11 – Unvorhergesehene Frage
Ehe Berger etwas sagen konnte, wurde er von den Schülerinnen vorwärts geschoben und gezogen. Scheinbar schienen die fest entschlossen, ihren Lehrer zur Party mitzuschleifen. Ob der wollte oder nicht. Erik hingegen, war sich zwar nicht sicher, aber für einen Moment bildete er sich zumindest ein, dass Berger hilfesuchend über die Schulter zu ihm zurückblickte.
Da Erik selbst keine andere Wahl hatte, trottete er missmutig hinter dem Trupp her. Vielleicht würde sich wenigstens eine Gelegenheit bieten, dass er sich den Schlüssel holen konnte, um endlich zu einer Dusche zu kommen. Sollte Berger halt bei den Weibern bleiben, wenn er unbedingt wollte.
Erst als sie durch den Durchgang unterwegs in Richtung der Hütten waren, widersprach Berger erneut. „Ich denke, es ist für Sie sicherlich angenehmer, ohne noch mehr Aufpasser zu feiern“, meinte er und drehte sich auf dem Absatz um, nur um zwei Schritte später direkt vor Erik anzuhalten.
„Jetzt seien Sie doch nicht immer so ein Spielverderber, Herr Berger“, rief in diesem Moment ausgerechnet Frau Farin mit einem lauten Lachen.
Etwas verwundert sah Erik auf den Mann vor ihm. Wenn da mehr als der halbe Meter zwischen ihnen gewesen wäre, hätte ihm dessen Zusammenzucken vielleicht entgehen können. So ließ das Erik ein weiteres Mal die Stirn runzeln.
Es war sogar für Erik ziemlich deutlich, dass Berger die Situation nicht zusagte. Dafür musste man Leuten ihre Stimmung nicht ansehen können. Der missmutige Blick, mit dem Berger den Kopf hängen ließ, war nicht zu übersehen.
Erik hatte keine Ahnung, warum er die Worte aussprach. Vielleicht wollte er zur Abwechslung auch mal diesen Blödmann zappeln sehen. Womöglich war Erik nur selbst reichlich gestört. Genug, als dass er einen überhitzten, unangenehm spannenden Rücken in Kauf nahm, wenn er damit diesem Kerl eine beschissene Reaktion entlocken konnte.
„Richtig“, meinte Erik mit einem süffisanten Grinsen. „Seien Sie doch nicht immer so ein Spielverderber. Herr. Berger.“
Die grünen Augen, die ihn mit einer nicht definierbaren Mischung aus irgendwas anfunkelten, ließen Erik die unangenehm spannende Haut vergessen und jagte ihm stattdessen einen ausgesprochen angenehmen Schauer über den Rücken.
‚Endorphine helfen offenbar tatsächlich gegen Schmerzen.‘
Obwohl es reichlich selbstzerstörerisch anmutete, konnte Erik sich von dem verdammten Anblick nicht losreißen. In jedem Sekundenbruchteil, den Erik Berger anstarrte, sah es aus, als würde eine andere Emotion durch dessen Gesichtszüge zu rauschen.
Überraschung, Erstaunen, Wut, Unsicherheit, Trotz, Entschlossenheit. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge und vermutlich noch das eine oder andere mehr, was Erik definitiv nicht deuten konnte.
„Also gut“, gab Berger nach. Seine Mundwinkel zuckten kurz, schafften es allerdings nicht, sich zu einem Lächeln aufzuraffen – nicht einmal ein Grinsen. „Für ein paar Minuten.“
Als Berger sich umdrehte und im Kreise der Damen zur Hütte ging, schlug Erik weiterhin das Herz bis zum Hals.
‚Was denkst du dir dabei?!‘, fauchte ihn eine reichlich erboste Stimme in seinem Kopf an. Ehrlicherweise hatte Erik keine Ahnung, was ihn zu dieser Idiotie geritten hatte. Zumal es nicht so aussah, als ob er hier einen Triumph eingefahren hatte.
Immerhin war es Berger, der da gerade von seinem Fanklub in Richtung der ersten Hütte getrieben wurde. Während Erik selbst weiterhin dumm rumstand – wie bestellt und nicht abgeholt. Irgendwie traf es das ziemlich genau. Zwar hatte man Erik halbherzig eingeladen, aber wirkliches Interesse daran, dass er kam, hatte garantiert keiner von denen.
Da Erik allerdings nun einmal selbst dafür gesorgt hatte, dass er vorerst nicht zu seiner erholsamen Dusche kommen würde, trat Erik ebenfalls auf die Hütten zu. Mit einem Ziehen im Bauch sah er, wie Berger sich auf einen ihm angebotenen Stuhl setzte, der Rucksack landete daneben.
