht oft zu sehen bekam.
Der einzige echte Wermutstropfen bisher war in der Tat Sophie gewesen, die es sich offenbar in den Kopf gesetzt hatte, dass Erik sich mit Mirek aussprechen sollte. Oder der sich mit Erik. Wie auch immer. Was genau im Hirn dieser Frau vorging, war schwer nachzuvollziehen. Womöglich schlichtweg irgendeine schräge Form von Helfersyndrom.
Dabei würde das doch sowieso nichts bringen. Für keinen von ihnen. Das, was Erik einst für eine Freundschaft gehalten hatte, existierte nicht mehr. Und es würde auch nicht zurückkommen, nur weil sie darüber redeten, wie beschissen feige Mirek sich aus allem herausgehalten hatte.
Glücklicherweise hatten sich Sophie und Mirek ja bereits vor einer Weile verkrümelt, weshalb Erik weiteres Gedankenchaos in deren Richtung erspart blieb. Sich auf Berger zu konzentrieren, ohne dabei in irgendwelche dämlichen Fantasien oder Hirngespinste abzudriften, war schwer genug.
Erstaunlicherweise schien es Erik heute trotzdem einigermaßen zu gelingen. Zumindest hatte er die meiste Zeit über das Gefühl, zur Abwechslung einmal gar nichts zu denken.
Was sich ausgesprochen merkwürdig anfühlte, Erik aber davon abhielt, allzu viel über diesen einen weiterhin vorhandenen Störfaktor nachzudenken. Besser gesagt waren es zwei. Wobei es überraschenderweise Hanna war, die bisher die Güte gehabt hatte, ihre Klappe und sich selbst von Berger fernzuhalten.
Leider konnte man das von Alina nicht behaupten. Jeder Scheiß, der ihr ins Auge fiel, führte zu irgendwelchen sinnlosen Fragen an Berger. Der hatte garantiert keinen Bock den Fremdenführer zu spielen. Jedenfalls wenn man nach dessen weitestgehend einsilbigen Antworten ging.
Wer konnte es ihm verübeln?
Und dennoch kam Erik nicht umhin zu hoffen, dass Berger lieber alleine mit ihm unterwegs gewesen wäre. Aber natürlich sagte der Sturkopf kein Wort dazu, schickte die beiden Mädchen nicht weg und fragte Erik erst recht nicht, ob sie sich irgendwo einen Platz suchen wollten zum ‚Reden‘. Oder für diverse deutlich angenehmere Sachen. Nicht, dass die Chance auf irgendetwas anderes als ein weiteres Gespräch sonderlich hoch war.
‚Hoffnung ist ein Biest.‘
Gefangen zwischen Bangen und Hoffen sah Erik erneut zu Berger. Ob der überhaupt einem Ziel entgegenlief, war unmöglich zu sagen. Zumindest lief der Kerl konstant einfach weiter, folgte einem Weg, den nur Berger zu verstehen schien. Begleitet von drei Gestalten, vor denen jeder normal denkende Mensch vermutlich davongerannt wäre: Einer Quasselstrippe, seiner Stalkerin und einem renitenten Hormonbündel, das Berger oft genug geschrieben hatte, wie gern er ihn flachlegen wollte.
‚Masochistisch veranlagt?‘
Erik musste grinsen. Vermutlich eher nicht. Wobei er sich nicht gerade anmaßen würde, das beurteilen zu können. Obwohl Berger die eigenen Verletzungen am Vortag recht billigend in Kauf genommen hatte, machte er nicht den Eindruck, als hätte ihm das sonderlich viel Spaß gemacht. Auf Schmerzen stand Berger sicherlich nicht. Er konnte sie allerdings verdammt gut ertragen.
‚Der Kerl ist einfach nur zu nett ...‘
„Oh!“, rief Alina wieder einmal und riss Erik damit zurück in die Gegenwart. „Seht mal da drüben auf der anderen Flussseite!“
Irritiert sah Erik von Berger weg und nach links – versuchte, zu erkennen, was sie meinte. Es dauerte einen Moment, bis ihm die Stirnseite eines gelben Hauses ins Auge fiel. Erst beim dritten oder vierten Hinsehen wurde Erik klar, dass die dort sichtbaren Fenster offenbar gar keine waren.
