10 – Angespannte Situation
Wenigstens hielt Berger während ihres Rückwegs zunächst die Klappe und sparte sich weitere Kommentare. Darüber, dass es dämlich war, in der Sonne einzuschlafen. Oder dass man sie mit dieser blöden Regel weiterhin wie Kinder behandelte. Sich aufzuregen, würde auch nur wieder kindisch rüberkommen.
‚Erwachsen‘, ermahnte Erik sich beständig, während er hinter Berger her schlich.
Der sich ihm bietende Anblick weckte zwar durchaus Dinge in Erik, die er nicht gerade als ‚kindisch‘ bezeichnete. Die Tatsache, dass sie in ihm aufstiegen, war aber vermutlich nicht sonderlich ‚erwachsen‘.
‚Reiß dich zusammen!‘
„Sind die Kopfschmerzen besser?“, fragte Berger, als er recht abrupt auf halber Strecke stoppte und sich zu Erik umdrehte.
„Ja.“
Ohne anzuhalten, lief Erik an seinem Lehrer vorbei. Vielleicht würde es helfen, wenn er dem Anblick zur Abwechslung mal nicht ausgesetzt war.
‚Entzugserscheinung‘, verhöhnte Eriks eigenes Hirn ihn. ‚Nachdem du in den letzten Wochen darauf verzichten musstest.‘
Wütend über sich selbst beschleunigte Erik die Schritte. Schlimm genug, dass er Berger zumindest für gewisse Zeiten des Tages nicht aus dem Weg gehen konnte. Aber dafür auch noch vom eigenen Verstand verhöhnt zu werden, war nun wirklich jämmerlich.
„Sie sollten nicht übertreiben“, hörte er Berger ihm hinterherrufen. Diesmal stoppte Erik. War das etwa Besorgnis, die der Kerl damit äußerte. Verwundert sah er sich jetzt doch zu seinem Lehrer um. „Wie man gemerkt hat, sind Sie etwas zu schwer, als dass ich Sie irgendwo hinschleppen könnte.“ Das unverhohlene Grinsen entfachte das Feuer der Wut in Eriks Magen. „Nur falls Sie hier plötzlich umkippen sollten.“
Eigentlich müsste Erik darauf mit einer spitzen, geistreichen oder zumindest sonst wie ‚guten‘ Antwort reagieren. Aber alles, was ihm herausrutschte, war ein reichlich beleidigt klingendes: „Ich bin überhaupt nicht zu schwer.“
Das Grinsen wurde breiter, als Berger auf ihn zutrat. Der geradezu unverhohlene Blick, der für einen Moment von Kopf bis Fuß über Erik wanderte, ließ einen Schauer seinen Rücken entlang wandern. Einer der guten Art.
‚Der fordert dich schon wieder heraus!‘, hallte es in Eriks Kopf, aber er war zu überrascht, um angemessen darauf reagieren zu können.
„Unglücklicherweise bin ich auch nur ein Mensch.“
Das Brennen in Eriks Bauch verwandelte sich in das komische Flattern, dass er nicht wirklich einordnen konnte. Schon schickte diese verquere Stimme in seinem Kopf ihm diverse Transkripte von Szenen, in denen Berger diese Worte in einem völlig anderen Kontext herausbrachte. Einer, bei dem die Situation nicht damit endete, dass sie demnächst in der Herberge zum Essen aufschlagen würden.
‚In der Herberge vielleicht aber sicherlich nicht im Speisesaal und gegessen wird da wenig.‘
„Deshalb kann ich auch nicht mehr als mein eigenes Gewicht schleppen“, fuhr Berger jedoch fort und trat erneut an ihm vorbei.
Um nicht schon wieder diesen verdammten Hintern vor sich herdackeln zu sehen, drehte Erik sich hastig um und lief wenigstens neben Berger her.
„Sie sind ja auch deutlich kleiner“, murmelte Erik irgendwann – einfach, weil er die blöde Bemerkung nicht im Raum stehen lassen wollte. Dass er sich dabei mit einer Hand über den dank fehlendem Training allmählich sichtbarer werdenden Bauchansatz strich, bemerkte Erik erst, als es zu spät war. Nachdem sein Magen sich dann auch noch mit einem lautstarken Grummeln meldete, war die Peinlichkeit perfekt.
„Jungs im Wachstum brauchen halt etwas mehr ...“
Schnaubend drehte Erik erneut den Kopf zu Berger, der breit grinsend zurückblickte. Hatte der dämliche Blödmann ihn etwa eben einen ‚Jungen im Wachstum‘ genannt?!
„Ich bin kein Kind!“, fauchte Erik entsprechend angepisst zurück, nur um kurz darauf zusammen zu zucken.
Berger tat es schon wieder. Der Mistkerl provoziert ihn und Erik reagierte genau so, wie er nicht sein wollte. Wie ein bockiges Kind, das man eben das genannt hatte.
„Das Mittagessen war zu kurz.“ Lahm, aber wenigstens irgendwie eine Ausrede. Zumindest versuchte Erik, sich das einzureden, während er wieder auf den Weg anstatt zu Berger sah.
