Tag 6 - Donnerstag
63 – Nächtlicher Nachhall
Irgendwie hätte es gepasst, wenn in der eigentlichen Stille des Raumes eine Uhr ticken würde. Aber natürlich war das nicht der Fall. In diesem lächerlichen Zimmer gab es außer dem Bett, in dem Erik lag, schließlich rein gar nichts. Na gut, irgendwo auf der anderen Seite stand seine Reisetasche an der Wand. Und in der näheren Umgebung ebendieser dürfte sich die Dreckwäsche verteilen. Ganz davon abgesehen, dass Erik selbst im Bett lag.
‚Es gibt also durchaus andere ... Dinge hier.‘
Kaum hatte er das gedacht, zerriss endlich das Kreischen der Kreissäge die Stille. Mit einem Seufzen ließ Erik die Hand, die eben noch über seine nackte Brust gewandert war, herabgleiten. Er schloss die Augen und versuchte, das störende Geräusch auszublenden. Der Nachhall des eigentlich ausgesprochen angenehmen Traumes hatte an diesem Morgen leider nicht das Hochgefühl mitgebracht, das er sonst kannte. Angesichts des Gesprächs, das Erik vergangene Nacht mit Berger geführt hatte, erschien der sich daran anschließende Traum, unangemessener als je zuvor.
Da half auch nicht die Stimme in Eriks Kopf, die versuchte ihm einzureden, dass das vollkommen egal war und letztendlich nichts miteinander zu tun hätte. Jedes Mal, wenn er sich vorstellte, dass er sich nicht nur zu Bergers Ohr runtergebeugt hatte, fing der an, unter ihm vor Angst zu erzittern und etwas in Erik blockierte.
Er versuchte, sich einzureden, dass deses Zittern Erregung war, dass der Mann schließlich schon seit Monaten darauf wartete, dass Erik endlich den letzten Schritt machte und aufhörte, sich hinter irgendeinem dämlichen Anstand zu verstecken. Aber es wollte Erik an diesem Morgen nicht gelingen. Seufzend drehte er sich auf die Seite. Die letzten Fetzen des Traums waren beinahe verklungen. Mit einem genervten Stöhnen presste Erik eine Hand gegen seinen Schritt.
‚Anstand ist scheiße.‘
An Schlaf war bei der Geräuschkulisse der Kreissäge ohnehin nicht mehr zu denken. Also angelte Erik nach der Jeans, die vor dem Bett auf dem Boden lag. Vermutlich wäre es sinnvoll gewesen, sie letzte Nacht noch aufzuhängen, damit sie anständig trocknen konnte. Dummerweise war hier ja aber nichts, wo er sie hätte drüber hängen können. Denn wie bereits festgestellt, hatte das Zimmer abgesehen vom Bett, der Reisetasche, der Dreckwäsche und Erik selbst am Ende nichts weiter vorzuweisen.
Er zog das Handy aus der Hosentasche und prüfte die Uhrzeit. Acht Uhr, die Handwerker waren pünktlich bei der Arbeit. Für einen Moment fragte Erik sich, ob das in ein paar Jahren ebenfalls sein Alltag sein würde. Nicht, dass er plante, demnächst an der Kreissäge vor irgendwelchen Holzhütten zu stehen. Trotzdem würde Erik irgendwann mit dem Studium fertig sein. Hoffentlich erfolgreich.
‚Und dann?‘
Job. Ein langweiliger Alltag, in dem Erik im Büro hockte. Vielleicht, insofern das mit dem Journalismus tatsächlich das Richtige für ihn war, würde er auch rumfahren. Leute interviewen – oder etwas in der Art. Erik runzelte die Stirn. So genau hatte er nicht darüber nachgedacht, wie ein Alltag als Journalist aussehen könnte. Aber dafür würde er am Montag ja sein Praktikum antreten. Und das wiederum würde hoffentlich etwas Klarheit bringen, was die berufliche Zukunft betraf. Bei allem anderen hoffte er weiterhin, bereits vor Montag ein paar Fortschritte zu machen.
