19 – Stockender Atem
Der hastig gehoppelte Weg zum Wasser war hoffentlich nicht allzu auffällig. Wenn doch, konnte Erik es aber auch nicht mehr ändern. Irgendwie musste er sich und seinen verräterischen Schwanz abkühlen. Und das einzig verfügbare Nass war offenkundig dieses beschissene Meer.
Die ersten Schritte hinein waren erstaunlich schwer. Irgendwie hatte Erik sich den Widerstand des Wassers nicht so kräftig vorgestellt. Trotzdem watete er weiter, bis er wenigstens hüfttief im Meer stand. Es war jedenfalls nicht so kalt, wie Erik es sich gewünscht hätte. Die Fülle an neuen Eindrücken reichte aber, um seinen rasenden Puls immer weiter in einen normaleren Rhythmus zu zwingen.
Es fühlte sich an, als würde mit jeder Welle ein Stück der Erregung aus ihm herausgespült werden. Langsam rieb Erik mit der Hand gegen seinen Schritt. Jetzt, wo das Gefühl nicht mehr ganz so überwältigend war, kam die Versuchung auf, die Augen zu schließen und es zu Ende zu bringen. Selbst dieser hormongesteuerte Mistkerl da unten dürfte es nicht schaffen, sofort wieder stramm zu stehen – was den restlichen Nachmittag mit Berger an Eriks Seite vielleicht erträglicher machen würde.
‚Kannst ja einfach in die Herberge zurück‘, belehrte ihn seine Vernunft. Richtig. Da wäre er auch allein und sein Zimmer konnte Erik immerhin abschließen, um nicht von Berger beim wichsen erwischt zu werden.
„Dann sollten Sie erst einmal erwachsen werden.“
‚Scheiße‘, fluchte Erik schon wieder innerlich und kniff die Augen zusammen.
Wenn zum Erwachsensein gehörte, sich nicht mehr bei jeder sich bietenden Gelegenheit einen runterholen zu wollen, dann wäre es vielleicht besser, wenn er noch eine Weile ein dummer Teenager blieb.
Bei dem Gedanken musste Erik lachen. Wahrscheinlich sah er total bescheuert, um nicht zu sagen wahnsinnig aus, wie er bis zum Bauchnabel im Mittelmeer stand und lachte. Aber es half, seine Gedanken endgültig zu befreien. Erst als die Anspannung aus Eriks Körper floss, wurde ihm klar, wie verkrampft er gewesen war. Immer wieder schlugen die Wellen gegen seinen Bauch und kühlten die überhitzte Haut weiter ab.
Als er mit der Rechten auf die Stelle drückte, an der die Typen ihm in den Bauch getreten hatten, stellte Erik außerdem zufrieden fest, dass der Schmerz verschwunden war. Wirkliche Schläger waren die zwei glücklicherweise nicht gewesen. Wäre Berger nicht aufgetaucht, hätte sich das allerdings noch ändern können.
Mit beiden Händen griff Erik ins Wasser und spritzte es sich ins Gesicht. Es fühlte sich merkwürdig an. Irgendwie ‚anders‘. Der salzige Geschmack danach auf Eriks Lippen trug zusätzlich zu dem ungewohnten Gefühl bei. Um auch den Rest des Körpers weiter abzukühlen, trat er einen Schritt vor und schöpfte sich Wasser über beide Arme, die Brust. Einen Moment lang überlegte Erik sogar, ob er kurz in die Knie gehen sollte.
Bei dem Gedanken, dass die Wellen über ihm zusammenschlagen könnte, holte ihn der allmählich in der Brust spürbar werdende Druck jedoch prompt in die Realität zurück. Erik öffnete die Augen und sah aufs Meer hinaus. Die Wellen rollten nur träge zum Strand hinauf. Wenn er nicht diese vollkommen irrationale Angst davor hätte, keinen Boden mehr unter sich zu fühlen, könnte er das hier vermutlich deutlich besser genießen.
Als Erik über die Schulter zu Berger blickte, saß der auf dem Handtuch. Knie angezogen, die Arme darum gelegt und die Stirn ruhte erneut auf den Unterarmen. Der Kerl sah nicht einmal zu ihm hinüber.
‚Das sind garantiert mehr als zehn Meter‘, warf Eriks Verstand belehrend ein und brachte ihn damit zum Lächeln. So viel zu Bergers Regeln. Scheinbar schienen die nicht wichtig genug zu sein, um neben dem Hemd ebenso die Hose loszuwerden und hierher zu kommen.