„Ist das aufgemalt?“, fragte er stirnrunzelnd.
Hanna schien noch nicht zu verstehen, was sie gesehen hatten, und fragte ihrerseits: „Was meint ihr?“
„Da“, antwortete Berger und deutete mit der linken Hand auf das gelbe Gebäude am gegenüberliegenden Flussufer. „Die ‚Fresque des Lyonnais‘ ist eine der Sehenswürdigkeiten von Lyon.“ Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen, während er den Kopf in Eriks Richtung drehte. „Ich muss zugeben, dass mir nicht sonderlich viele ... geeignete Ziele für Sie eingefallen sind. Aber wenn wir hier schon rumlaufen, können wir ja zumindest so tun, als würden wir etwas für Ihre Bildung tun.“
„Sie können den Lehrer einfach nicht steckenlassen, Herr Berger“, gab Alina lachend zurück und zog Hanna mit sich in Richtung der Brüstungsmauer am Fluss. „Das sieht lustig aus, wollen wir mal hin und es uns näher ansehen?“
„Dort drüben ist eine Brücke, da können Sie hinüber“, meinte Berger und deutete weiter nach rechts die Straße entlang.
‚Hauptsache, sie gehen da alleine hin‘, murrte Erik innerlich, während er gleichzeitig darauf hoffte, dass Hanna tatsächlich auf den Vorschlag anspringen würde.
„Ich denke nicht, dass wir uns trennen sollten“, sagte Hanna jedoch zögerlich. „Am Ende finden wir alleine den Weg zum Bus nicht mehr.“
Also liefen sie zu viert weiter, verließen aber diesmal das Flussufer und wandten sich stattdessen einer der mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Seitenstraßen zu. Alina konnte sich weiterhin für jedes noch so kleine Detail begeistern, das ihnen vor die Augen kam. Dabei gab es hier wirklich nichts außer verdammt vielen alten und teilweise recht verfallen aussehenden Häusern. Trotzdem stellte sie permanent irgendwelche Fragen zur Geschichte der Stadt, die Berger sogar zu einem großen Teil beantworten konnte.
‚Und du hattest angenommen, heute kommst du um die Stadtführung herum‘, dachte Erik bei sich.
Der Gedanke brachte ihn jedoch zum Schmunzeln. Immerhin war ihm Berger ein deutlich willkommenerer Fremdenführer als Pierre. Bei dem würde Erik eine Einladung, egal welcher Art, auch nicht ablehnen.
Die kam aber natürlich nicht – was blöderweise garantiert nicht nur an Alina und Hanna lag. Stattdessen latschten sie weiter durch die Stadt. Immer wieder bog Berger ab, folgte den verwinkelten Straßen einem zunehmend steiler werdenden Pfad hinauf. Unwillkürlich fühlte Erik sich ein weiteres Mal an die Stadtführung vom vergangenen Sonntag erinnert. Allerdings war davon auszugehen, dass sie hier nicht auf die nächsten Taschendiebe treffen würden. Zum einen waren die Straßen noch zu breit, in erster Linie aber zu stark frequentiert. Außerdem war Berger garantiert nicht der Typ Mann, der seine Schüler in Gefahr bringen würde. Im Gegenteil.
„Woher kennen Sie sich hier so gut aus?“, fragte Alina.
„Ich bin als Student in den Ferien ein paar Mal in Frankreich gewesen. Einen Sommer lang auch in Lyon.“
Eine weitere Erklärung schien Berger nicht geben zu wollen – und diesmal hakte niemand nach. Zumal der Weg nicht nur schmaler, sondern vor allem zunehmend steiler und damit anstrengender wurde. Mit einer gewissen Genugtuung nahm Erik das Schnaufen der beiden Mädchen vor ihm wahr. Da es im Moment zur Abwechslung nicht einmal für Alina etwas zu sehen gab, hielt sie glücklicherweise die Klappe. Das hießt allerdings ebenso, dass die Stimmung weiter absankt– was erstaunlich war, denn im Grunde hatten sie gefühlt den Tiefpunkt bereits vor mindestens zehn Minuten erreicht gehabt.
