12 – Unbekannte Seite
Kaum war Erik um die Hecke herum, konnte er bereits die Hütte erkennen, die der Herbergsleiter ihnen zugewiesen hatte. Dass Berger tatsächlich hier war, konnte Erik auch nicht übersehen, denn der saß auf den Stufen der Veranda vor der Hütte, den Kopf gesenkt und ...
‚Raucht der Kerl etwa?‘
Reichlich irritiert näherte Erik sich Berger. Der hatte bisher nicht aufgeblickt, saß weiterhin rechts auf den Stufen. Links wäre genug Platz, um vorbeizugehen. Der sich ihm bietende Anblick verwirrte Erik jedoch so sehr, dass er tatsächlich etwa zwei Meter vor der Hütte stehen blieb und schweigend auf seinen Lehrer starrte.
„Hat die Party doch Spaß gemacht?“, fragte Berger mit einem verhalten Lachen und sah jetzt endlich auf, als er den nächsten Zug nahm. „Sie hätten ruhig länger bleiben können. Ist schließlich Ihre Abschlussfahrt.“
„Ich ... wollte lieber duschen“, murmelte Erik und kam sich, noch während er die Worte aussprach, reichlich dämlich vor.
‚Wie lahm klingt das denn?‘
Berger deutete mit dem Daumen seiner Rechten über die Schulter. „Bad ist offensichtlich frei.“
Trotzdem bewegte Erik sich nicht. Mit einer Mischung aus Faszination, Unglaube und Verwirrung sah er zu, wie Berger erneut die linke Hand hob und an der Zigarette zog. Er rechnete förmlich damit, dass das Arschloch in seinem Hirn aus der Kippe gleich etwas ganz anderes machen würde, das Berger bitte nur zu gern auch mal an die Lippen führen durfte.
Aber das Bild kam nicht.
Stattdessen war da nur dieser Kerl, der trotz des blöden Hemdes mit einem Mal gar nicht mehr so geschniegelt und steif aussah.
„Ich wusste gar nicht, dass Sie rauchen“, platzte es irgendwann aus Erik heraus.
Das Grinsen, auf Bergers Lippen regte dann doch die eine oder andere Bildershow in Eriks Kopf an. Vermutlich war das der Grund, warum sein Blick weiter an ihnen hing.
„Wir haben alle unsere Schwächen. Außerdem ... Würde es mich überraschen, wenn Sie tatsächlich etwas über mich wüssten.“
Verwundert zuckte Erik zusammen. ‚Der Blödmann hat recht. Du weißt rein gar nichts.‘
Erik schluckte und überlegte krampfhaft. Aber abgesehen davon, dass der Kerl eben sein Lehrer war, gab es da nichts – und das wussten sie beide nur zu gut. Erik hatte nicht einmal eine Ahnung, wie der Mann mit Vornamen hieß oder wie alt er wirklich war. Wobei Erik, wenn er ehrlich zu sich selbst war, das im vergangenen Schuljahr leicht über das Intranet der Schule hätte rausfinden können. Aber er hatte es nie getan. Weil etwas in ihm sich dagegen gesträubt hatte, dem Kerl tatsächlich hinterherzuspionieren.
Obwohl eine ganz andere Seite von Erik sich förmlich danach sehnte, genau diese Dinge endlich zu erfahren. Aber er wollte sie von Berger hören. Weil es verdammt noch einmal für den irgendeine Bedeutung haben sollte, dass Erik ihn kannte – Dinge über ihn wusste. Und zwar mehr als, dass der Blödmann offenbar Gefallen daran fand, seine Schüler mit Pornopoesie und Werther zu quälten.
Da fiel Erik plötzlich etwas ein, das Alex ihm vor einigen Monaten als Ratschlag mitgegeben hatte. Und letztendlich ging es doch genau darum. Ehe er sich versah, hatte Erik die Worte schon ausgesprochen: „Wenn Sie wollen, dass ich etwas über Sie weiß, müssen Sie es sagen. Gedanken lesen kann ich nicht.“
War das Überraschung, die er auf Bergers Gesicht sah? Erik war sich nicht sicher, hatte aber auch für heute Abend zumindest keine Lust mehr, es herauszufinden. Da wartete weiterhin eine Dusche. Sowie das Bett. Und im Augenblick war es Erik sogar egal, dass er allein da drinnen schlafen würde. Anbetrachts der Gesellschaft im Nachbarzimmer war das vermutlich sowieso besser. Also stapfte Erik los und stieg die Stufen hinauf.