Langsam trat Erik einen weiteren Schritt nach vorn und drehte sich wieder in Richtung Meer. Die Ablenkung und die Abkühlung schienen zu helfen, den Rest seines Körpers zu beruhigen. Bevor sein verräterischer Schwanz sich beruhigt hatte, würde Erik nicht wieder aus dem Meer herauskommen. Rumstehen, wie ein menschlicher Wellenbrecher, kam allerdings vermutlich genauso dämlich rüber.
„Blöde Hormone“, grummelte Erik ungehalten und versuchte, seinen Schritt einigermaßen zu richten. Zu übersehen wäre es aber in der engen Badehose sicherlich nicht.
Erik überlegte gerade, wie er trotzdem halbwegs unauffällig hier wegkommen könnte, als er plötzlich etwas Glitschiges an seiner Wade spürte. Mit einem Kreischen, das eines kleinen Mädchens würdig gewesen wäre, sprang Erik nach hinten.
‚Was zum Geier war das?‘, schoss ihm durch den Kopf, nur um zwei Sekunden später von einem ‚Scheiße, verdammt!‘, ersetzt zu werden.
Nämlich in genau dem Moment, als Eriks Fuß auf dem sandigen Meeresboden wegrutschte. Das wilde Rudern mit den Armen brachten rein gar nichts. Jedenfalls nicht, wenn es darum ging, ihn aufrecht zu halten, während Erik in gefühlter Zeitlupe nach hinten wegkippte. Glücklicherweise schafften es die ausgestreckten Arme zusammen mit reichlich ungelenken Bewegungen dennoch, Eriks Kopf über Wasser zu halten, als er nach hinten wegkippte.
Geradezu panisch kämpfte er weiter darum, seine Beine wieder unter sich zu bringen, und stürzte danach zurück aus dem Meer in Richtung Strand. Keuchend, zitternd, nicht zu vergessen das in der Brust rasende Herz, saß Erik im nur noch knöcheltiefen Wasser und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das so harmlos erscheinende Meer.
‚Verflucht noch einmal, das war knapp!‘
Und wie. Nicht viel und er wäre komplett ausgerutscht. Ein weiteres Zittern lief durch Eriks Körper, als in seinem Kopf die Vorstellung Gestalt annahm, wie das Wasser über ihn zusammenschlug. Das Gefühl, nicht mehr zu wissen, wo oben und unten war. Keine Kontrolle. Orientierungslosigkeit. Dazu die Unfähigkeit zu atmen.
Immer weiter schnürte es ihm die Kehle zu. Eriks Brustkorb fühlte sich an, als würde sich ein kaltes, festes Band darum legen. Ihn zusammenpressen. Er versuchte Luft zu holen, aber obwohl er hier an Land saß, schien das keinen Sauerstoff für Eriks Lungen zu bringen. Verdammt noch einmal! Wieso konnte er nicht atmen? Er war nicht unter Wasser. Es war alles gut gegangen. Ein Krächzen kam aus Eriks Hals, während er erneut versuchte, Luft zu holen. Aber da passierte nichts.
‚Atme, verflucht noch mal!‘
Es ging nicht. Sein Körper sollte wissen, wie es funktionierte, welche Muskeln er bewegen musste. Verdammt! Erik hatte lange genug im Biologieunterricht gehockt, um es herbeten zu können. Trotzdem ging es nicht. Es war, als hätte er jede Kontrolle über seinen Körper verloren. Er konnte sich nicht bewegen, nicht atmen. Da war nichts. Als würde Erik nicht hier am sicheren Strand sitzen, sondern wäre tatsächlich unter diesem beschissenen Meer begraben worden. Er wollte schreien, aber auch das ging nicht.
Plötzlich war da etwas an seinem Gesicht. Eriks Kopf wurde angehoben. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen starrte er nach vorn. Erik konnte spüren, dass sein Mund offen stand, aber es kam weder ein Laut heraus, noch Luft hinein. Sein Brustkorb ließ sich zu keinem Muskelzucken bewegen.
„Oh, verflucht!“, hörte er Bergers Stimme.
Mehr als ein Krächzen brachte Erik jedoch nicht heraus. Weiteres Zittern, als sein Geist versuchte, den Körper zu besiegen und endlich diesen verdammten Druck von seinem Brustkorb zu bekommen um atmen zu können. Plötzlich war Berger wieder verschwunden. Stattdessen waren da Hände, die Erik unter den Achseln griffen und weiter den Strand hinauf zerrten. Er versuchte zu helfen, auch wenn Erik keine Ahnung hatte, was das sollte. Er krepierte hier doch sowieso gerade. Aber alles, was er zustande brachte, war ein hilfloses Strampeln mit den Beinen.
