36 – Beängstigendes Deja Vu
Da er sich beim Frühstück schlussendlich doch Zeit gelassen hatte, war es nur noch etwa fünfzehn Minuten bis zur geplanten Abfahrt. Wobei die Zahl der Anwesenden im Speisesaal sehr dafür sprach, dass sie diesen Zeitplan wohl nicht einhalten würden. Noch ein Grund, weshalb Erik damit rechnete, dass ihn ein reichlich grummeliger Deutschlehrer vor der Hütte erwarteten würde.
Tatsächlich saß Berger aber recht gelassen auf dem Stuhl, den er an ihrem ersten Abend auf die Veranda gestellt hatte, und zog gelangweilt an einer Zigarette. Auch wenn Berger nicht gerade ein Kettenraucher zu sein schien, wirkte das weiterhin befremdlich auf Erik. Irgendwie erschien ein solches ‚Laster‘ wie ein Makel. Einer, der nicht zu dem geleckten Bild passte, dass er bisher von seinem Deutschlehrer gehabt hatte.
„Sie sind nicht der Einzige mit einem ... suboptimalen Elternhaus.“
Wo kam das denn her? Verwundert runzelte Erik die Stirn und verlangsamte die Schritte. Es war Bergers Stimme, die in seinem Kopf hörte. Aber Erik konnte sich nicht erinnern, wann der Kerl sie gesagt hatte. Unsicher lief er weiter und erreichte schließlich die Hütte.
Für einen Augenblick war Erik versucht, sich erneut zu entschuldigen, weil er Berger hatte warten lassen. Aber letztendlich war das zur Abwechslung auf gar keinen Fall seine Schuld. Wenn Berger hier alleine hocken wollte, war das dessen Entscheidung. Er hätte schließlich auch im Speisesaal bleiben können. Stattdessen war der Kerl wortlos verschwunden.
Ein weiteres Mal runzelte Erik die Stirn. Diesmal war es aber eher ein Gefühl von Déjà-vu, das ihn überkam. Allerdings hätte er erneut nicht sagen können, was es ausgelöst hatte.
Wortlos stapfte Erik die Stufen zur Veranda hinauf und schloss die Hütte auf. Einen Moment lang zögerte er und sah zu Berger. Der saß reichlich gelangweilt da. Die Füße waren auf dem Geländer der Veranda abgestützt und ließen den Stuhl immer wieder nach hinten kippeln.
‚So sieht er noch eher wie ein Schüler aus‘, zuckte es Erik durch den Kopf. Und weiterhin dieses Gefühl, dass er etwas sagen sollte, sich womöglich erneut entschuldigen. Wofür auch immer. Zumindest machte Berger nicht den Eindruck, als wären Eriks Chancen bei ihm deutlich gestiegen in der letzten Nacht.
‚Der Weckdienst war schon einmal nicht sonderlich liebevoll gewesen.‘
Bei dem Gedanken verzog Erik automatisch das Gesicht. Weniger aufgrund der Erinnerung an die Kopfschmerzen, als vielmehr wegen des ‚liebevoll‘, welches ganz andere Assoziationen in ihm hervorrief. Um nicht weiterhin blöd vor der Hütte zu stehen, drehte Erik sich zurück und betrat sie endlich.
Kaum stand er dort im Flur, breitete sich passend zum letzten Gedanken aber auch schon das erste Bild des mentalen Quälgeistes vor Eriks innerem Auge aus. Berger, wie er an der gegenüberliegenden Wand stand. Die Hände neben den Oberschenkeln, Handflächen gegen die Holzwand im Rücken gepresst – genau wie der restliche Körper. Festgepinnt durch Erik.
Er konnte förmlich den stoßweisen Atem am eigenen Halsansatz spüren. Langsam hob er die freie Hand und legte die Fingerspitzen genau dorthin. Erik konnte es tatsächlich fühlen, ebenso wie die bebende Brust, die sich mit jedem Atemzug gegen die eigene drückte. Er spürte die Muskeln unter den Fingern, einen festen Körper, den er an sich ziehen und ins nächste Bett verfrachten wollte.
„Es steht immer noch offen, welches“, hörte Erik sich sagen. Der Ton war so tief und grollend, so voller Verlangen, dass es ihm selbst einen Schauer über den Rücken jagte.