„Wieso sollte ich wollen, dass Sie etwas über mich wissen?“, fragte Berger, kaum dass Erik an ihm vorbei war.
Erneut hielt dieser an und sah zu seinem Lehrer zurück. Der hatte sich nicht umgedreht, saß nun wieder mit gesenktem Kopf da, die Hand mit der Kippe baumelte vor seinen Knien. Das stechen in Eriks Magen war prompt zurück.
Die Antwort, die ihm tatsächlich auf den Lippen lag, verkniff er sich. So lange Berger ihn als einen Schüler, ein Kind, betrachtete, würde sie ohnehin reichlich lächerlich klingen. Zumal Erik nicht sicher war, ob er bereit war, sich einzugestehen, wohin diese Antwort ihn selbst führen würde. Trotzdem brannte es in ihm, es Berger einfach vor den Latz zu knallen – so wie er es auch mit seinen Aufsätzen gemacht hatte.
‚Weil du verdammt noch einmal wichtig genug sein sollst, damit er es will.‘
Und vielleicht war dieser Gedanke auch ein Stück weit durch Bergers verfluchte Herausforderung vom letzten Unterrichtstag beflügelt. Oder war das am Ende nur eingebildet gewesen?
„Sie wollten doch duschen gehen“, holte ihn Bergers leise Stimme wieder zurück in die Gegenwart. „Ich halt mich auch an die Abmachung.“
Verwirrt runzelte Erik die Stirn. „Welche Abmachung?“
Diesmal klang das Lachen unter ihm nicht so freundlich. Und das Grinsen, das ihm entgegenschlug, als Berger über die Schulter hinweg zu ihm hinaufblickte, ließ ein Kribbeln an Eriks Wirbelsäule entlangwandern. Wenn er diese verfluchten Lippen weiter anstarrte, würde er die Dusche doch nicht nur für seinen Rücken gut gebrauchen können.
„Wenn Sie nicht spannen, mach ich’s auch nicht.“
Eriks Augen weiteten sich für einen Moment. Er sollte etwas erwidern. Irgendetwas, was diese erneute Herausforderung abschmetterte. Oder wenigstens annahm. Aber ihm fiel mal wieder so gar nicht sein. Unfähig etwas zu sagen, wandte Erik sich ab und stolperte in die Hütte. Besser schweigen, als das nächste Fettnäpfchen mitzunehmen.
‚Das bildest du dir nur ein‘, versuchte Erik sich selbst davon zu überzeugen, dass Berger ihn hier nicht derart offen provozierte.
Aber es half nichts. Dieses beschissene Grinsen verfolgte Erik bis ins Zimmer. Und von da in die Dusche – die inzwischen tatsächlich bitternotwendig war. Erst als das kalte Wasser über Eriks Kopf und den weiterhin zu heiß erscheinenden Rücken floss, beruhigte sich der aufgeregte Herzschlag in seiner Brust allmählich.
‚Anstatt ins Bett zu gehen, solltest du sehen, dass du in die Stadt runter kommst, sobald Berger schläft.‘
Das Spannen der Haut an den Schulterblättern wurde etwas besser, fühlte sich allerdings weiterhin unangenehm an – zumindest nicht mehr sonderlich schmerzhaft. Trotzdem klang die Idee, sich wenigstens irgendwo einen Klub zu suchen, in dem eine bessere Party lief als bei seinen Mitschülern gar nicht so blöd. Auf den willigen Franzosen würde Erik dabei für heute durchaus verzichten.
Seufzend trat er aus der Dusche und versuchte, im Spiegel einen Blick auf seinen Rücken zu erhaschen. Es sah so aus, als wäre Erik gerade noch um einen deutlich schlimmeren Sonnenbrand herumgekommen. Bei der Überlegung fielen ihm das eigene T-Shirt auf dem Rücken und Bergers Handtuch auf seinen Beinen ein.