Am Ende der Gassen standen sie mit einem Mal vor einer hohen Mauer. Ohne zu überlegen, wandte Berger sich nach links und lief daran entlang. Der Fußweg war hier nicht mehr breit genug, um nebeneinander laufen zu können. Berger ging voran, die beiden Mädchen hinter ihm. Erik bildete das Schlusslicht. Diese Reihenfolge gefiel ihm nicht, aber immerhin hatte Hanna keine Gelegenheit, Berger auf die Pelle zu rücken, da sie hinter Alina marschierte. Und Erik alle drei vor sich im Blick. Leider schien Hanna es dabei nicht sonderlich eilig zu haben.
Je länger sie dem steilen Weg folgten, desto langsamer wurde Hanna. Rechts verlief eine Mauer, über der die Wipfel einiger Bäume zu sehen waren. Links waren mehrheitlich Häuser, nur vereinzelt unterbrochen von einer halbhohen Mauer. Über die hinweg konnte man zwar nicht viel sehen, aber auch hier wurde deutlich, dass sie sich gerade einen Berg hinaufquälten, der sich wohl irgendwo inmitten von Lyon befand.
Auch wenn Erik sich sicherlich nicht beschweren würde, der Fußmarsch fing nach den Anstrengungen des Vortages an, zu nerven. Warum musste Berger sie ausgerechnet hier herauf schleppen? Außerdem hatte Erik mit jedem weiteren Schritt das Gefühl, Hanna und er würden hinter den anderen beiden zurückfallen.
„Leg mal einen Zahn zu“, murrte Erik unwillig, nachdem er sah, dass Berger und Alina bereits lockere zehn Meter von ihnen entfernt waren.
Hanna drehte den Kopf zu ihm herum und sah ihn über die Schulter hinweg mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Allerdings antwortete sie nicht. Schneller lief sie deshalb trotzdem nicht. Und das, obwohl ihr Liebling Herr Berger doch allmählich davon zu eilen drohte.
Hanns Schweigen hielt Erik nicht davon ab, weiter zu motzen: „Wenn es dir mit deinem ... verstauchten Fuß ... zu anstrengend ist, geh halt mit Alina zurück zum Bus. Da kannst du dich sicherlich ausruhen.“
Das humorlose Schnauben sollte vermutlich verächtlich klingen, juckte Erik aber kein Stück. „Da wir uns hier nicht auskennen, wäre es nicht sonderlich klug, uns von Herrn Berger zu entfernen. Der weiß immerhin, wo es langgeht.“
„Hast ja wohl wie jeder normale Mensch in unserem Alter ein Handy“, gab Erik patzig zurück. Ehrlicherweise bemühte er sich nicht wirklich, das Knurren aus seiner Stimme herauszuhalten. „Selbst wenn nicht, wird Alina eins haben. Ich bin sicher, der Empfang hier ist besser als gestern.“
Diesmal blieb Hanna stehen und drehte sich zu ihm herum. „Warum haust du nicht selbst endlich ab?“
Erik grinste und stopfte die Hände in die Hosentaschen. „Wir sollen nicht alleine durch die Stadt wandern. Schon vergessen?“
Hannas Blick verfinsterte sich, während sie einen Schritt auf ihn zutrat. Für einen Moment kam Erik wieder die Warnung von Sophie in den Sinn, aber er schob sie beiseite. Das war lächerlich. Hanna war fünfundzwanzig bis dreißig Zentimeter kleiner als er. Die konnte Erik garantiert nicht gefährlich werden.
„Halt dich von Herrn Berger fern, wenn du ihn nicht in Schwierigkeiten bringen willst.“
Das verbale Messer war derartig schnell in Eriks Magen gefahren, dass er das Keuchen nicht zurückhalten konnte, bevor es ihm entkam: „Was?“
„Oh, bitte“, zischte Hanna mit wütenden, geradezu blitzenden Augen. „Du hast doch das ganze Schuljahr für Unruhe und Ärger gesorgt. Jeder weiß, dass du dich ständig mit Sandro geprügelt hast.“
Das eben noch ruhige Pochen in Eriks Brust wurde mit einem Schlag zu einem kräftigen Hämmern. Seine Stimme war dennoch kühl und schneidend, als er zurückfragte: „Was soll der Scheiß?“
Hanna schnaubte belustigt. „Und deine vulgäre Ausdrucksweise ...“, fuhr sie lachend fort. „Glaubst du ernsthaft, dass einer wie du mit jemandem wie Herrn Berger mithalten kann? Lächerlich!“
Schweigend starrte Erik sie an. ‚Die hat Glück, dass sie eine Frau ist‘, zuckte es ihm durch den Kopf, während seine Hände sich in den Hosentaschen zu Fäusten ballten. So manch anderem hätte Erik für den Spruch vor ein paar Monaten vermutlich direkt eine in die Fresse gehauen.