„Wie lange wollen Sie da noch untätig herumstehen?“
Erschrocken zuckte Erik zusammen und sprang buchstäblich einen Schritt vor. „Wie bitte?“, keuchte er entsetzt darüber, wie deutlich die Fantasie diesmal gewesen war.
Eriks Puls beschleunigte immer weiter. Als würden mit jeder verstreichenden Sekunde zwei Herzschläge zusätzlich in seiner Brust hämmern. Wenn er Berger letzte Nacht tatsächlich nicht angerührt hatte, woher kamen dann diese beschissenen Bilder? Es fühlte sich so verflucht real an.
„Wir müssen in zehn Minuten am Bus sein“, meinte Berger – die Stimme distanziert und undeutbar. Er zeigte auf das Essen, das Erik weiterhin mit dem linken Arm gegen seine Brust drückte. „Das wollten Sie ja vermutlich verstauen.“
Es dauerte einen Moment, bis Erik sein Hirn dazu gebracht hatte, zu reagieren. Scheinbar war er trotz Kaffee und Schmerztabletten noch nicht ganz wieder bei sich. Oder zu beschäftigt mit all den Möglichkeiten, was sich letzte Nacht abgespielt haben mochte. Bei jeder einzelnen schwankte Eriks Magen zwischen Rebellion und Schmetterlingsbefall. Er sollte etwas sagen, das klären, Berger einfach fragen.
Aber Erik brachte kein Wort heraus. Stattdessen stand er da wie ein Reh im Scheinwerferlicht und starrte Bergers Rücken nach, während der im eigenen Zimmer verschwand.
Mit heftig schlagendem Herz verkroch er selbst sich also ebenso schweigend im anderen Raum. Die Dosen, in denen Eriks Mutter ihm das Essen für die Fahrt mitgegeben hatte, sahen sauber aus, also verstaute er die heutige Wegzehrung darin. Zusammen mit Handtuch, Badehose und Buch landete schließlich alles im Rucksack.
Als Erik ein paar Minuten später wieder in den Flur trat, war von Berger nichts zu sehen. Dessen Zimmertür war angelehnt, also war er vermutlich noch dort drinnen. Für eine Sekunde war Erik versucht, die Hand gegen das Türblatt zu legen und sie aufzudrücken. Aber in Anbetracht dessen, was der mentale Quälgeist ihm kurz zuvor als Fantasiebilder geschickt hatte, wollte er sich lieber keinen weiteren Versuchungen aussetzen.
„Was ist schon wieder?“, hörte Erik mit einem Mal seinen Lehrer. Bergers Stimme klang genervt und prompt trat Erik einen Schritt von der Tür zurück. Bevor er sich entschuldigen konnte, fuhr Berger bereits fort: „Wenn Sie noch öfter anrufen, könnte ich auf die Idee kommen, dass Sie mir nicht vertrauen, Sabine.“
Erik stockte. Wieso rief denn Frau Fink schon wieder an? Das merkwürdige Gespräch am Sonntagabend war ihm noch sehr gut in Erinnerung – nicht dass er damit viel hätte anfangen können. Es war allerdings bestimmt nicht normal, dass die Frau Berger ständig anrief. Erst recht nicht zu solch merkwürdigen Zeiten.
„Ich habe überhaupt nicht ...!“, riss Bergers inzwischen wütende Stimme ihn erneut aus seinen Gedanken. Ein Schnauben war zu hören, anschließend ein Krachen, das Erik kurz zusammenzucken ließ. „Es dürfte ja wohl auf der Hand liegen, dass das nicht meine Schuld ist!“, fauchte Berger in einem Ton, der ganz sicher nicht angemessen war, wenn man in Betracht zog, dass der Mann mit seiner Chefin sprach.
Mit einem Mal stand Berger an der Tür. Während die Lippen aufeinandergepresst waren und die Falte zwischen den Augenbrauen ebenfalls dafür sprach, dass Berger mehr als sauer war, wirkten die Augen auf Erik eher erschrocken.
‚Einbildung‘, sagte Erik sich selbst.
„Ich geh schon vor“, murmelte er hingegen in Bergers Richtung.
Ehe der reagieren oder etwas sagen konnte, hastete Erik bereits aus der Hütte, um zum Bus zu kommen. Dabei sagte er sich immer wieder, dass Berger behauptet hatte, es wäre nichts vorgefallen. Aber je weiter er sich von der Hütte entfernte, desto schwerer fiel es Erik, den eigenen Gedanken Glauben zu schenken.