„Entschuldigen Sie“, meinte der plötzlich ein paar Schritte weiter und zog damit doch wieder Eriks verwunderten Blick auf sich. Anstatt zu ihm zu sehen, war es nun aber Berger, der nach vorn starrte. Das Grinsen war verschwunden, ein Lächeln war ebenso wenig zu erkennen. „Das war unangemessen von mir.“
Sofort war das Flattern in Eriks Bauch zurück. Zusammen mit der Stimme, die sich fragte, wieso Berger ihn ständig provozierte, nur um in der nächsten Sekunde vollkommen dichtzumachen. Bevor Erik etwas erwidern konnte, kam jedoch die Herberge in Sicht. Der Lärmpegel zeigte deutlich, dass der Rest ihrer Gruppe bereits im Speisesaal beim Abendessen war.
„Gehen Sie vor“, meinte Berger plötzlich, als sie den Torbogen des Haupthauses erreicht hatten, durch den sie laufen mussten, um zum Speisesaal zu gelangen. „Ich komme nach.“
Einen Moment sah Erik ihn verwundert an, dann nickte er stumm. Natürlich würde Berger nicht gesehen werden wollen, wie er mit dem Problemschüler allein hier auftauchte. Das würde seinem Ruf bei der Damenwelt des Kurses vermutlich nicht sonderlich guttun.
Mit Bedauern bemerkte Erik, dass der Gedanke das nette Flattern wiederum in ein unangenehmes Ziehen verwandelte. Trotzdem wandte er sich ab und trabte allein den Hügel hinauf. An der Ausgabe holte er sich etwas zu essen. Danach fand Erik einen leeren Tisch, an dem ihn niemand stören würde.
Es dauerte sicherlich zehn Minuten, bis Berger endlich auftauchte und sich ebenfalls etwas holte. Das Ziehen wurde erneut stärker, als Erik sah, dass der Blödmann sich danach lieber zwischen zwei Tischen der anderen Schüler durchquetschte, als an Eriks vorbeizugehen. Immerhin setzte Berger sich da nicht hin, sondern kehrte zu dem Platz zurück, den er bereits beim Mittagessen gehabt hatte – bei den beiden Lehrerinnen.
Frau Farin beugte sich sofort vor und sprach Berger mit einem breiten Lächeln leise flüsternd an. Leider war nicht zu verstehen, was sie sagte, genauso wenig wie die offenbar reichlich einsilbige Antwort. Was auch immer Berger entgegnete, es schien nicht das zu sein, auf was Frau Farin gehofft hatte. Denn sie lehnte sich prompt mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Lippen zurück.
Das restliche Essen über schwieg Berger – zumindest soweit Erik das aus dem Augenwinkel erkennen konnte. Allzu offensichtlich wollte er nun auch wieder nicht zu den dreien starren. Das würde sonst garantiert jemand falsch verstehen.
‚Eher richtig.‘
Ebenso möglich. Jedenfalls würde Erik sich die Blöße nicht geben. Der heutige Tag war mies genug verlaufen. Zuerst der peinliche Platz beim Lehrer im Bus. Dann der Fehler der Herberge, die sie beide ihr vernünftiges Einzelzimmer gekostet hatte. Und jetzt war er auch noch dumm genug gewesen, um am Strand einzupennen.
‚Morgen wird es besser laufen‘, versuchte Erik sich selbst aufzumuntern. Schließlich war er damit hoffentlich in alle Fettnäpfchen getrampelt, die sich hier ergeben konnten. Was sollte jetzt schon noch passieren?
Irgendwann endete auch das Abendessen, was Erik Hoffnung gab, das zunehmend unangenehme Ziehen auf dem Rücken mit einer kalten Dusche vielleicht etwas beruhigen zu können. Denn für andere Körperteile brauchte Erik die, nachdem Berger am Strand nicht blank gezogen hatte, zur Abwechslung ja nicht.
Ein Seitenblick zu eben dem zeigte, dass der schon wieder die Reste des Essens missmutig auf dem Teller hin und her schob. Die beiden Damen waren bereits weg. Auch sonst waren nur noch wenige aus ihrer Reisegruppe da. Plötzlich sah Berger auf und direkt zu Erik hinüber.
Der erstarrte, hielt dem Blick diesmal aber stand. Wenn man es genau betrachtete, wartete Erik doch nur darauf, dass der Kerl endlich aufhörte das Essen hin und her zu schieben. Hunger hatte Berger ja offenbar keinen. Wobei das selbst bei der eher schlanken Gestalt erstaunlich war. Immerhin war der Mann ja vom Mittagessen ebenfalls nicht sonderlich begeistert gewesen.
‚Ist doch egal‘, ermahnet Erik sich selbst und stand auf, um Teller und Besteck zurückzubringen.
Als er beides auf das kleine Laufband stellte, das etwa einen Meter später in der Wand verschwand, stand Berger mit einem Mal neben ihm und platzierte seine Sachen auf Eriks oben drauf. Für einen Augenblick sah der Blödmann so aus, als wollte er etwas sagen. Wenn dem so war, tat er es aber nicht. Stattdessen wandte Berger sich ab und holte seinen Rucksack.