„Na? Wie viel Selbstbeherrschung kostet es dich gerade, mir keine zu verpassen, du Neandertaler?“
„An jemandem wie dir mach ich mir nicht die Finger schmutzig“, zischte Erik gereizt zurück. Vor allem deshalb, weil er ganz sicher nicht zugeben wollte, dass die blöde Kuh auch noch mitten ins Schwarze getroffen hatte.
„Halt dich von ihm fern“, forderte Hanna ihn erneut auf.
Das Hämmern in Eriks Brust wurde heftiger. Versuchte die Frau etwa, ihm hier zu drohen? Nicht genug, dass Hanna Berger offenbar schon vor einer Weile in reichlich unangemessener Art zu Leibe gerückt war, jetzt auch noch das?
„Das Gleiche könnte ich dir sagen. Ich bin wenigstens kein irrer Stalker, der andere bis nach Hause verfolgt.“
Das wutverzerrte Gesicht, dem Erik sich kurz darauf entgegensah, hätte er Hanna niemals zugetraut – wenn man es genau nahm, auch keinem anderen Mädchen. Beinahe wäre Erik einen Schritt zurückgetreten, aber ganz sicher würde er nicht ausgerechnet vor der ollen Tussi hier zurückweichen. Trotzdem schlug ihm mit einem Mal sein Herz bis zum Hals.
„Du primitiver Vollidiot hast doch keine Ahnung!“, zischte sie ihn an.
Erik hatte Hanna stets für zurückhaltend und scheu gehalten. Aber dieses Bild schien immer weniger der Wahrheit zu entsprechen.
‚Du wirkst mitunter womöglich genauso auf andere.‘
Erneut beschleunigte sich Eriks Puls. Nein, er war nicht wie die da. Zumindest wollte er nicht so sein. Trotzdem kam Erik nicht umhin, sich die Frage zu stellen, was passieren würde, wenn Berger ihn genauso deutlich abwies, wie er das bei Hanna getan hatte.
‚Die Frage stellt sich nicht‘, zischte eine wütende Stimme in Eriks Kopf. ‚Er weist dich nicht zurück.‘
Trotzdem breitete sich die Unsicherheit weiter in Erik aus. Würde er es überhaupt merken? Oder war er am Ende genauso verblendet, wie Hanna? Würde er weitermachen, unfähig zu erkennen, dass Berger ihn abgewiesen hatte? Nein, das konnte nicht sein.
Es durfte nicht sein.
„Kommt ihr?“, schrie mit einem Mal Alina von weiter vorn.
„Du brauchst nur zu sagen, dass dir das hier zu langweilig ist“, schlug Hanna mit einem Lächeln vor, das falscher nicht hätte sein können. „Erzähl mir nicht, dass dich irgendetwas hiervon tatsächlich interessiert.“
Erik schnaubte und schüttelte den Kopf. „Vergiss es. Wie schon gesagt ... Niemand wandert alleine in der Stadt herum. Oder hast du vor, mich zu begleiten?“
Wieder verzog Hanna das Gesicht. Bevor sie antworten konnte, tauchte Alina hinter ihr auf. Offenbar war sie zurückgelaufen, um nachzusehen, warum sie stehen geblieben waren.
„Alles okay?“, fragte sie leise und sah dabei zwischen ihnen beiden hin und her.
„Klar“, gab Erik sofort zurück und drängelte sich an den Mädchen vorbei. „Hanna braucht wohl eine Pause. Der verstauchte Knöchel von gestern tut offenbar furchtbar weh.“
Das leise gezischte „Mistkerl“ war für Erik nicht zu überhören, auch wenn es vermutlich nicht bis zu Berger dringen würde.