„Durch die Nase atmen!“, rief Berger hinter ihm.
Erik wurde zur Seite gekippt. Erstaunt stellte er fest, dass sein Körper offenbar doch noch Kontrolle über die Hände hatte. Die kamen automatisch hoch und stützten ihn ab, bevor Erik mit dem Gesicht im Sand landete.
„Langsam! Durch die Nase einatmen. Durch den Mund aus“, befahl Berger ihm erneut.
Zaghaft versucht Erik, der Anweisung zu folgen. Und tatsächlich konnte er spüren, wie sich etwas in seinem Brustkorb bewegte. Gierig setzte er zu einem tieferen Atemzug an, aber sein Körper blockierte schon wieder.
„Nicht so hastig, Erik! Versuchen Sie, langsam durch die Nase ein und durch den Mund auszuatmen.“ Gleichzeitig schob Berger seinen Kopf weiter runter. Eine Hand fuhr unter Eriks Körper und drückte dagegen. „Atmen Sie in den Bauch, nicht die Brust.“
‚Mach endlich oder du krepierst hier jämmerlich!‘
Erik hätte nicht sagen können, wessen Anweisung den Ausschlag gab – die von Berger oder der Stimme im eigenen Kopf. Letztendlich machte das aber keinen wirklichen Unterschied. Er befolgte beide und tatsächlich schaffte Erik es so die ersten, zaghaften Atemzüge zu machen und wieder Luft in seine Lungen zu bringen.
Eine Hand rieb über Eriks Rücken, während die andere weiterhin unter seinem Bauch lag. Ein irrwitziger Gedanke ließ Erik hoffen, dass es Berger war, denn das hier war schon peinlich genug, da sollte nun wirklich nicht noch irgendjemand anderer Zeuge werden dieser Unfähigkeit, den eigenen Körper unter Kontrolle zu halten.
„Sehr schön, Erik. Alles gut. Atmen Sie, gegen meine Hand.“
Bergers leise, ruhige Stimme, zusammen mit den Berührungen auf seinem Rücken und dem Bauch wirkten. Mit jedem Atemzug wurden die Bänder um Brust und Kehle schwächer, dafür das Luftholen stetig einfacher.
Eriks Arme zitterten, aber noch hielten sie ihn aufrecht. Während er sich weiter einzig auf jeden einzelnen Atemzug konzentrierte, war Erik sich allerdings sicher, dass er selbst dann nicht mit dem Gesicht im Sand landen würde, sollten seine Arme doch noch nachgeben.
Wie lange er so auf allen vieren hockte, hätte Erik hinterher nicht mehr sagen können. Irgendwann war das Gefühl, ihm würde etwas den Hals abschnüren aber vollkommen verschwunden. Auch Eriks Brustkorb war frei. Alles, was er jetzt noch spürte, waren die Hände auf Bauch und Rücken.
Erik schloss die Augen und richtete sich auf. Vorsichtig nahm er den ersten Atemzug durch den Mund. Erleichtert stellte er fest, dass es funktionierte. Scheinbar war heute doch nicht der Tag, an dem er abkratzte.
‚Der Tag ist noch nicht zu Ende ...‘
„Atmen Sie langsam weiter“, forderte Bergers ruhige und leise Stimme ihn auf. Erik nickte lediglich und machte, was ihm gesagt wurde. War zwar nicht unbedingt seine Art und Weise. Aber bevor er hier umkippte, und es schaffte, sich selbst im nicht einmal knöchelhohen Wasser zu ersaufen, definitiv die bessere Alternative.
Schon spürte Erik, wie sich sein Brustkorb erneut verengte. Sofort verlagerte er sich wieder darauf, durch die Nase Luft zu holen. Der leichte Widerstand gegen seinen Bauch zeigte Erik, wo er hin atmen musste, während die Hand auf dem Rücken, weiter beruhigende, kleine Kreise zog.
„Ganz ruhig“, flüsterte Berger.
Erik nickte. Er hob seine Rechte und legte sie auf die Hand, die weiterhin vor seinem Bauch lag. „Danke“, murmelte er zögerlich. Auch wenn es verflucht peinlich war, dass gerade Berger ihn so gesehen hatte.
