Tag 4 - Dienstag
35 – Schmerzhafter Morgen
Erik würde für den Rest seines Lebens nicht absolut sicher sein, was es war, das ihn an diesem beschissenen Dienstagmorgen aus dem Schlaf riss. Die Chancen standen aber gut, dass es das verfluchte Messer war, das jemand versuchte, ihm in den Schädel zu rammen. Zumindest fühlte es sich so an. Oder schlimmer. Falls das überhaupt ging. Dazu ein markerschütterndes Kreischen, das es offenbar darauf anlegte, jede Hirnzelle einzeln zu zerfetzen.
Er blinzelte und kämpfte sich schwankend auf unsichere Beine, nur um prompt auf allen vieren zu landen. Wenigstens lag Erik heute mal nicht mit dem Gesicht auf dem Boden. Irgendwo hörte er jemanden etwas rufen, verstand aber nicht, was es war. Die Chancen standen gut, dass es irgendeine fremde Sprache war. Eine kleine Stimme versuchte, das Dröhnen in Eriks Schädel zu übertrumpfen und ihm zu sagen, dass das Französisch sein müsste. Weil das angeblich ‚logisch‘ wäre. Leider ging Erik gerade jede Logik ab. Zumindest das beschissene Kreischen verschwand.
„Wo zum Teufel ...“, krächzte er und sah sich um.
In Eriks Kopf stocherte weiterhin jemand mit einem Messer herum. Vielleicht waren es auch Stricknadeln. Oder irgendwelche anderen spitzen Dinge. Speere? Jedenfalls war es verflucht schmerzhaft. Irritiert versuchte Erik, das beschissene Arschloch zu finden, das ihn so malträtierte. Aber er war allein im Zimmer.
„Oh, Mann“, stöhnte er, als ihm langsam dämmerte, dass wohl der vierte Tag seiner Klassenfahrt angebrochen war. „Dienstag“, murmelte Erik und schloss die Augen.
Es klopfte an der Tür, was ihm ein weiteres Stöhnen entlockte, weil es das Geräusch den Schmerz im Kopf erneut verstärkte. Wer auch immer das war, er sollte sich verpissen und nächste Woche wieder auftauchen, wenn es ihm hoffentlich besser ging.
„Ich weiß, dass Sie wach sind, Erik“, rief es von vor der Tür. Da war garantiert ein hämisches Grinsen auf viel zu verführerischen Lippen.
Am liebsten hätte Erik zurückgeschrien, dass er im Gegenzug genau wusste, dass der dämliche Lehrer dafür verantwortlich war, dass er wach war. Aber die Angst davor, was das mit seinem Kopf machen würde, hielt Erik davon ab, es tatsächlich zu tun. Schlimm genug, dass Berger schon wieder gegen die Tür hämmerte.
Das war definitiv Gift für Eriks ohnehin schmerzenden Kopf. Etwas irritiert stellte er nebenbei fest, dass er in der Unterhose geschlafen hatte. Dummerweise konnte Erik im Augenblick weder sagen, wie er ins Bett gekommen war, noch wer ihn ausgezogen hatte. Wobei die Chancen in Bezug auf letztere Frage sehr gut dafür standen, dass er es selbst getan hatte. Der einzige andere Kandidat, den Erik an dieser Stelle gern eingesetzt hätte, würde ansonsten wohl kaum weiterhin gegen diese beschissene Tür hämmern, sondern bereits vor ihm stehen.
‚Idealerweise in noch weniger Klamotten als du gerade trägst.‘
Erik grinste und rappelte sich mit einem Ächzen auf. Mehr stolpernd als laufend schaffte er es zur Tür. Vielleicht würde der Idiot aufhören, dagegen zu hämmern, wenn er sie aufmachte.
„Was?!“, fauchte Erik, kaum dass er seinem Lehrer tatsächlich gegenüberstand.
Nur um prompt stöhnend den Kopf zu senken, weil seine eigene Stimme definitiv zu laut war – und zu kratzig. Davon abgesehen, dass Eriks Hals und sein Mund sich irgendwie widerlich anfühlten.
„Frühstück“, antwortete Berger geradezu kleinlaut. Dann trat der Kerl auch noch direkt einen Schritt nach hinten. Verwundert runzelte Erik die Stirn.
‚Was ist denn mit dem los?‘, fragte er sich, während er gleichzeitig an Berger gerichtet, möglichst leise maulte: „Kein Hunger.“ Eben wollte Erik dazu passend die Tür wieder zuschlagen, als eine Hand nach oben schnellte und Berger doch einen Schritt vortrat, um ihn davon abzuhalten.