Erik setzte sich auf und starrte erneut auf das Display des Handys. Keine Anrufe, keine Nachrichten. Nicht, dass er mit welchen gerechnet hatte. Na gut, vielleicht war da vor der Fahrt ab und an die Befürchtung gewesen, dass seine Mutter ihm ständig schreiben würde. Aber sie hatte sich nur einmal gemeldet – auf Eriks Nachricht, dass er gut angekommen war.
‚Ihr ist im Gegensatz zu Berger eben klar, dass du kein kleines Kind mehr bist.‘
Das Gefühl, dass sich dieser Abschnitt in Eriks Lebens in drei weiteren Tagen endgültig dem Ende neigen würde, war trotzdem merkwürdig. Dabei war es vollkommen albern, diesen Zeitpunkt ausgerechnet auf den Abend der Abschlussfeier legen zu wollen. War ja nicht so, als ob er am Sonntag plötzlich ein anderer Mensch sein würde.
Erik grinste und fuhr sich über die Augen. Das verdammte Kreischen setzte erneut ein. Konnten die Kerle das Holz eigentlich nicht zu christlicheren Zeiten sägen? Wenigstens war er heute schon wach gewesen.
Er ließ den Kopf hängen und seufzte leise. „Genieß die Fahrt, hat Alex gesagt“, murmelte Erik genervt. „Such dir wen zum Rummachen, hat er gesagt. Der hat leicht reden ...“
Mit Schwung erhob Erik sich aus dem Bett und holte frische Wäsche aus der Reisetasche. Aus dem Bad war bisher nichts zu hören, also war Berger noch nicht dort. Wach war er garantiert, bei dem Lärm konnte sicherlich niemand weiterschlafen. Hastig griff Erik, nachdem er die Unterhose anhatte, nach der Jeans.
Kaum hatte er ein Bein hineingeschoben, zog er es angewidert wieder heraus und warf die Hose auf den stetig größer – und breiter – werdenden Stapel an Dreckwäsche. Nach kurzem Wühlen hatte Erik aus diesem seine Shorts gezogen. Vielleicht wäre es eine gute Idee gewesen, mehr als die beiden Hosen einzupacken. Aber wer konnte schon damit rechnen, dass die Fahrt derartig katastrophal verlaufen würde?
Seufzend schnappte Erik sich das Waschzeug und marschierte in den Flur. Sowohl die Tür zu Bergers Zimmer als auch die zum Bad waren geschlossen. Misstrauisch sah er zwischen beiden hin und her. Weder aus dem einen, noch dem anderen Raum waren Geräusche zu hören.
„Was soll’s“, sagte er sich und drückte die Klinke zum Bad herunter. Falls Berger dort drinnen war, hatte er ja vermutlich eh abgeschlossen.
Die Tür ließ sich allerdings ohne Probleme öffnen. Sehr zu Eriks Leidwesen, war das Bad dahinter leer. Noch einmal sah er zu Bergers Zimmer, aber von da war weiterhin nichts zu hören. In Eriks Inneren verdrehte sich etwas unschön, als die Bilder der letzten Nacht in ihm aufstiegen. Dummerweise kein sonderlich angenehmes Gefühl. Dabei hatte Erik in den vergangen Tagen ja geradezu darauf gewartet, Berger ohne das verdammte Hemd sehen zu können. Jetzt, wo genau das endlich passiert war, wünschte Erik sich eher das Gegenteil.
Weniger weil der Anblick so furchtbar gewesen wäre. Sicherlich war die Vorstellung, dass Berger scheinbar mehrmals derartig zum Opfer von Gewalt geworden war nicht gerade toll. Aber so unschön die Narben auf den ersten Blick erschienen, in Eriks Augen entstellten sie nichts. Dennoch waren sie ein Symbol dafür, dass Bergers Leben scheinbar deutlich komplizierter und schlimmer gewesen war, als Erik es sich jemals vorgestellt hätte.
„Die Fassade ist ja nicht umsonst da“, murmelte Erik vor sich hin, während er sich der wenigen Klamotten entledigte und sich unter die Dusche stellte.
Nicht ganz fünfzehn Minuten später trat Erik erneut aus dem Bad und war zwar endgültig wach, aber nicht wirklich schlauer, was er mit dem Gespräch vom Vorabend anfangen sollte. Das spukte ihm dafür reichlich penetrant weiterhin durch den Kopf. Und fing zunehmend an, zu nerven. Weniger die Tatsache, dass Erik überhaupt darüber nachdachte, sondern vielmehr, dass Berger ernsthaft geglaubt hatte, ihn mit einer so offensichtlichen Lüge abschrecken zu können.