Ein Stirnrunzeln zeichnete sich auf dem Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken ab. Die auf zweieinhalb Zentimeter geschorenen blonden Haare standen wie immer nach dem Duschen wirr vom Kopf ab. Helle blaue Augen, von leicht dunkel schimmernden Ringen umgeben. So viel wie Erik heute geschlafen hatte, sollte er besser aussehen.
Wobei er sich selbst nicht für sonderlich unattraktiv hielt. Im Gegensatz zu gewissen anderen Leuten sah Erik auch nicht aus wie ein milchgesichtiger Teenager. Ungeachtet der Tatsache, dass er mit neunzehn rein formal wohl noch einer war. Eriks rechte Hand fuhr über das Kinn. Das Kratzen war deutlich spürbar.
„Ich bin kein Kind mehr“, murmelte Erik leise, als sein Blick unsicher in Richtung Badezimmertür zuckte.
Ob der Blödmann von Lehrer noch immer auf der Treppe saß? Bevor es ihm bewusst wurde, fuhr Eriks Hand bereits über die eigene Brust. Es war merkwürdig gewesen, Berger da mit einer Kippe zwischen den Fingern sitzen zu sehen. Irgendwie passt das so gar nicht zu dem Bild von den gebügelten Hemden. Andererseits hatte Berger in seinem Unterricht wohl auch eher unkonventionellere Themen gewählt.
Schnell schüttelte Erik den Kopf. Es war sinnlos, darüber nachzugrübeln. Er hatte es Berger doch selbst eben bereits gesagt. Gedankenlesen konnte er nicht und folglich würde Erik auch nicht erfahren, was in dem hübschen Köpfchen da draußen vorging.
‚Besser so.‘ Erik schnaubte und schüttelte ein weiteres Mal den Kopf. ‚Hör auf, über ihn nachzudenken.‘
Als er sich ein T-Shirt anzog, spannte die Haut am Rücken weiterhin, aber es war nicht mehr ganz so unangenehm wie am Strand. Trotzdem rechnete Erik damit, dass er es die nächsten Tage spüren würde. Etwas Lotion würde helfen. Aber erstens hatte er keine dabei und zweitens würde er die sich kaum selbst auf den Rücken schmieren können. Nachdem Erik den Rest seiner Sachen angezogen hatte, stapfte er mit der eingesammelten Dreckwäsche zurück in sein Zimmer.
‚Und jetzt?‘
Vor der Dusche hatte Erik nur zu gern ins Bett fallen wollen. Die Kälte hatte ihn inzwischen aber wieder so weit aufgeweckt, dass Erik sich nicht einmal ansatzweise müde fühlte. Dazu kam, dass sich in seinem Kopf noch immer die verschiedenen Eindrücke des Tages gegenseitig über den Haufen zu werfen schienen.
Berger, schlafend im Bus – zusammen mit den damit einhergehenden, schon fast Normalität gewordenen Fantasien. Der Strand, an dem er das Geheimnis hinter Bergers Hemden nicht hatte lüften können. Dann auch noch Sophie, bei der Erik sich weiterhin nicht sicher war, ob sie tatsächlich versucht hatte, ihn anzumachen. Oder das irgendein dämliches Spiel war, bei dem er selbst am Ende als Volltrottel dastehen würde.
Vorsichtig schielte Erik aus dem Fenster, das zur Veranda raus ging. Berger war nirgendwo zu sehen. Vermutlich hatte der sich ebenfalls in sein Zimmer zurückgezogen. Im Gegensatz zu Erik hatte er ja nicht den halben Nachmittag verpennt. Der Schlaf während der Busfahrt dürfte auch nicht sonderlich erholsam gewesen sein.
Einem spontanen Entschluss folgend, zog Erik sich die Turnschuhe über und verließ das Zimmer. Der Schlüssel zur Hütte steckte von innen an der Eingangstür. Um später wieder hereinkommen zu können, zog Erik diesen ab und verstaute ihn anschließend in der Hosentasche. Einen Moment des Zögerns, dann trat er vor die Tür.
Einen Herzschlag lang, war Erik versucht tatsächlich in die Stadt zu gehen. Scheiß auf diese blöde Regel. Was wollte Berger schon tun? So er es überhaupt merkte.