Wenn wirklich nichts passiert war, wieso rief dann Frau Fink an? Weshalb war Berger derart sauer? Und warum zum Teufel konnte Erik sich an nichts erinnern?
Leider waren das alles Fragen, die Erik ganz sicher nicht mit seinem Lehrer klären wollte. Jedenfalls nicht, während der mit Frau Fink telefonierte. Wobei sich die letzte vermutlich ziemlich einfach beantworten ließ: Weil Erik eine unbestimmbare Anzahl an Gläsern zu viel Wein intus gehabt hatte. Also beeilte er sich stattdessen, um pünktlich am Bus zu sein. Auf diese Weise würde er zumindest nicht in Bergers Begleitung dort auftauchen.
Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass Erik sich darum überhaupt keine Sorgen hätte machen müssen. Als er durch den Durchgang kam, standen da nur Sophie und eine ihrer Freundinnen. Während Erstere reichlich müde – allerdings nicht verkatert – aussah, machte ihre Freundin Talia einen ausgesprochen fitten Eindruck.
Als Sophie ihn bemerkte, lächelte sie Erik kurz zu – woraufhin ihre Freundin genervt die Augen verdrehte. Ansonsten hielt sie sich jedoch zurück. Er konnte fühlen, wie die eigenen Mundwinkel zuckten, schaffte es allerdings nicht, ein echtes Lächeln hervorzubringen. Wenigstens schien sich das Thema erledigt zu haben.
Leider führte das dazu, dass Erik reichlich verloren und vermutlich entsprechend dämlich alleine neben dem Bus stand und darauf wartete, dass es endlich losgehen würde. Für eine Sekunde überlegte er, zu Sophie hinüberzugehen. Aber als sich zwei weitere Mädchen zu ihnen gesellten, nahm Erik davon doch lieber Abstand. Sandros Kommentar vom Vortag war dahingehend bereits nervig genug gewesen.
Der glänzte im Übrigen weiterhin mit Abwesenheit. Genau wie Berger und die Lehrerinnen. Nach einem Blick auf das Handy stellte Erik fest, dass sie inzwischen fünf Minuten zu spät waren. Prompt kam einer der Fahrer aus dem Bus.
„Was ist jetzt?“, fragte er genervt, während er sich umblickte und feststellte, dass neben mehr als der Hälfte der Schüler ebenfalls drei Drittel des Lehrkörpers fehlten. Mit einem Mal nickte er Erik zu und meinte: „Sehen Sie mal nach, wo Ihre Lehrer bleiben. Wir wollen irgendwann auch mal los.“
„Was? Ich?“, rutschte es Erik verwundert raus.
„Nee, der Weihnachtsmann. Na los jetzt!“
Da Erik keinen Bock hatte zu diskutieren und es merkwürdig genug war, dass Berger dermaßen mit Unpünktlichkeit glänzte, drehte er sich schnaubend um und folgte der Anweisung. Er hatte es gerade bis zum Durchgang geschafft, als er auf der anderen Seite die Stimmen der beiden Lehrerinnen hörte.
„Herr Hoffmann?“, fragte Frau Hirvi auch prompt, als sie um die Ecke kam und direkt vor ihm stand.
„Die Fahrer wollen los“, murmelte er verhalten und trat beiseite, um die beiden Damen durchzulassen. „Und es fehlen noch Schüler.“ Darauf, dass die gesammelte Lehrerschaft ebenso fehlten, ging er lieber nicht ein.
Frau Hirvi seufzte, während ihre Kollegin eher genervt aussah. Sie nickten Erik zu und liefen anschließend an ihm vorbei in Richtung Parkplatz. Dort hatten sich zwar inzwischen wieder ein paar mehr Schüler eingefunden, es fehlte aber weiterhin gut ein Drittel.
‚Bei den Lehrern auch.‘
Der Gedanke behagte Erik nicht. Noch immer nagte die Unsicherheit darüber, was passiert war, an ihm. Dazu Bergers merkwürdiges Verhalten – beim Wecken zurückhaltend, als Frau Fink anrief aber eher genervt und wütend.
„Sollten Sie nicht auf dem Parkplatz sein?“, murrte es passenderweise in diesem Moment hinter ihm.
„Sie auch“, gab Erik ungewohnt gelassen zurück – was ihm ein kurzes Zucken an Bergers Mundwinkeln und ein etwas längeres Kribbeln im eigenen Bauch einbrachte.