„Dabei hat er die Abweisung aber mal wieder nicht ernsthaft ausgesprochen“, murmelte Erik vor sich hin, während er ein sauberes T-Shirt in der Reisetasche suchte.
Berger hatte zweifellos versucht, ihm vorzumachen, er hätte sich den ganzen Scheiß selbst angetan. Fragte sich warum. Wirklich nur, um Erik damit abzuschrecken? Falls der Dickkopf ihn tatsächlich loswerden wollte, bräuchte es ja lediglich einige wenige Worte Bergers. Dass Erik nichts gegen dessen Willen tun würde, hatte er ihm ja schon mehrmals versichert. Ein einfaches ‚Lassen Sie mich endlich in Ruhe, Erik‘ würde entsprechend reichen.
„Hat er aber nicht gesagt“, flüsterte er mit einem zufriedenen Seufzen.
Der Gedanke war zwar vielleicht anderen nicht viel wert, für Erik hieß das allerdings, dass er noch Zeit hatte. Jedoch nur zwei weitere Tage, den der Abschlussfeier nicht mitgerechnet. Dort würde er Berger zwar garantiert sehen, aber da würde sich vermutlich eher keine Gelegenheit mehr ergeben, zu reden. Apropos ...
Etwas verwundert sah Erik zur Zimmertür und überlegte. Aus dem Bad nebenan war weiterhin kein Geräusch zu hören. War Berger eigentlich inzwischen aufgestanden? Natürlich war da sofort der Gedanke, dass Erik ja einfach wie letzte Nacht in Bergers Zimmer gehen konnte, um nachzusehen.
Die Vorstellung, ebendiesen am Ende halb nackt beim Umziehen vorzufinden, brachte Eriks Blut dazu, sich gleich in zwei gegengesetzte Richtungen in ihm auszubreiten. Prompt setzte die inzwischen etwas detaillierter gewordene Vorstellung von Berger auch noch dazu an, die Unterhose aus dem Bild zu streichen. Erik schaffte es nur knapp, ein Stöhnen zu unterdrücken.
Um sich irgendwie abzulenken, kramte Erik hastig die verbliebenen sauberen Sachen aus der Reisetasche und fing an, stattdessen die Dreckwäsche hineinzustopfen. Lediglich die Jeans hing er zum endgültigen Trocknen über das Fußende des Bettes.
Sonderlich gezielt ging er beim Einräumen der restlichen Sachen nicht vor. Und so war es vermutlich nicht verwunderlich, dass die Tasche, nachdem endlich alles eingepackt war, bereits gut gefüllt aussah. Jedenfalls voller als bei der Ankunft. Aber wenigstens waren die Bilder aus seinem Kopf verschwunden, bevor sie zusätzliches Chaos darin verursachen konnten.
Erleichtert atmete Erik auf.
Ein Blick aufs Handy zeigte, dass er allmählich zum Frühstück gehen konnte. Für heute war zur Abwechslung kein großes Programm geplant, jedenfalls keinerlei Ausflug, zu dem sie erst hätten hinfahren müssen. Lediglich am Abend würden sie sich alle für ein gemeinsames Lagerfeuer treffen, um das anstehende Ende ihrer Schulzeit zu feiern.
‚Ob Berger das auch so sehen wird?‘, fragte Erik sich selbst mit einem Schmunzeln.
Vermutlich nicht. Wenn man es ganz genau nahm, war der Mann morgen weiterhin sein Lehrer, obwohl das stetig lächerlicher klang. Tatsächlich vorbei war dieser Zustand aber erst mit dem offiziellen Ende des Schuljahres am kommenden Wochenende. Dummerweise hieß das auch, dass Erik bis dahin Berger zumindest so weit haben musste, dass der ihn danach noch sehen wollen würde.
‚Wobei er dich ja gestern weiterhin nicht wirklich abgewiesen hat.‘
War das tatsächlich so? Die Zweifel blieben. Womöglich bildete Erik sich das doch alles nur ein. Es war schließlich unübersehbar gewesen, dass Berger es sehr deutlich darauf angelegt hatte, dass Erik seinerseits aufhörte, ihn zu jagen. Ein kurzes Lächeln huschte über seine Lippen.