Langsam stapfte Erik die Stufen hinunter und sah sich um. Die kleine Lichtung, die man vermutlich extra für die neue Anlage hier in das umliegende Waldstück geschlagen hatte, war nicht sehr groß. Noch während er sich umsah, begann Erik seine Beinmuskeln zu dehnen und drehte vorsichtig den Rumpf um zu prüfen, wie sehr das an der verbrannten Haut auf dem Rücken zog. Beides war erträglich.
‚Dann los‘, sagte er sich selbst und wandte sich im lockeren Laufschritt nach links. Er hatte für heute schon genug Ärger bekommen, mehr musste er nicht provozieren, indem er sich tatsächlich jetzt einfach absetzte.
Als er die letzte Hütte erreicht hatte, schlug Erik einen Bogen und fing an, im Kreis am Rand der Lichtung entlang zu joggen. Nach zwei eher langsamen und lockeren Runden konnte er spüren, wie sich seine Gedanken beruhigten. Zwar war Eriks Puls dank des zunehmend flotter werdenden Tempos weiterhin hoch, aber mit jedem weiteren Herzschlag schien die innere Unruhe aus ihm herauszufließen.
Schließlich wandte Erik sich wieder den Hütten zu und verringerte mit jedem Schritt das Tempo, bis er in normaler Schrittgeschwindigkeit von hinten auf den Bungalow zusteuerte, in dem man ihn und Berger untergebracht hatte. Kaum hatte Erik die Hütte umrundet, sah er sich jedoch stechend grünen Augen und einem krampfhaft zurückgehaltenen Grinsen gegenüber.
„Sie halten sich wirklich nicht gern an Regeln, oder?“
„Ich war in Sichtweite“, gab Erik grinsend mit einem Schulterzucken zurück, als er sich den Stufen der Veranda näherte. Berger antwortete nicht, zog lediglich die Augenbrauen hoch. „Jetzt kommen Sie schon. Mich den ganzen Tag nicht bewegen zu können, nachdem Sie mich erst in diesem blöden Bus eingequetscht und dann am Strand festgehalten haben, grenzt an Folter.“
Da war prompt das Grinsen wieder zurück. „Kinder und Hunde brauchen täglich Auslauf. Hm?“
Schon rechnete Erik mit dem Brodeln in seinem Bauch, das die Wut einleitete. Dieses Feuer, das sich in den vergangenen Wochen jedes Mal in ihm ausgebreitet hatte, wenn er an diese beschissenen Worte vom letzten Schultag dachte.
„Dann sollten Sie erst einmal erwachsen werden.“
Aber es kam nicht. Da war kein Brennen oder Brodeln, sondern stattdessen das beschissene Flattern, das Erik quasi dazu zwang in diese verdammten grünen Augen zu blicken. Bei anderen Menschen schaffte er es meistens nicht einmal, denen überhaupt ins Gesicht zu sehen. Bei Berger schien es immer öfter unmöglich sich abzuwenden.
„Ich hab gehört, Hunde rammeln gern das Bein ihres Besitzers. Also seien Sie froh, wenn ich mich nur wie ein Kind aufführe.“
Erik erstarrte im gleichen Maße, wie Bergers Augenbrauen nach oben schossen. Wo war das denn hergekommen? Hatte er das eben gesagt?! Das Flattern im Bauch wurde zu einem Ziehen, als Erik darauf wartete, dass er dafür gleich einen Anschiss kassierte. Doch auch der blieb aus, als Berger ihn schweigend anstarrte.
„Entschuldigung“, presste Erik schließlich heraus, nicht sicher, wofür er sich entschuldigte.
„Nein“, gab Berger mit einem zaghaften Lächeln zurück. „Sie haben recht. Mein Kommentar war wohl schon wieder unangemessen.“
Schweigen trat ein. Erik war nicht sicher, ob er jetzt reingehen und Berger alleine hier draußen hocken lassen sollte. So unangenehm die Stille war, es erschien ihm erst recht kindisch, wenn er sich deshalb jetzt verziehen würde. Also zuckte Erik lediglich mit den Schultern. Als daraufhin wieder einmal die Haut auf seinen Schulterblättern spannte, verzog er kurzzeitig das Gesicht. Dann hatte er sich aber erneut unter Kontrolle.
„Tut es noch weh?“, kam prompt die Frage aus Bergers Richtung.
„Nicht wirklich“, gab Erik verhalten aber ehrlich zurück. Das Ganze hätte vermutlich schlimmer ausgehen können.