„Na los“, sagte Eriks Lehrer und nickte mit dem Kopf in Richtung Durchgang. „Bin sicher, der Rest wartet schon.“
Woher mit einem Mal das Selbstvertrauen kam, dass er erneut einfach ausspuckte, was ihm durch den Kopf ging, war Erik ein Rätsel, aber es schien wie von selbst zu passieren: „Wäre ich nicht so sicher.“
Da war wieder dieses Zucken an den Mundwinkeln – und das Kribbeln wanderte tiefer. Wenn Erik mit solchen Sprüchen mehr davon bekommen würde, könnte er sich glatt daran gewöhnen, einfach nicht die Klappe zu halten, wenn es angemessen wäre.
Anstatt erneut etwas zu sagen, deutete Berger jedoch nur auf den Durchgang. Erik zögerte einen Moment. Es würde merkwürdig aussehen, wenn sie hier noch länger herumstanden. Also setzte er sich in Bewegung und lief zurück in Richtung Bus.
Inzwischen hatten sich scheinbar noch mehr Schüler eingefunden. Frau Farin war nirgendwo zu sehen, während ihre Kollegin die bereits um den Bus herum stehenden Leute zu zählen schien. So wirklich erfolgreich sah sie dabei nicht aus. Hinter ihm konnte Erik ein Schnauben hören, das ihn verwundert die Stirn runzeln ließ.
„Herr Berger!“, rief es in diesem Moment von rechts. Diesmal war es eindeutig ein Stöhnen, das Erik hinter sich hörte, aber auch das ließ er lieber unkommentiert.
Bergers Schritte entfernten sich, während er zu Frau Farin hinüberging. Die sah recht verkniffen aus, als sie ihren Kollegen zu sich herüberwinkte. Verwundert beobachtete Erik die beiden. Leider waren sie zu weit weg – und der Rest der Anwesenden definitiv zu laut – als dass er etwas hätte verstehen können. Sonderlich begeistert sah Berger weiterhin nicht aus. Seine Kollegin sogar eher wütend.
Mit einem Mal wanderte Frau Farins Blick zu einer Gruppe von Schülern weiter vorn am Bus. Ihr Mund verzog sich mit einer Spur von ... Erik war sich nicht sicher, aber er hätte schwören können, das war ‚Verachtung‘. Da wandte sie sich wieder Berger zu und redete offensichtlich recht energisch auf ihn ein. Was auch immer da ablief, es schien nicht sonderlich erfreulich zu sein – für keinen von beiden.
Erik drehte den Kopf nach links und versuchte, die Gruppe zu finden, zu der Frau Farin geblickt hatte. Als er die fraglichen Schüler fand, spürte er jedoch schon wieder ein unangenehmes Grummeln. Mitten in der Gruppe stand Hanna. Sie sah reichlich verkatert aus. Vermutlich hatte sie nicht das Glück gehabt, dass ihr ein gewisser Deutschlehrer zwei Schmerztabletten gegeben hatte.
Der Gedanke war deutlich angenehmer als diverse andere, die sich schon wieder in Eriks Bewusstsein schoben. Glücklicherweise hatte er zur Abwechslung nicht wirklich Gelegenheit, sich damit näher zu befassen, denn Berger und Frau Farin hatten ihr Gespräch beendet und traten auf ihre Kollegin zu. Die war offenbar noch immer mit dem Zählen der Schüler beschäftigt.
„Alle da?“, hörte Erik Frau Farin fragen.
„Ähm ...“, murmelte sie etwas verlegen nach einem Seitenblick auf Berger.
‚Hat der Kerl eben die Augen verdreht?‘, fragte Erik sich. War er selbst eigentlich wirklich schon wach? Oder war das hier ein ausgesprochen skurriler Traum?
„Bitte sehen Sie sich um, ob alle aus ihrer Hütte anwesend sind. Fehlt jemand?“, rief Frau Hirvi in die Runde.
Der genervte Blick Bergers entlockte Erik ein kurzes Grinsen. Bisher hatte der stets das Durchzählen der Schüler übernommen. Warum die drei davon ausgerechnet heute abweichen wollten, verstand Erik nicht, aber es war in gewisser Weise amüsant.
„Steigen Sie alle in den Bus ein“, mischte sich Frau Farin etwas energischer als ihre Kollegin ein. Die lächelte dankbar und scheuchte kurz darauf die ersten Schülerinnen in ihrer unmittelbaren Umgebung in Richtung Bus.