‚Vielleicht wird er ja gern gejagt.‘
Das wohlige Kribbeln, das schon wieder Eriks Wirbelsäule entlangwanderte, war wenig hilfreich. Um sowohl dem als auch diesem verdammten Gedankenchaos zu entkommen, das sich erneut in ihm ausbreitete, erhob Erik sich.
Ein kurzer Blick durch den Raum brachte keine weitere Dreckwäsche mehr zutage. Der Rucksack stand noch vom Vortag neben der Tür, Eriks Jacke hing darüber. Dem würde er sich nach dem Frühstück widmen. Da für heute nichts geplant war, gab es keinen Grund zur Eile.
Allerdings hatte Eriks knurrender Magen da zumindest in einer Hinsicht etwas einzuwenden. Nicht verwunderlich. Immerhin hatte er gestern schon wieder kein vernünftiges Abendessen bekommen. Die Suppen seiner Mutter machten mit einem Mal einen ausgesprochen leckeren Eindruck.
„Auf zum Frühstück!“, sagte Erik sich selbst und betrat entschlossen den Flur.
Bergers Zimmertür war weiterhin verschlossen. Er lauschte in Richtung Bad, aber auch von dort waren keine Geräusche zu hören. Schlief der Mann etwa tatsächlich noch? Oder wollte er nach dem Gespräch von letzter Nacht Erik jetzt gar nicht mehr sehen?
Ein Keuchen entkam ihm, als diese Vorstellung heiß durch seine Eingeweide schnitt. Scheiße! Daran hatte er gar nicht gedacht. Trotz der aufsteigenden Sorge war Erik sich einigermaßen sicher, dass dieser halbherzige Versuch, ihn aus dem Zimmer zu schmeißen, keine echte Ablehnung gewesen war. Berger konnte sich wehren – und er hätte genau das doch getan, wenn er es für notwendig halten würde.
‚Wenn er dich loswerden will, soll er das deutlich sagen.‘
Erik trat an die Tür zu Bergers Zimmer heran und atmete einmal tief durch, bevor er schließlich an die Tür klopfte. Das Hämmern in seiner Brust schien dabei lauter zu sein als der Klang, den die lädierten Fingerknöchel aus dem Holz hervorholten.
Er wartete. Und wartete. Und stand gefühlte zehn Minuten später immer noch vor verschlossener Tür. Tatsächlich waren vermutlich nur wenige Sekunden vergangen. Auf eine Reaktion wartete Erik aber weiterhin vergeblich.
„Herr Berger?“, rief er besorgt und klopfte erneut. Womöglich war der Sturkopf ja wirklich noch nicht wach. Auch wenn das in diesem Augenblick schon wieder einsetzende Kreischen der Kreissäge sehr daran zweifeln ließ.
Es blieb jedoch dabei: Keine Antwort. Eriks Unruhe wuchs weiter an. Letzte Nacht hatte es reichlich Überwindung gekostet, dieses Zimmer zu verlassen, im Moment erschien es ebenso schwer, es wieder zu betreten. Dabei hatte Erik Berger deutlich gesagt, dass er diesen weiter verfolgen würde – so lange der nicht endlich eine klare Ansage machte, dass er das nicht wollte.
„Soll er sie doch machen“, sagte Erik sich selbst und drückte die Klinke herunter.
Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, während Erik die Tür vorsichtig aufschob. Noch einmal rief er nach Berger, aber der antwortete nicht. Langsam kam das Bett in Sicht – leer. Allerdings lag die Decke ordentlich gefaltet darauf. Fast könnte man meinen, Berger hatte seit ihrer Ankunft nicht darin geschlafen. Was natürlich Unsinn war, denn letzte Nacht hatte Erik den Mann schließlich genau dort auf diese Matratze gedrückt und über ihm gekniet.
Ein kurzes Kribbeln wanderte seine Wirbelsäule entlang. Eines, das noch vor ein paar Monaten Eriks Hormone einmal hätten im Quadrat springen lassen. Heute gelang es ihm überraschend gut, sich und seinen Körper unter Kontrolle zu halten. Die Tatsache, dass der Mann, den er im Bett liegend erwartet hatte, nicht da war, trug garantiert dazu bei.