Berger jedoch sah ihn forschend an, bevor er sich mit einem Seufzen durch die Haare fuhr und aufstand. Scheinbar war ihr Gespräch damit beendet, denn der Kerl stapfte die Stufen hinauf in sein Zimmer.
‚Schade‘, bemerkte eine leise Stimme in Eriks Kopf, die er lieber ein Stück weiter nach hinten schob.
Denn im Grunde sollte er froh sein, der Versuchung nicht mehr als nötig ausgesetzt zu sein. Das Bild von einem wenig geschniegelten Berger, wie der rauchend auf den Stufen der Veranda saß, würde Erik schon den Rest der Nacht beschäftigen. Wobei der dunklere Teil seines Geist bereits anfing die Erinnerung an dieses Bild zu manipulieren. Weniger Klamotten, deutlich unordentlichere Frisur und ein verwegener Gesichtsausdruck. Fertig war der Badboy der Schule und Eriks Fantasie um einen weiteren Kurzfilm reicher.
„Oh, Mann ...“, murmelte Erik leise und lief auf die Stufen zu.
In dem Moment kam Berger wieder aus seinem Zimmer und hielt ihm eine weiße Plastikflasche entgegen. „Für Ihren Rücken. Damit dürfte es morgen wieder besser sein.“
Überrascht, dass Berger sich überhaupt noch einmal blicken ließ, nahm Erik die Flasche und drehte sie hin und her. Den merkwürdigen Namen hatte er vorher nie gehört oder gelesen. Wie eine normale Aftersuncreme sah es jedenfalls nicht aus.
„Was ist das?“, fragte er verwundert.
„Es hilft gegen das Spannen.“
Das erklärte nicht, warum Berger damit ankam. Der Gedanke, dass der Mann versuchte, ihm zu helfen, ließ allerdings das Flattern in Eriks Magen mit voller Wucht zurückkehren. Für einen Sekundenbruchteil konnte er sich einreden, dass er dem Blödmann nicht egal war.
‚Lass den Unsinn und reiß dich zusammen‘, zischte eine wütende Stimme zeitgleich in Eriks Hirn.
Er schluckte und reichte Berger dann die Flasche mit einem gequälten Lächeln zurück. „Danke“, antwortete Erik verhalten. „Aber ich bin kein Schlangenmensch. So lange Sie nicht bereit sind, das zu übernehmen, bringt es also nichts.“
Berger nahm die Flasche und starrte amüsanterweise reichlich betreten darauf. Ansonsten schwieg er allerdings.
‚Auch eine Antwort‘, sagte Erik sich und trat an Berger vorbei, um in sein Zimmer zu gehen.
Vielleicht würde diese unfreiwillige Nähe ja die beschissenen Fantasien beenden. Dann, wenn selbst das Arschloch in Eriks Kopf endlich begriff, dass er sich diese ganzen Herausforderungen Bergers nur eingebildet hatte. Weil da in Wirklichkeit nichts war. Gar nichts. Abgesehen von dem verfluchten Ziehen im Bauch, das dieser Gedanke schon wieder schmerzhaft ansteigen ließ.
Erik war bereits fast in der Hütte, als er erneut stockte. Berger war oft genug an ihn herangetreten, mit diesen beschissen herausfordernden Augen. Aber immer wenn Erik selbst ihm zu nahe kam, wich er regelrecht panisch zurück.
Das Zittern in seiner Stimme war nicht zu leugnen, als er die folgenden Worte hinauspresste: „Dieser Aufsatz ... am Anfang des Jahres ... Sie ... wissen, dass ich das niemals tun würde, oder?“
„Ja.“
Erik wartete, ob er noch etwas sagen würde, aber da kam nichts weiter. Langsam drehte er sich um und sah zu Berger. Der hatte ihm weiterhin den Rücken zugewandt. Weder Zögern noch Unsicherheit hatte Erik in seiner Stimme ausmachen können. Trotzdem verschwand das blöde Ziehen nicht.
Weil er sich schlicht nicht sicher war, wieso der Blödmann ihm ständig auswich. Das Arschloch in Eriks Kopf hatte da ja eine manchmal durchaus plausibel klingende Antwort. Aber sie klang zu verlockend. Zu nah an diesen verdammten Fantasien, die Erik beständig weiter quälten.