„Wir sind doch keine Fünftklässler mehr“, rief irgendjemand genervt.
Offensichtlich war die Mehrheit des Kurses noch nicht nüchtern. Oder zumindest durch den Verlauf des vorherigen Abends verkatert genug, um keinen Bock auf solche dummen Spielchen zu haben, denn das Murren breitete sich umgehend durch den gesamten Kurs aus. Insgeheim konnte Erik dem ebenfalls nur zustimmen, hielt sich mit tatsächlichen verbalen Äußerungen aber lieber zurück. Hauptsache, sie kamen vorwärts.
Überrascht zuckte Erik zusammen, als jetzt doch Bergers Stimme über die versammelte Gruppe hallte: „Dann werden Sie es ja sicherlich ohne weitere Aufforderung in diesen Bus schaffen, Herr Fejes.“
Okay ... da war die Laune bei einem gewissen Jemand nach dem Gespräch mit Frau Farin um ein paar weitere Kilometer abgesunken. Erik sah erneut zu Berger, beeilte sich daraufhin aber lieber, sich der zum Bus strömenden Masse anzuschließen. Der Kerl war ja öfter mies gelaunt gewesen in den vergangenen Monaten – und Erik war sich ziemlich sicher, dass er selbst oft genug der Grund für war. So finster wie im Augenblick hatte Berger aber vermutlich noch nie ausgesehen.
Wenigstens war Erik sich vorerst ziemlich sicher, dass er ausnahmsweise dafür nicht verantwortlich war, sondern das Gespräch mit Frau Farin. Erst als er auf dem gleichen Platz wie schon die Tage davor saß, wurde Erik bewusst, dass er nicht einmal darüber nachgedacht hatte, wo er sich hinsetzen könnte. Die Wahl war automatisch erfolgt, fast so, als wäre es selbstverständlich.
Verunsichert sah Erik nach draußen. Die Schlange vor dem Bus war nicht mehr sonderlich lang. Frau Hirvi kam eben von den Hütten zurück, wo sie vermutlich noch einmal nach möglicherweise fehlenden Schülerinnen und Schülern gesucht hatte. Die beiden Jungen, die mit gesenktem Kopf vor ihr hertrotteten, waren der lebende Beweis dafür, dass das notwendig gewesen war. Frau Farin saß bereits in der Reihe vor Erik und unterhielt sich von dort mit dem zweiten Fahrer. Scheinbar klärte sie noch einmal die Route, damit sie auch ja im richtigen Kaff abgesetzt wurden.
‚Fehlt nur Berger‘, bemerkte Erik und ließ prompt seinen Blick nach draußen wandern.
Tatsächlich stand der weiterhin ein paar Meter vom Bus entfernt und starrte finster auf die stetig kürzer werdende Schlange an der Tür. Wirklich beruhigt hatte Berger sich vermutlich nicht. Trotzdem war die meistens so emotionslos erscheinende Maske wieder an Ort und Stelle. Zumindest konnte Erik vorerst keine Wut mehr in dem gut aussehenden Gesicht erkennen.
Bei der miesen Laune, die Berger bisher am Morgen gezeigt hatte, war Erik sich allerdings nicht mehr sicher, ob er es riskieren sollte, den Mann auf die letzte Nacht hin anzusprechen. Andererseits würde sich das wohl kaum umgehen lassen, wenn Erik die fixe Idee davon, ausgerechnet mit Berger wenigstens einmal ausgehen zu können, nicht aufgeben konnte.
‚Nächste Woche ist er nicht mehr dein Lehrer, sondern nur ein Kerl wie alle anderen.‘ Wobei Berger an normalen Tagen schon nicht wie die Typen war, die Erik sonst näher kannte.
Endlich hatten es alle übrigen aus ihrer Reisegruppe in den Bus geschafft, sodass Berger nun ebenfalls einstieg. Kaum eingestiegen, war dieser noch einmal einen Blick durch die Reihen, bevor er sich ohne weitere Verzögerung auf den gleichen Platz wie bei den bisherigen Fahrten setzte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis Erik klar wurde, warum das dazu führte, dass sein Puls prompt in die Höhe schoss. Ein Teil von ihm hatte weiterhin befürchtet, Berger würde sich von ihm fernhalten.