„Wo zum Teufel ist er?“, murmelte Erik leise und sah sich weiter um.
Das Zimmer war aufgeräumt. Es lag keine Dreckwäsche herum, die Reisetasche stand ordentlich neben dem Fußende des Bettes. Zwar sah es in Eriks Zimmer inzwischen ähnlich aus, trotzdem hatte er das Gefühl, dass das hier für Berger der Normalzustand war. Während es bei ihm selbst ja eher Mittel zum Zweck der Ablenkung dargestellt hatte.
Da das Zimmer leer war, drehte Erik sich um und verschloss die Tür wieder. Erneut lauschte er an der Badezimmertür. Auch dort keine Geräusche. Er klopfte, wie er es zuvor an Bergers Zimmer gemacht hatte, und rief nach diesem – jedoch weiterhin ohne Antwort. Es kostete deutlich mehr Überwindung, diese Tür ebenfalls zu öffnen.
„Wo zum Teufel steckt er?“, zischte Erik.
Berger hatte bisher nicht den Eindruck gemacht, als würde er vor irgendjemandem weglaufen. Trotzdem hämmerte da stetig lauter die Frage in seinem Kopf, ob er letzte Nacht zu weit gegangen war.
Aber Berger hatte ihn nicht ernsthaft aus dem Zimmer geschmissen. Alles, was Erik kassiert hatte, war ein lahmes „es ist unangemessen, dass Sie hier sind“. Das war keine Abfuhr.
‚Weil er es will.‘
Erik seufzte und fuhr sich durch die Haare. Diese verfluchte Stimme in seinem Kopf hatte ihn schon so oft verführen wollen. Bisher hatte Erik widerstanden. Aber je länger Berger ihm keine klare Absage erteilte, desto größer wurde die Hoffnung, dass er dieser Stimme glauben konnte.
„Erst einmal Berger finden“, ermahnte Erik sich laut, damit er nicht wieder in ein Gedankenchaos verfiel, aus dem er so schnell dann nicht mehr herauskommen würde.
Erik sah sich um und entdeckte erst jetzt, dass der Schlüssel zur Hütte von innen an der Tür steckte. Hatte Berger ihn letzte Nacht dort gelassen? Vor ihrem ‚Gespräch‘ sicherlich nicht. Und danach? Erik konnte sich nicht daran erinnern, ob er Berger gehört hatte, wie der noch einmal zum Rauchen rausging. Allerdings war er selbst recht schnell eingeschlafen, nachdem die Anspannung des Tages von ihm abgefallen war.
‚Vielleicht ist er nur schon beim Frühstück.‘
Das klang plausibel. Also schnappte Erik sich den Schlüssel und verließ die Hütte. Er schloss ab und machte sich anschließend zügigen Schrittes auf zum Speisesaal. Am liebsten wäre er dorthin gerannt, aber das hätte zu verzweifelt ausgesehen. Und ganz sicher wollte er bei Berger nicht als Neufassung von Hanna rüberkommen.
Sorgen machte er sich trotzdem. Die versuchte Erik allerdings zurückzuhalten – genauso wie das vor Aufregung heftig klopfende Herz in seiner Brust. Während er um die Hecke kam, konnte er Stimmen hören, die eindeutig zu seinen Mitschülern gehörten. Schnell trat er näher an die Wand des Haupthauses heran. Das war in einem lang gezogenen Bogen gebaut, sodass man ihn vom Durchgang aus nicht direkt sehen würde. Erik selbst konnte aber vorsichtig um die Biegung herum in Richtung des Weges blicken.
Tatsächlich kamen kurz darauf einige aus seinem Kurs in Sicht. Sie waren zu sehr mit sich selbst und ihrer Unterhaltung beschäftigt, als dass Erik jemandem aufgefallen wäre. Lachend spazierten sie den Weg weiter in Richtung Speisesaal. Offensichtlich war die Laune zumindest bei dieser Gruppe ausgesprochen gut.
„Es ist der letzte Tag“, murmelte Erik und spürte, wie sich zeitgleich sein Magen zusammenzog.