„Warum haben Sie dann Angst vor mir?“
Diesmal drehte Berger sich um und sah direkt zu ihm zurück. „Hab ich nicht.“
Mit einem reichlich gequälten Lächeln deutete Erik auf die Plastikflasche in Bergers Hand. „Wo ist dann das Problem?“
„Sie sind mein Schüler.“
Erik schnaubte. „Noch eine Woche lang.“
„Trotzdem.“ Das klang schon beinahe trotzig – vor allem in Verbindung mit dem stechenden Blick, den Berger ihm zuwarf.
Diesmal war Erik es, der zur Seite sah. In seinem Kopf hörte er mal wieder eine reichlich vorlaute Stimme seiner niederen Fantasien. Bevor erik sich stoppen konnte, hatte er die Worte seines mentalen Arschlochs bereits mit einem hinterhältigen Grinsen wiederholt: „Also wenn ich meine Abinoten dadurch jetzt noch verbessern kann, dürfen Sie gern an mir rumfummeln. So viel Sie wollen. Ich sag’s auch keinem.“
Das entlockte sogar Berger ein ehrliches Lachen. Leider ebenso ein Kopfschütteln. „Hätten Sie wohl gern.“
‚Oh, ja‘, zuckte es Erik durch den Kopf.
Diesmal behielt er den Kommentar aber für sich, denn er befand sich hier schon auf verdammt dünnem Eis. Geradezu transparent. Der See darunter würde nicht nur eiskalt über ihm zusammenschlagen, sondern bei Eriks mentalem Problem mit tiefen Gewässern vermutlich zu einem verdammten Grab werden.
Trotzdem kam er nicht umhin, die Art und Weise, wie sich Berger mit dem Daumen über die Augenbraue rieb, ausgesprochen amüsant zu finden. Der Blödmann hatte ihn zuerst rausgefordert. Sollte er doch sehen, wie er mit der Antwort zurechtkam.
„Ausziehen“, grummelte Berger plötzlich und sah wieder auf.
„Was?“
„Das Shirt natürlich!“, fauchte der Mann mit blitzenden Augen.
Erik wollte verdammt sein, wenn die Mundwinkel nicht gezuckt hatten. Er selbst stand allerdings weiterhin da wie ein Reh im Scheinwerferlicht, während das mentale Arschloch ein paar passende Bilder zur Untermalung anbot.
„Ihre Noten kann ich nicht verbessern, aber was den Rücken angeht, lässt sich ja vielleicht noch was retten.“
Jetzt, wo der Blödmann ihn tatsächlich beim Wort nahm, ging Erik der eigene Hintern allerdings gewaltig auf Grundeis. Eigentlich hatte er ja vorgehabt, diese blöden Fantasien endlich loszuwerden. Dummerweise gesellte sich zu den Bildern aus den eigenen Aufsätzen dank dieser Bemerkung nun auch noch die zugehörigen Tonspuren.
‚Trottel!‘, schimpfte er mit sich selbst – stand aber trotzdem kurz darauf ohne Shirt, dafür mit deutlich zu hohem Puls vor Berger.
Der versteckte das Grinsen diesmal nicht, sondern deutete lediglich über die Schulter zur Treppe. „Setzen Sie sich lieber hin.“
Erik versuchte, sich einzureden, dass er nicht erbärmlich aussah, als er mit an die Brust gepresstem Shirt die drei Schritte um Berger herum stolperte. Schließlich war er kein dummer Teenager mehr, dem bei der Aussicht darauf, dass der Blödmann jetzt doch einen Finger an ihn legen würde, gleich das Blut in den Schritt sackte.
Blöd nur, dass diese verdammte Ziehen in seinen Eiern zusammen mit dem stetig heftiger werdenden Pulsieren da etwas ganz anderes behauptete.
Erik schluckte und schloss die Augen. ‚Denk an was irgendwas unverfängliches‘, ermahnte er sich beständig. Denn sicherlich wollte er Berger keine Gelegenheit geben, sich am Ende doch noch über ihn lustig machen zu können.