Die Genugtuung, ihr diesen Fehler reinzuwürgen, versteckte Erik nicht. Mit einem fetten Grinsen auf den Lippen schlenderte er weiter auf Berger zu. Der stand mit ausdruckslosem Gesicht auf dem Fußweg, die Arme vor der Brust verschränkt. Der kritische Blick hätte normalerweise die ohnehin stetig in Erik brodelnde Unruhe weiter befeuert. Die hatte sich nach dem Gefühl des Sieges über Hanna allerdings vorerst verkrümelt.
‚Ist er besorgt?‘
Ein kurzes Flattern wanderte durch Eriks Bauch. Erneut fielen ihm Sophies Worte vom Vortag ein. Prompt verging ihm das Grinsen. Womöglich war es ein Fehler, Hanna und ihre Attitüden auf die leichte Schulter zu nehmen. Oder sie sogar noch weiter zu reizen. Während die mit Alina im Schlepptau auf sie zugeschlurft kam, konnte Erik sich aber weiterhin nicht durchringen, diesen lächerlichen Versuch einer Drohung ernst zu nehmen.
‚Was soll sie schon tun?‘ Hanna würde wohl kaum an einer Prügelei Interesse haben. Wobei Erik spontan nicht sicher war, ob er es überhaupt fertigbringen würde, eine Frau zu schlagen. ‚Vermutlich nicht‘, musste er sich eingestehen. Was dann?
„Brauchst du eine Pause?“, fragte Alina, nachdem die beiden Damen wieder bei ihnen angekommen waren. „Tut dein Fuß sehr weh?“
Erik biss sich auf die Zunge, um sie nicht anzufauchen, dass Hanna ihren angeblichen Unfall am Vortag doch garantiert nur vorgespielt hatte. Immerhin liefen sie seit dem Essen schon über eine Stunde durch die Gegend und die Frau hatte bisher nicht ansatzweise gehumpelt. Wenn Erik das Thema nicht erwähnt hätte, wäre ihr dieser Fehler nicht einmal aufgefallen.
„Stimmt. Daran hatte ich schon gar nicht mehr gedacht“, bemerkte Berger mit einem betont freundlichen Lächeln. „Tut mir leid, Hanna. Vielleicht ruhen Sie sich ein paar Minuten aus und kehren anschließend mit Alina zum Bus zurück.“
„Oh, ich glaube kaum, dass wir den alleine finden“, warf Hanna sofort mit einem verhaltenen Lachen ein.
Berger antwortete nicht, zeigte nicht einmal eine offensichtliche Regung. Zumindest keine, die Erik aufgefallen wäre. Womöglich hoffte er auch nur, dass es sich bei Bergers Worten um einen Versuch handelte, Hanna wegzuschicken. Leider tat er das nicht deutlich offener – wohl aus diesem mitunter etwas verqueren Verantwortungssinn seinen Schülern gegenüber.
‚Dabei ist das Schuljahr in ein paar Tagen endgültig vorbei.‘
„Sind Sie sicher, dass Sie weiterlaufen wollen?“, fragte Berger erneut nach.
So sehr Erik hoffte, Kälte und Abweisung in der Stimme ihres Lehrers zu hören, er fand sie nicht. Der verfluchte Stein in seinem Magen wurde schon wieder schwerer. Berger wollte nichts von Hanna. Es hatte ein Elterngespräch gegeben, weil die blöde Kuh ihrem Lehrer nachgestiegen war. Also warum wies der Blödmann sie jetzt nicht heftiger zurück?
„Natürlich bin ich sicher. Es wird schon gehen.“
Über Hannas Kopf hinweg bemerkte Erik, dass der Himmel nicht mehr so strahlend blau war, wie bei ihrer Ankunft in Lyon. Stattdessen zogen stetig weitere Wolken auf. Wenn sie Pech hatten, würde es anfangen zu regnen, bevor sie wieder am Bus waren. Im Grunde war Erik das egal, aber für einen Moment wirkte es, als würde die Farbe des Himmels seine eigene Stimmung nur zu gut wiedergeben.