Erik hatte keine Ahnung, was er jetzt mit sich anfangen sollte, also schlenderte er langsam zwischen den Hütten entlang. Irgendwo würde er hoffentlich einen Platz finden, an dem er sich nicht total bescheuert vorkam. Egal, wohin er lief, immer wieder zuckte Eriks Blick dabei zu Berger. Der saß betont gelangweilt auf der Veranda der ersten Hütte.
Irgendjemand fing an, auf einer Gitarre zu spielen. Selbst für Eriks absolut unmusikalische Ohren klang das reichlich schief und falsch. Entsprechend dauerte es auch nur wenige Minuten, bevor besagter Junge von Sandro angebrüllt wurde, dass der Klampfe gefälligst wegpacken sollte, wenn er sie heil mit nach Haus bringen wollte.
Kurz darauf ertönte deutlich angenehmere Musik aus einem etwas blechern klingenden Lautsprecher. Erik war selten auf Partys gewesen während der Schulzeit. Aber das hier erschien selbst in seinen Augen die mieseste Veranstaltung zu sein, die sie auf die Beine stellen konnten. Da war bis zur Abschlussparty am Donnerstag noch einiges an Potenzial offen.
Nach ein paar Minuten tauchte Hanna bei Berger auf und schien den etwas zu fragen. Er lächelte gequält und schüttelte den Kopf. Auch wenn der Kerl reichlich genervt zu sein schien, stellte sich bei Erik nicht der erhoffte Triumph ein.
‚Mag daran liegen, dass du genauso wenig hier sein willst‘, giftete es mal wieder belehrend in Eriks Kopf. Leider konnte er dem nicht widersprechen.
Kurz darauf gesellten sich Frau Farin und Frau Hirvi ebenso zu Berger auf die Veranda. Wie bereits beim Essen sah es ein weiteres Mal danach aus, als würden sie versuchen, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Allerdings wirkte Berger auch hier wieder eher einsilbig und zurückhaltend.
Erik seufzte und wandte sich ab. Er hätte vorhin einfach die vorlaute Klappe halten und Berger zu ihrer Hütte zurückkehren lassen sollen. Aber seine dumme Impulsivität hatte Erik da eindeutig einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wirklich hier sein wollte er trotzdem nicht, also wäre es sinnvoller, bei ihrer Hütte auf Berger zu warten. Der hatte ja nicht gerade so gewirkt, als würde er lange bleiben wollen.
„Hey, Erik.“
Überrascht sah er auf und tat sogar ein Stück zurück als plötzlich jemand direkt vor ihm stand. „Äh. Ja, Sophie?“
„Willst du ... nicht mit rüber ... kommen?“, stammelte sie, während ihre Hand vage in Richtung der übrigen Schüler wedelte.
‚Wozu? Was hat die vor?‘, fragte Erik sich verwundert und versuchte zu kapieren, warum die Frau überhaupt mit ihm redete.
„Danke, aber ... nicht wirklich“, presste Erik heraus. War ja nicht so, als hätten sie in den gemeinsamen Kursen der Oberstufe sonderlich oft was miteinander zu tun gehabt. Und vorher war sie in einer anderen Klasse gewesen.
„Kann ... ich dich mal ... was fragen, Erik?“
Nicht sicher, ob er das hören wollte, verschränkte er die Arme vor der Brust und zuckte mit den Schultern.
„Du ... schläfst nicht bei den anderen Jungen in den Hütten, richtig?“
‚Ups.‘
Zwar war klar gewesen, dass das früher oder später jemandem auffallen würde, aber um ehrlich zu sein, hatte Erik darauf gehofft, dass es eher später als früher sein würde. Nach dem ganzen Theater, das sie am Nachmittag mit der Zimmervergabe gehabt hatten, wollte er garantiert nicht, dass herauskam, wie dieses Fiasko geendet hatte.
„Sandro war ziemlich angefressen, als er gemerkt hat, dass jemand ein Einzelzimmer abbekommen hat“, fuhr Sophie diesmal mit deutlich sicherer Stimme, allerdings einem weiterhin beschämten Lächeln, fort.
Eriks Augenbrauen zogen sich zusammen. Diese Unterhaltung gefiel ihm zunehmend weniger. „Ist eher eine Abstellkammer als ein Zimmer“, murmelte er ausweichend.
„Aber es ist ein Einzelzimmer, nicht wahr?“, fuhr sie unbeirrt fort und sah Erik jetzt mit neugierigen Augen an.