‚Würde er nicht.‘
Verwundert riss Erik die Augen wieder auf und presste das Shirt fester gegen die Brust. Wo kam das denn her? Noch während er darüber nachdachte, wurde ihm klar, dass er Berger in der Tat bisher genug Munition geliefert hatte, um ihn vor der ganzen Schule bloßzustellen – sogar um Erik von ebender fliegen zu lassen.
Aber Berger hatte nichts davon getan.
Als vorsichtige Finger plötzlich seine Schulter berührten, zuckte Erik erschrocken zusammen. Es kostete ihn einiges an Willenskraft, um nicht sofort wieder aufzuspringen, als jede weitere Berührung das Flattern im Bauch zu einem wahren Tornado anwachsen ließ. Berger war schnell und effektiv, als seine Hände über Eriks Rücken wanderten und die angenehm kühle Creme verteilten.
Vermutlich dauerte es eine, vielleicht zwei Minuten. Es hätten allerdings genauso gut drei Stunden oder zehn Sekunden sein können. Egal, wie lange es wirklich war, aufstehen wollte Erik danach erst einmal nicht. Statt gegen die Brust gepresst, befand sich das Shirt inzwischen in seinem Schoß – aus gutem Grund.
‚Reiß dich zusammen!‘
Er konnte hören, wie Berger sich hinter ihm aufrichtete. Einen Moment musste der Kerl dort gestanden haben, bevor Erik Schritte hörte, die sich entfernten. Er selbst saß weiterhin da und versuchte das verfluchte Pulsieren, unter Kontrolle zu bekommen. Wieso hatte der Mann weiter eine derartige Macht über ihn?
Eriks rechte Hand kam hoch und legte sich auf seine Brust. Das war albern und es sollte endlich aufhören. Er hatte gehofft, diese beschissenen Fantasien loszuwerden, wenn er Berger erst einmal in Badehose am Stand sah. Aber allmählich musste Erik sich eingestehen, dass das nicht passieren würde. Vielmehr war zu befürchten, dass sein Körper ihn endgültig betrügen würde.
‚Hier sieht es wenigstens keiner‘, versuchte Erik sich selbst gut zuzureden. Aber es half nicht, denn das machte es nicht weniger peinlich.
Plötzlich hörte er die Tür zu Bergers Zimmer zuschlagen und ließ den Kopf hängen. Als er direkt danach Schritte wahrnahm, schnellte der jedoch erneut nach oben. Mit einem Blick über die Schulter stellte Erik fest, dass sein vorübergehender Mitbewohner offenbar einen Stuhl geholt hatte. Der wurde mit deutlich mehr Wucht als notwendig vor dem Fenster zu Bergers Zimmer platziert.
‚Bei dir steht kein Stuhl‘, bemerkte Eriks Verstand – vermutlich in der irren Hoffnung, dass es den Rest des Körpers von seinem momentanen Zustand ablenken würde.
Wenig erfolgreich.
Vielleicht wäre es wirklich keine blöde Idee, doch noch einmal zur Promenade zu gehen, sobald Berger im Bett war. Irgendwo dort unten musste es eine Bar oder einen Klub geben. Einen Ort, an dem Erik sich von der Erinnerung daran, wie diese verfluchten Finger über seinen Rücken gewandert waren, ablenken konnte.
‚Wenn schon nicht mit einem hübschen Franzosen, dann wenigstens mit einem Bier oder irgendwas in der Richtung.‘
Mit wachsender Verwunderung beobachtete Erik, wie Berger sich auf den Stuhl setzte und eine Packung Zigaretten gegen die ausgestreckte Handfläche klopfte, sodass eine heraus kam. Es wirkte weiterhin irgendwie unpassend, dass der Kerl rauchte.
„Was?“, fragte Berger, als Erik ihn scheinbar etwas zu lange angestarrt hatte.
Er schüttelte schnell den Kopf und murmelte: „Nichts.“
Berger seufzte und zündete die Zigarette an. „Ich halt die Woche sicherlich nicht ohne aus. Wenn Sie davon ihre moralischen Vorstellungen gefährdet sehen ... gehen Sie rein.“
Erik schnaubte. „Moralische Vorstellungen?“
„Von wegen Vorbildwirkung und Reinheit von Körper und Geist“, bemerkte Berger bissig, als er mit der Linken die Kippe zum Mund führte und sie kurz darauf anzündete. Der erste Zug schien bitternötig zu sein, so hastig wie der erfolgte.