‚Du kannst eher froh sein, dass der restliche Kurs nicht hier war.‘
Erik stöhnte und klopfte leicht gegen die Hand auf seinem Bauch, um Berger zusätzlich zu zeigen, dass er okay war. Verwundert öffnete Erik die Augen und sah nach unten. Da war nicht nur Haut, auf der seine Finger lagen – jedenfalls keine Menschliche.
Eine Furche bildete sich zwischen Eriks Augen, als er versuchte zu verstehen, warum da ein breites, braunes Lederband um Bergers Handgelenk lag. Verwundert ließ er die Finger darüber gleiten. Bevor Eriks Verstand aber dazu ansetzen konnte den Anblick weiter zu analysieren, war die Hand, samt Arm, plötzlich verschwunden und sein Lehrer aufgesprungen.
„Können ... Sie aufstehen?“, fragte Berger hastig, wobei er um Erik herum trat und sich bereits einige Schritte entfernte.
Erik war sich nicht sicher, wollte sich aber nicht weiter zum Trottel machen. Also kämpfte er sich nach oben. Erik schwankte zwar kurzzeitig hin und her, konnte allerdings sicher stehen, ohne dass ihn gleich wieder die Panik überrannte. Er sah zu den Handtüchern, auf denen sie gesessen hatten. Berger war bereits dort und dabei sich das Hemd wieder drüber zu ziehen.
‚Was zum ...?‘
Unsicher schwankte Erik in die gleiche Richtung. Als er es endlich geschafft hatte, war Berger schon wieder angezogen, auch wenn das Hemd noch immer offen war.
„Setzen Sie sich hin, bevor Sie umkippen“, murmelte Berger in Eriks Richtung – sah sich allerdings nicht einmal zu ihm um. Stattdessen wühlte der Kerl im Rucksack, bis er schließlich einen Geldbeutel rausholte. „Und bleiben Sie sitzen. Bin gleich wieder da.“ Berger stockte, sah dann endlich zu Erik hinüber. Ein Lächeln zog an den zu verführerischen Lippen, als er fortfuhr: „Es wäre hilfreich, wenn Sie es schaffen würden, sich in der Zeit nicht selbst umzubringen. Also ... bleiben Sie bitte einfach sitzen.“
Normalerweise würde Erik bei diesen Worten wohl zusammenzucken. Im Augenblick fühlte er sich aber zu schwach, um überhaupt irgendeine einigermaßen ‚normale‘ Reaktion zeigen zu können. Stattdessen starrte Erik Berger nach, wie der mit eiligen Schritten in Richtung Promenade verschwand. Dort sah dieser sich kurz um und betrat anschließend einen der Läden in der Nähe.
Erik schloss die Augen und ließ sich auf das Handtuch fallen. Mit einem Arm über dem Gesicht, um die blendende Sonne abzuhalten, lag er einfach nur da. Ob in der Zeit, die Erik dort lag, tatsächlich nichts durch seinen Kopf ging, hätte er nicht sagen können. Aber irgendwann kam Berger zurück. Was Erik zugegeben nur deshalb merkte, weil ein eiskalter Blitz durch seinen Arm fuhr.
„Was zum ...?“, zischte er erschrocken. Aber die Worte erstarben auf Eriks Lippen, als er Bergers besorgtes Gesicht viel zu nah über sich erblickte.
„Ich dachte, Sie könnten vielleicht auch etwas brauchen.“
Verwundert sah Erik auf die Flasche Wasser in Bergers Hand, die ihm hingehalten wurde. Er murmelte ein Danke und nahm sie, während er sich aufsetzte.
Berger schwieg, richtete sich stattdessen auf und ließ sich anschließend zwei, drei Meter weiter, ebenfalls im Schatten, wieder in den Sand fallen. Irritiert bemerkte Erik, dass Berger sich dabei nicht auf das eigene Handtuch, sondern sogar noch ein Stück weiter weg platziert hatte. Gerade wollte Erik zu einer Frage ansetzen, als Berger eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche zog und die Folie darum entfernte.
Also verkniff Erik sich den Kommentar und öffnete stattdessen die Flasche. Das kalte Wasser war angenehm. Trotzdem blieb er vorsichtshalber bei kleinen, zaghaften Schlucken. Für heute hatte Erik sich genug Peinlichkeiten ausgesetzt. Er schielte zu Berger, der weiterhin zu weit weg saß und inzwischen auf das Meer blickte. Die Zigarette war schon fast komplett weg. Ein letzter Zug, dann wurde der Rest im Sand zwischen Bergers Füßen ausgedrückt.