Ging es darum? Wollte sie sein Zimmer, um mit irgendeinem Kerl da drinnen in Ruhe rummachen zu können? Oder glaubte irgendjemand, dass Erik tatsächlich mit Berger in einem Zimmer untergekommen war? Der Gedanke versetzte ihm einen Stich in den Magen. Weniger, aus Sorge, dass ihm Bergers Fanklub deshalb jetzt an die Gurgel springen könnte, sondern weil solche Spekulationen für einen Lehrer ein ziemliches Problem darstellen konnten.
Auch wenn Berger ein Blödmann war, hätte er das nun einmal nicht verdient. Erst recht nicht da das alles ein dummer Fehler der Herberge war.
„Ja. Ist ein Einzelzimmer. Auch nur ein Einzelbett“, gab er düster zurück.
„Ah. Die anderen meinten schon dass ... na ja, dass die Lehrer das wohl extra so sortiert hätten, damit es keinen ... Ärger gibt. Und so.“ Sophie fuhr sich verlegen über das Shirt und zog es erneut zurecht. „Sandro erzählt ja eh schon das ganze Schuljahr ... also ...“, setzte sie an, bevor sie nervös den Kopf senkte.
Erik zog die Augenbrauen zusammen. „Was erzählt er denn?“, fragte er finster zurück, bereute den unfreundlichen Tonfall aber sofort, als Sophie zusammenzuckte.
Ihre Worte waren kaum noch zu verstehen, so sehr nuschelte sie inzwischen: „Also ... dass ... na ja, dass du auf Jungs ... stehst.“
„Ah.“
„Stimmt ... dass ...?“
Weiterhin war Erik schleierhaft, warum er hier stand und noch immer mit Sophie sprach. Alle in diesem beschissenen Kurs hatten ihn das Jahr über ignoriert. Erik konnte sich nicht einmal daran erinnern, bisher überhaupt irgendwann mit dieser Sophie hier gesprochen zu haben. Um ehrlich zu sein, hatte Erik sie allerdings – wie den Rest der Damen im Kurs – geflissentlich ignoriert.
Seine Mitschüler – egal welchen Geschlechts – hatten Erik seit jeher nur bedingt interessiert, wenn sie nicht zufällig ebenso im gleichen Sportverein waren. Eine Alibifreundin hatte er nicht gesucht und nachdem rausgekommen war, dass er kein Interesse an Mädchen hatte, waren ihm ja eh erst einmal alle aus dem Weg gegangen.
„Nein“, antwortete Erik schließlich kühl und wurde prompt damit überrascht, dass Sophies Kopf nach oben schnellte und sie ihn mit großen Augen ansah.
„Echt nicht?“
„Nein“, wiederholte Erik und grinste dann schief. „Tut mir leid, das Klischee zu enttäuschen, auf Jungs steh ich nicht. Eher auf Männer.“
Ein kurzes, nervöses Lachen, danach nickte Sophie langsam. „So ... Richtig? Also hast du ... gar kein Interesse an ... Mädchen? Frauen?“
Erik löste die Arme vor der Brust und zog am Riemen seines Rucksacks. Die Richtung, in die dieses Gespräch verlief, gefiel ihm nicht. Vor allem, da er keinen Plan hatte, warum Sophie das ansprach und wohin das führen sollte. Außerdem ging Eriks Privatleben niemanden von diesen Idioten hier etwas an.
„Ich ... also ... Ich dachte, vielleicht könnten wir ... beide Mal ... Falls Du doch Interesse ... hättest ... an ...“
‚Ist nicht wahr!‘
„Versuchst du etwa gerade mich anzumachen?“, rutschte es Erik geradezu entsetzt raus, bevor er sich selbst stoppen konnte.
Wo zum Teufel kam das denn auf einmal her?! So lange Erik zurückdenken konnte, hatten sich nie irgendwelche Mädchen für ihn interessiert. Jedenfalls nicht, dass es ihm bewusst war. Wobei er es vermutlich auch nicht bemerkt hätte, wenn dem so wäre. Der Gedanke behagte Erik gar nicht. Nicht mal ansatzweise.
Schon wieder zuckte Sophie vor ihm zusammen und zog nervös kichernd an ihrem Top. „Na ja, du ... also du siehst halt durchaus ...“ Das verlegene Räuspern brachte Eriks über die letzten Monate mühsam aufgebaute Bild seiner kleinen, kaputten Welt weiter ins Wanken.
„Ich glaube nicht, dass ich jemals wirklich ernsthaftes Interesse an einer Frau hatte. Deshalb: Ja, ich bin durchaus sicher, dass ich auf Männer stehe.“
„Uhm. Scha...de. Aber falls ... also falls du doch ...“
Okay, allmählich fing es an, skurril zu werden. „Eher nicht“, murmelte Erik, inzwischen reichlich verunsichert.