„Sie sollten etwas essen, Erik. Und ein Kaffee schadet sicherlich auch nicht.“
Die Stimme klang tonlos. Dennoch schlich sich ein zögerliches Lächeln auf Bergers Gesicht. Auf diese viel zu verführerischen Lippen, die mit einem Mal so verdammt nah zu sein schienen. Von irgendwoher hatte Erik das Gefühl, als hätte er gerade erst wesentlich knapper vor ihnen gestanden. Schon lehnte er sich nach vorn, als plötzlich ein Schlüssel vor seiner Nase baumelte.
„Vielleicht lieber eine ganze Kanne“, murmelte Berger mit einem weiterhin ungewohnt verhaltenen Lächeln. Wobei es schon ungewöhnlich genug war, dass der Mann überhaupt lächelte.
„Hä?“
„Kaffee.“
Wovon redete der Kerl? Und wieso fühlte Erik sich immer noch so beschissen? Er blinzelte und runzelte die Stirn. Allmählich wurde ihm so richtig bewusst, dass er tatsächlich keinen Plan hatte, wie er zur Hütte zurückgekommen war. Sie waren auf dieser bescheuerten Weinverkostung gewesen. Angewidert verzog Erik das Gesicht, als er das pelzige Gefühl auf der Zunge sich schon wieder bemerkbar machte. Egal welches Tier in seinem Mund verreckt war, es musste demnächst da raus.
Jetzt verschwand sogar das eher angedeutete Lächeln aus Bergers Gesicht und wurde durch ein Stirnrunzeln ersetzt. „Kopfschmerzen?“ Erik nickte verhalten. „Übelkeit?“
Diesmal schüttelte er zögerlich den Kopf und erntete ein Seufzen von Berger. Der fuhr sich kurz durch die schwarzen Haare, drehte sich anschließend zum eigenen Zimmer um und verschwand für einen Moment darin. Nachdem er wieder vor Erik stand, hielt Berger ihm zwei rosafarbene, dreieckige Pillen hin.
„Neben Sie die, dann geht es Ihnen spätestens nach dem Frühstück besser.“
„Kein Hunger“, murrte Erik ein weiteres Mal.
Die Tabletten nahm er trotzdem. Konnte schließlich nicht schaden und Berger hatte ihm in den letzten Tagen oft genug den Hintern gerettet, da würde er ihn ja jetzt wohl kaum unkontrolliert unter Drogen setzen. Wobei der Gedanke in gewissen Szenarien durchaus einen Reiz haben könnte.
Die drängte Erik aber lieber schnell in den Arschlochteil seines Hirns zurück. Bei den blöden Pillen ging es nur darum, den beschissenen Kopfschmerz loszuwerden. Und um das zu erreichen, würde er zur Abwechslung sogar auf Berger hören.
Der sah ihn schon wieder so komisch an.
Plötzlich war da dieses Ziehen in Eriks Bauch und sein Herz schien für einen Moment auszusetzen. Das Letzte, woran er sich erinnerte, war der verdammte Keller auf dem Weingut. Nervös zuckte Eriks Blick über Bergers Gesicht. Der sah weder angepisst oder wütend aus, eher verunsichert und vielleicht sogar zurückhaltend. Eben hatte Berger allerdings gelächelt – jedoch nur ansatzweise. Das würde der Kerl doch wohl nicht tun, wenn Erik sich ‚danebenbenommen‘ hatte. Oder?
Vorsorglich murmelte er ein leises: „Entschuldigung ...“ Die Chancen standen gut, dass es notwendig war, weil Erik entweder Scheiße gebaut oder irgendwas Dämliches gesagt hatte.
„Wofür?“, fragte Berger kaum hörbar zurück.
Da Erik keine Ahnung hatte, warum er sich entschuldigen musste, zuckte er mit den Schultern. Das unbestimmte Gefühl, dass es notwendig war, blieb.
„Sie erinnern sich nicht, oder?“
Erik schloss die Augen und versuchte, sowohl den Kopfschmerz als auch das beschissene Brennen in seinem Inneren zu verdrängen. Also gab es etwas, das er vergessen hatte.
„Ich ... Oh, Mann“, murmelte Erik leise. In seinem Kopf stiegen gerade tausend Möglichkeiten auf, was er alles angestellt haben könnte, und mindestens die Hälfte davon dürfte mit Freiheitsstrafen belegt werden. „Bitte sagen Sie mir, dass ich nicht ... handgreiflich geworden ... bin.“ Jetzt wurde ihm doch übel, als die zu seinen Aufsätzen passenden Bilder in seinem Geist erschienen.