Während es am Morgen sonnig und er selbst vergleichsweise gut gelaunt gewesen war, verdichteten sich inzwischen die miesen Stimmungswolken genauso wie ihr reales Pendant am Himmel. Ein verhaltenes Seufzen neben ihm riss Erik aus seinen Gedanken und senkte den Blick stattdessen auf Berger.
Der deutete mit der Linken über die Schulter und meinte: „Es ist von hier sicherlich noch eine gute Viertelstunde den Berg rauf bis zur ‚Basilique Notre Dame de Fourvière‘. Aber wir haben die Hälfte des Weges hinter uns, deshalb würde ich ungern umkehren.“
„Völlig klar!“, stimmte Hanna wie selbstverständlich zu.
Verwirrt sah Erik zu Berger. „Ist Notre Dame nicht in Paris?“, meinte er zaghaft.
Das Lächeln, welches ihm entgegenstrahlte, schaffte es, die kalte Klammer um Eriks Eingeweide zu lösen. Obwohl der schelmische Ausdruck, den er zu sehen glaubte, ihn vermutlich hätte beleidigen sollen. Dummerweise sah Berger damit mal wieder so verdammt anziehend aus, dass es bei Erik eher das Gegenteil bewirkte.
„Einige Kirchen in Frankreich werden so bezeichnet. Die in Lyon unterscheidet sich jedoch durchaus von der in Paris“, erklärte Berger. Danach sah er wieder zu Hanna und Alina. „Wenn es Ihnen zu anstrengend wird, können Sie ja zum Bus zurückkehren. Sie brauchen lediglich dem Weg zurück zum Ufer zu folgen. Dort nach links und am Fluss entlang. Sobald Sie die Promenade erreichen, sollten Sie sich recht schnell wieder orientieren können.“
„Nein. Wir kommen mit“, entgegnete Hanna hastig.
Ein kurzes Zögern Bergers. Wiederum hoffte Erik, dass der Hanna einfach absagen würde. Wenn die schon ihre angebliche Verletzung vorschob, sollte sie damit gefälligst auch verschwinden. Aber Berger sagte nichts, sondern setzte sich erneut in Bewegung, während er gleichzeitig mit der Erklärung fortfuhr.
„Die Basilisque ist ein ausgesprochenes Highlight. Obwohl ich persönlich den Anblick von unten beinahe beeindruckender finde, als wenn man direkt davorsteht. Aber von da oben hat man den vermutlich spektakulärsten Blick über Lyon.“
„Bei dem mühsamen Aufstieg muss es das echt wert sein“, murmelte Alina mit einem unterdrückten Stöhnen.
Ein schelmisches Lächeln huschte über Bergers Lippen, das Erik nicht so recht einordnen konnte. Mit einem Räuspern nickte ihr Lehrer und deutete die weiterhin steil ansteigende Straße hinauf: „Ja, den Anblick muss man sich verdienen.“
Erik folgte Berger sofort. Dabei nutzte er die Gelegenheit und schob sich erfolgreich zwischen diesen und die beiden Mädchen. Schweigen trat ein. Während Erik den jetzt schon spektakulären Ausblick auf den Hintern vor ihm genoss, kam mit einem Mal eine ganz andere Frage in ihm hoch. Warum zum Teufel wollte Berger ihnen ausgerechnet eine Kirche zeigen?
In einer Stadt wie Lyon gab es bestimmt jede Menge andere Dinge, die sie sich ansehen konnten. Sonderlich viel Zeit hatten sie ja eigentlich ohnehin nicht für ihren Ausflug gehabt, nachdem der Stau sie einiges an Fahrtzeit gekostet hatte. Selbst wenn die Stadt so rein gar keine anderen Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte, hätte Berger sie auch einfach in das nächstbeste Café schleifen und dort vergammeln lassen können.
‚Weshalb die Kirche?‘
Wie ein unangenehmes Jucken am Hinterkopf war da ein Gedanke, der versuchte, sich an die Oberfläche von Eriks Bewusstsein zu kämpfen. War da nicht schon einmal etwas gewesen? Er kniff die Augen zusammen und hob den Blick zurück zu dem schwarzen Haarschopf. Irgendetwas war da. Eine Erinnerung, die Erik nicht ganz zu greifen bekam.