„Dann ... äh. Ich ... geh dann mal ... zu den anderen.“
Bevor er etwas erwidern konnte, drehte Sophie sich herum und stürmte davon. Verwirrt sah Erik ihr nach. Was zum Geier sollte er bitte von diesem Gespräch halten? Als Sophie zu ihren Freundinnen auf die Veranda einer der Hütten lief, wuchs Eriks Unsicherheit weiter. Die Mädchen tuschelten, kicherten und er konnte immer wieder Seitenblicke in seine Richtung erhaschen.
Schon spürte Erik das zarte Flackern der Wut in seinem Bauch. Wollten sie ihm eine reinwürgen, weil er scheinbar ein Einzelzimmer erwischt hatte? Aber für die Mädchen sollte das ja kein Unterschied sein. Oder wollten die Weiber sich über ihn lustig machen?
Als Erik finster zu Sophie starrte, machte die aber nicht den Eindruck, als würde sie sich im Augenblick sonderlich wohlfühlen. Zumindest hatte sie den Kopf gesengt und schubste immer wieder eines der anderen Mädchen, das breit grinste gegen die Schulter. Es wirkte eher, als wäre es ihr peinlich.
‚Hat die das etwa ernst gemeint?‘, fragte Erik sich ungläubig. ‚Hat die wirklich versucht, dich anzumachen?‘
Nein, das war lächerlich. Warum sollte sie? Noch dazu, wo Sandro ja offenbar im ganzen Kurs herumgetönt hatte, dass Erik schwul war. Entsprechend klar müsste eigentlich sein, dass er kein Interesse daran hatte, mit einer seiner Mitschülerinnen ins Bett zu steigen.
Vielleicht war der Abend doch zu spät und der Sonnenstich zu heftig gewesen.
Stirnrunzelnd sah Erik sich um. Der Rest des Kurses feierte inzwischen deutlich gesitteter. Die beiden Lehrerinnen saßen weiterhin auf der Veranda der ersten Hütte. Ein paar der anderen Mädchen hatten sich dazu gesellt. Insgesamt schienen sich vor jedem Bungalow Grüppchen gebildet zu haben, die plaudernd herumstanden.
Es war definitiv keine rauschende Party, bei der die Wodkaflaschen herumgereicht wurden. Die einzigen Flaschen, die hier kursierten, waren Bierflaschen – oder gänzlich alkoholfrei.
„Miese Party“, murrte Erik. Auch wenn er nicht vorgehabt hatte, sich zu beteiligen, wirkte das alles reichlich lahm.
Plötzlich fiel ihm etwas auf. ‚Wo zum Geier ist Berger?‘
Noch einmal ließ Erik einen Blick über die Anwesenden gleiten, aber es blieb dabei. Sein Lehrer war verschwunden. Nicht auf der Veranda vor der ersten Hütte, wo man ihn hingesetzt hatte, und offenbar auch bei keiner der anderen Gruppen. Schon konnte Erik ein Ziehen im Magen spüren, als er sich fragte, ob Hanna endlich ihr Ziel erreicht hatte. Aber genau in dem Augenblick entdeckte er ebenjene bei Frau Farin, mit der sie sich offenbar angeregt unterhielt.
In der Hoffnung, dass Berger zurück zu ihrer eigenen Unterkunft gegangen war, schlich Erik sich hinten um die Hütten herum in Richtung Haupthaus. Als er den Durchgang passierte, sah er noch einmal zu den übrigen Schülern zurück. Wie immer schien sich niemand dafür zu interessieren, dass er nicht mehr dabei war. Heute war das Erik allerdings nur recht, denn er wollte jetzt endlich eine Dusche und danach ins Bett kriechen.
Da wäre ihm zwar ein Begleiter lieber gewesen. Aber wie er Sophie gegenüber bereits erwähnt hatte: Es war nur ein Einzelbett und bei Eriks eigenen Größe für die Art von Gesellschaft, die er gern gehabt hätte, entsprechend ungeeignet.
Warum sich seine Schritte auf dem Weg zurück zur eigenen Unterkunft beschleunigten, hätte Erik nicht sagen können. Ganz sicher war es nicht die Frage danach, ob der Blödmann von Lehrer dort sein würde. Und schon gar nicht, die Suche nach einer Antwort darauf, wo der Kerl überhaupt war. Nein, es war garantiert nur der innige Wunsch, eine Dusche zu bekommen, und endlich schlafen zu gehen, um diesen Katastrophentag zu beenden.
„Neuer Tag, neues Glück“, murmelte Erik in dem irrsinnigen Versuch, sich selbst einzureden, dass es ja nur besser werden konnte.