‚Wir wissen alle, wie es um die Reinheit deines Körpers bestellt ist‘, flüsterte eine hämische Stimme in Eriks Kopf.
Da sich sowohl Herzschlag als auch der Rest seines Körpers endlich einigermaßen beruhigt hatte, drehte Erik sich halb herum, um besser zu Berger sehen zu können. Der saß so, dass er von der Veranda blicken konnte, ohne Erik dabei direkt anzusehen. Aus dem Augenwinkel dürfte er aber dennoch ganz gut zu sehen sein. Sich plötzlich bewusst werdend, dass er hier noch immer halb nackt saß, zog Erik sich hastig das T-Shirt wieder über.
Es dauerte fast die ganze Zigarettenlänge bis er Berger schließlich doch dabei erwischte, wie der zu ihm hinüber sah. Die verführerischen Lippen waren nur noch eine schmale Linie, als er zurückzuckte.
„Nein, Sie kriegen keine.“
Erik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Seine Tage als Raucher konnte er an einer Hand abzählen – zumal die sicherlich schon drei Jahre zurücklagen. Trotzdem fragte er mit anhaltendem Grinsen: „Warum nicht? Weil ich Ihr Schüler bin?“
„Nikotin ist schädlich fürs Wachstum“, giftete Berger mit blitzenden Augen zurück.
„Hab ich vermutlich weniger Probleme mit als andere.“
Berger schnaubte, konnte das verhaltene Lachen aber nicht gänzlich verstecken. „Touché.“
Nachdem er fertig war, verstaute Berger den Zigarettenstummel in einer Glasflasche, die Erik vorher gar nicht aufgefallen war. Scheinbar war das Gespräch damit allerdings beendet, denn Berger erhob sich und hielt Erik danach die offene Hand entgegen. Verwundert starrte er auf die schlanken Finger, die vor ein paar Minuten noch über seinen Rücken gewandert waren.
„Der Schlüssel“, meinte Berger.
Erik stand auf und trat ihm stirnrunzelnd gegenüber. So viel dazu, dass er womöglich die Promenade erkunden könnte. „Wollen Sie mich etwa einsperren?“, fragte Erik mit einem Stirnrunzeln.
Das Grinsen war unverhohlen und jagte ein Kribbeln an Eriks Wirbelsäule entlang. „Sagen wir mal so ...“, raunte Berger, als er sich zu Erik vorbeugte. „Ich kann es vermutlich nicht mit meiner Aufsichtspflicht vereinbaren, dass Sie mir hier in der Nacht alleine raus schleichen.“
„Ich bin kein Kind“, gab Erik zurück. Wie oft hatte er den blöden Satz heute schon ausgespuckt?
„Deshalb kann ich trotzdem nicht zulassen, dass ich Sie morgen früh irgendwo in ... einem unangemessenen Zustand auflesen muss.“ Das Grinsen verschwand und Bergers Blick wurde ernst. „Den Schlüssel, Erik.“
Er verzog den Mund, holte ebendiesen aber aus der Hosentasche und hielt ihn Berger vor die Nase. „Hören Sie auf meinen Aufpasser zu spielen.“
Ruckartig wandte Erik sich ab und stapfte in die Hütte. War ja nicht so, dass er ernsthaft noch vorgehabt hatte, sich heute raus zu schleichen. Dafür war Erik inzwischen viel zu müde. Trotzdem hätte Berger ihm wenigstens diese winzige Möglichkeit für etwas Spaß gönnen können.
Dabei hatte Erik vor ein paar Minuten sogar gedacht, dass Berger vielleicht gar nicht so ein Blödmann war, wie er immer geglaubt hatte. Von wegen!
„Dann werden Sie erwachsen“, rief Berger ihm hinterher.
Als Erik mit zusammengezogenen Augenbrauen über die Schulter zu dem Mistkerl zurück starrte, erwartete er, dass Berger ihn angrinste oder wenigstens dieses süffisante Lächeln auf den Lippen trug. Mit einem Stirnrunzeln musste Erik jedoch feststellen, dass da nichts war. Stattdessen stand Berger gelassen vor der Tür und sah mit ausdruckslosem Gesicht zu Erik zurück.
„Zeigen Sie mir, dass Sie keinen mehr brauchen.“