Nachdem Frau Hirvi noch einmal alle durchgezählt hatte, konnten sie endlich aufbrechen – mit schlappen zwanzig bis dreißig Minuten Verspätung. Wenigstens würde sich das nicht wirklich sonderlich nachteilig auf ihren Zeitplan auswirken. Zumindest falls es nicht zu weiteren Verzögerungen kam. Bei dem Gedanken hatte Erik aber noch immer ein mulmiges Gefühl im Bauch. Denn bisher war es Berger gewesen, der für einen einigermaßen reibungslosen Ablauf der Fahrt gesorgt hatte. Die beiden Lehrerinnen hatten sich in der Hinsicht eher zurückgehalten und den Urlaub genossen.
Zögerlich drehte Erik den Kopf nach links – nur um festzustellen, dass Berger mit zusammengepressten Lippen dahockte und nicht gerade glücklich aussah. Das unschöne Gefühl in Eriks Bauch wurde stärker.
‚Kein Thema, das du hier ansprechen solltest‘, sagte er sich selbst.
Der so ungewohnt angespannte Körper neben ihm war allerdings für die knappe Stunde Fahrt, die sie hinter sich bringen mussten, nur schwer zu ignorieren. Immerhin schaffte Erik es, Berger nicht die ganze Zeit anzustarren. Das würde ohnehin nichts ändern.
Der Gedanke, dass er sich mit irgendeinem Mist, den er im Suff angestellt hatte, jede Chance bei Berger versaut hatte, lag Erik jedoch wie ein Felsbrocken im Magen. Was wiederum ziemlich dämlich erschien. Immerhin hatte er sich bisher ja sehr erfolgreich einreden können, dass dieser ganze dumme Unsinn, der da in Erik tobte, ohnehin nichts weiter als eine rein körperliche Anziehung war.
‚War da nicht gestern eine anderslautende Erkenntnis gewesen?‘
Erik unterdrückte ein Stöhnen, als die Erinnerung an den hochnotpeinlichen Vorfall mit Mathis sich wieder in sein Bewusstsein schob. Schnell versuchte er, sich auf den Blick nach draußen zu konzentrieren.
Vierhundertdreiundsechzig Begrenzungspfosten später war Erik sich nicht mehr sicher, ob er sich verzählt hatte oder nicht. Aber zumindest war er vorerst etwas ruhiger und sie ihrem Ziel glücklicherweise deutlich näher. Auch Eriks Mitschüler schienen inzwischen munter zu werden. Die Lautstärke im Bus hatte sich jedenfalls merklich erhöht.
Als Erik einen weiteren Blick nach links wagte, runzelte er jedoch die Stirn. Berger hatte die Augen geschlossen und sah wieder aus, als würde er schlafen. Dabei hatte der Mann garantiert mindestens drei Kaffee beim Frühstück gehabt und sah auch nicht einmal ansatzweise verkatert aus.
‚Vielleicht hat er letzte Nacht nicht schlafen können‘, warf Eriks mentaler Quälgeist als Möglichkeit ins Rennen.
Diese behagte Erik selbst allerdings nicht sonderlich. Denn kaum war der Gedanke da, konnte sich er nicht entscheiden, ob er sich wünschen sollte, dafür verantwortlich zu sein oder nicht. Immerhin würde das heißen, dass Erik Berger nicht völlig egal war – im Gegenteil. Schlaflose Nächte hatte man sicherlich nicht wegen irgendeinem Vollidioten, der einen besoffen angemacht hatte.
‚Es ist nicht Hanna, auf die er steht‘, zuckte es Erik durch den Kopf und er musste ein weiteres Stöhnen unterdrücken.
Hastig drehte Erik sich von Berger weg. Da war schon wieder dieses Gefühl von Déjà-vu. Fast so, als hätte er die gleichen Worte nicht nur gedacht, sondern gesagt. Aber vielleicht war das lediglich ein Wunschtraum. Genau wie diese absurde Vorstellung, dass er Berger in ihrer Hütte gegen die Wand gepinnt hatte.
Erik seufzte innerlich und schloss die Augen. Das Gedankenchaos fing schon wieder an, sich in ihm auszubreiten. Glücklicherweise verkündete der Fahrer in diesem Moment, dass sie in wenigen Minuten ihr Ziel erreichen würden.
Hoffentlich würde die frische Luft Eriks Hirnzellen endlich richtig ankurbeln.