Um endlich zu einer Dusche zu kommen, schnappte Erik sich seinen ebenfalls und hastete Berger hinterher. Der wollte eben am Fuß des kleinen Hügels nach links in Richtung ihrer Hütten abbiegen, als er plötzlich von einer Horde aufgeregter Schülerinnen umringt wurde.
„Herr Berger!“, rief Hanna mit einem breiten Lächeln im Gesicht.
Das beschissene Stechen hatte mal wieder so gar nichts in Eriks Bauch zu suchen, als er beobachtete, wie die blöde Kuh Berger am Unterarm nahm und mit sich ziehen wollte.
Zusammen mit den übrigen Mädchen redete sie auf ihn ein, dass sie den Abend zwischen den Hütten ausklingen lassen wollten. Offenbar hatte jemand eine Gitarre dabei. Auch wenn das Lagerfeuer erst für den letzten Abend ihrer Reise geplant war, hatten sie scheinbar vor, jetzt schon mal ‚vorzufühlen‘.
„Die Jungs haben etwas zu trinken besorgt. Und falls uns die Lieder ausgehen, können wir ja Musik vom Handy spielen“, versuchte Hanna weiter, Berger zu überzeugen.
„Ich bin sicher, Sie werden ohne ihren Lehrer deutlich mehr Spaß haben“, erwiderte der.
Erik konnte Bergers Gesicht nicht sehen, aber er war ziemlich sicher, dass da ein Lächeln auf dessen Lippen war.
‚So wie immer, wenn er mit den Schnepfen spricht.‘
Erschrocken zuckte Erik zusammen. Er hatte sich doch vorgenommen, nicht mehr derartig negativ über andere zu denken. Zumal Hanna ihm nichts getan hatte. Leider würde es ihm vermutlich einen Haufen Ärger einbringen, wenn Erik da rüber ging und sagte, was ihm wirklich durch den Kopf geisterte. Nämlich, dass er jetzt endlich in sein Zimmer wollte, um den überhitzten Rücken abzukühlen. Und dass Berger bitte mitkommen sollte. Wenn schon nicht mit unter die Dusche, dann zumindest zur Hütte. Der Blödmann hatte schließlich den einzigen Schlüssel.
Aber wie immer tat Erik das nicht, denn in dem Fall hätte er Hanna und dem Rest der anwesenden Damen auch direkt sagen können, dass sie sich verpissen sollten. Dass er hier gefälligst den einzigen Anspruch darauf hatte, endlich eine Antwort auf diese beschissene Frage vom letzten Schultag zu bekommen.
„Frau Farin und Frau Hirvi kommen auch gleich noch“, tönte Hanna in diesem Moment und lächelte schon wieder.
Ihre Finger waren weiterhin um Bergers Unterarm gelegt. Wieso befreite der sich eigentlich nicht endlich daraus? Dass Hana darum kämpfen musste, ihren Blick auf Bergers Gesicht zu halten, konnte Erik selbst aus ein paar Meter Entfernung erkennen. Der Rotschimmer auf ihren Wangen war ebenso nicht zu übersehen.
‚Siehst du genauso lächerlich aus, wenn du dem Kerl gegenüber stehst?‘
Erik war sich nicht sicher. Wollte es aber gar nicht wissen. Eine kalte Dusche und ein Bett war alles, was er jetzt brauchte.
„Das ist wirklich nett von Ihnen“, setzte Berger erneut an.
Wieder konnte Erik das Lächeln heraushören. Der Kopf seines Lehrers drehte sich etwas. Versuchte der Kerl, zu ihm zu schielen? Nein, sicherlich nicht.
„Ich ... denke, ich ... ruhe mich trotzdem lieber aus.“
„Ach kommen Sie schon!“, mischten sich jetzt eine der anderen Nervensägen ein. Mit einem Mal drehte genau diese junge Frau den Kopf und sah direkt zu Erik.
‚Sie heißt Sophie, oder?‘
Er zuckte zusammen. Am liebsten wäre Erik verschwunden, bevor jemand ihn dafür verantwortlich machen konnte, dass ihr Liebling Berger nicht mitfeiern wollte. Dummerweise brauchte Erik dazu den Schlüssel zu der beschissenen Hütte. Und den hatte nun einmal der Blödmann Berger eingesteckt. Zu dem rübergehen, und darum bitten stand weiterhin außer Frage.
„Erik!“, rief Sophie jedoch gut gelaunt und winkte ihm zu. „Kommst du auch?“
„Hä?“ Wieso war er denn jetzt plötzlich eingeladen? Verwundert starrte Erik die Frau sie an.
„Ja. Komm ... doch auch“, murmelte Hanna, die weiterhin ihre blöden Griffel an Bergers Unterarm hatte. „Wir feiern alle.“
„Ich ...“, setzte ihr Lehrer erneut an.
In genau diesem Augenblick kam Frau Farin den überdachten Weg am Haupthaus entlang und winkte ihnen zu. „Sie sind ja noch gar nicht drüben“, bemerkte sie mit einem kurzen Lachen. „Na kommen Sie schon.“