Morgen Vormittag würden sie sich auf den Weg nach Hause machen – um dort dann irgendwann mitten in der Nacht anzukommen. Seine Möglichkeiten, auf der Fahrt mit Berger zu reden und diesen davon zu überzeugen, ihm eine Chance zu geben, waren ausgesprochen schlecht. Wenn Erik etwas erreichen wollte, blieb ihm ledigich der heutige Tag.
‚Also los‘, sagte er sich und machte sich wieder auf den Weg zum Speisesaal.
Dort angekommen musste Erik jedoch mit einem weiteren unsicheren Blick feststellen, dass Berger nicht da war. Beinahe hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht. Hinter Erik drängelten jedoch bereits andere Gäste der Herberge herein und so wäre es reichlich merkwürdig gewesen, wenn er sich sofort wieder abgesetzt hätte. Außerdem hatte Erik, nachdem Berger weder hier noch in ihrer Hütte war, keine wirkliche Ahnung, wo er nach diesem suchen sollte. Die Sorge in Erik stieg zunehmend rascher an.
Er ließ seinen Blick über die Anwesenden wandern. Hanna saß etwas abseits. Allein. Mit einem Stirnrunzeln sah Erik sich erneut um und entdeckte Alina bei ein paar anderen Mädchen einige Tische weiter. Mirek saß tatsächlich schon wieder bei Sophie und sah aus, als ob er sich mit der gut unterhalten würde.
‚Der lernt auch nie dazu‘, zuckte es Erik durch den Kopf, bevor er sich bremsen konnte.
Im Grunde sollte es ihm egal sein, was Mirek trieb. Bei Sophie genauso. Vor allem müsste es ihm scheißegal sein, wenn die zwei irgendwas miteinander trieben. Keiner von den beiden war sein Freund. Nicht mehr. Dummerweise machte die Erinnerung an genau das die Sache eher schlimmer als besser.
Die fröhliche Stimmung im Speisesaal schlug Erik zunehmend deutlicher auf den Magen. Also wandte er sich ab – holte sich zunächst etwas zu essen. Damit ausgestattet suchte er sich seinen üblichen Tisch unweit der Lehrerinnen. Dass Berger weiterhin nicht da war, verdarb Erik allerdings mächtig den Appetit. Und so musste er sich regelrecht zwingen, wenigstens irgendetwas zu essen und einen Kaffee zu trinken.
Immer wieder hob Erik dabei den Blick und sah zum Tisch der Lehrer hinüber. Die beiden Damen schienen sich gut gelaunt zu unterhalten – kein Hinweis darauf, ob die sich ebenfalls Gedanken darum machten, warum Berger nicht da war.
Das verfluchte Brennen in Eriks Brust wurde schon wieder stärker. Diesmal war es aber keine Sorge, sondern Wut. Die Farin hatte versucht, Berger anzuschwärzen wegen irgendeines Schwachsinns, den Hanna verzapft hatte. Am Dienstag hatten die beiden Damen sich während der Wanderung zunächst als Chefinnen aufgespielt und hatten für einen Totalreinfall gesorgt. Und auch gestern hatten die zwei sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert, während es darum ging, was sie machen sollten, nachdem Hanna nicht am Bus auftauchte.
‚Ist denen Berger so egal?‘
Um sich einigermaßen unter Kontrolle zu halten, schlang Erik den Rest des Frühstücks hinunter und räumte anschließend das Geschirr auf. Kaum war er damit fertig, stellte sich jedoch die nächste Frage: Und nun?
Die Hoffnung, dass Berger bei der Hütte sein würde, war gering. Immerhin hatte er den Schlüssel bewusst zurückgelassen. Ihm musste also klar sein, dass Erik abschließen und ihn mitnehmen würde. Dieser zog kurz das Handy aus der Hosentasche und prüfte die Uhrzeit.
Es war inzwischen fast neun und das muntere Geplauder im Speisesaal zeigte deutlich, dass die meisten es heute nicht sonderlich eilig hatten. Berger würde garantiert zuerst hier nachschauen, falls er wegen des Schlüssels nach Erik suchte.
‚Weil es auch so sehr seine Art ist, dir hinterherzurennen‘, bemerkte ein reichlich sarkastisch klingendes Arschloch in Eriks Kopf.