„Natürlich nicht, Erik“, antwortete Berger allerdings bestimmt.
Als Erik die Augen öffnete, war da wieder dieses Lächeln, das ihn geradezu anzuziehen schien. Diesmal sah es wesentlich ehrlicher aus. Es war kein verfluchter Stein, der Erik vom Herzen fiel, sondern eher der ganze Kilimandscharo – mindestens die Zugspitze. Für eine Sekunde hatte er sogar das Hämmern im Schädel vergessen gehabt. Jetzt setzte es allerdings wieder ein und so ließ Erik den Kopf mit einem Stöhnen gegen den Türrahmen fallen.
„Nehmen Sie die Schmerztabletten“, wies Berger ihn ruhig an. „Bei ihrer Größe am besten gleich beide. Dannach duschen Sie und kommen anschließend zum Frühstück. Sie werden heute genug Zeit, an der frischen Luft verbringen, um den Kater loszuwerden.“
„Oi, verflucht ...“, murmelte Erik gequält. „Die beschissene Wanderung.“
Berger nickte grinsend und war kurz darauf aus der Hütte verschwunden. Seufzend schlurfte Erik ins Bad, um ein Glas Wasser zu holen, mit dem er die Pillen runterspülen konnte. Vielleicht würde sein Hirn dadurch etwas aufklaren und ihm offenbaren, was der Alkohol an Erinnerungen aus dem Kopf verbannt hatte.
Noch einmal blickte Erik in Richtung der Tür, durch die Berger nach draußen verschwunden war. Auch wenn der Kerl gesagt hatte, dass er sich nicht an ihm vergriffen hatte. Erik wurde das Gefühl nicht los, dass er trotzdem irgendetwas verbockt hatte. Betreten ließ er den Kopf hängen.
„Besaufen ist so oder so wohl nicht sonderlich erwachsen ...“
✑
Die Dusche und das bitternotwendige Zähneputzen hatte Erik in Rekordzeit erledigt. Was auch immer das für Pillen gewesen waren, die Berger ihm gegeben hatte, die Wirkung setzte glücklicherweise schnell ein. Zumindest fühlte Erik sich, nachdem er endlich frische Sachen anhatte, deutlich besser. Der Kopfschmerz war nur noch als dumpfes Pochen zu spüren. Gegen die Gedächtnislücke hatten die Pillen leider nicht geholfen.
Ein Blick aufs Handy zeigte Erik, dass er allmählich in die Gänge kommen sollte. Berger hatte ihn zwar offenbar rechtzeitig geweckt, sodass er genug Zeit hatte. Da Erik allerdings auf keinen Fall zum Putzdienst noch an den Tischen sitzen wollte, beeilte er sich, um endlich zum Frühstück zu kommen.
Einen Moment überlegte Erik, ob er bereits für die Wanderung packen sollte, entschied sich aber dagegen. Berger hatte keinen Rucksack dabeigehabt, würde also definitiv noch einmal zur Hütte zurückkehren. Statt weiter Zeit zu verschwenden, machte Erik sich deshalb lieber auf den Weg in Richtung Frühstück.
Als er den kleinen Hügel zum Speisesaal erklomm, bemerkte er sofort, dass seine Mitschüler heute scheinbar darauf verzichtet hatten, die Tische rauszubringen. Das schon fast normal gewordene Geschnatter der anderen war ebenfalls nicht zu hören. Verwundert zog Erik das Handy aus der Hosentasche und prüfte erneut die Uhrzeit. In knapp einer Dreiviertelstunde war Treffpunkt am Bus. Die Zeit würde locker für das Frühstück reichen – und dafür, alles Notwendige für ihren Ausflug zusammenzupacken.
Erik atmete noch einmal tief durch, bevor er den Speisesaal betrat. Dort war unübersehbar, warum er bisher nichts gehört hatte. Höchstens die Hälfte des Kurses war da und davon wiederum gut ein Drittel maximal körperlich anwesend. Ohne Bergers Wunderpillen wäre Erik vermutlich ebenfalls ein Teil der zombieähnlichen Gestalten, die über Kaffeetassen hingen oder gar mit dem Kopf auf der Tischplatte lagen.
So holte Erik sich ein paar Sachen für das Frühstück und setzte sich an einen freien Tisch. Wenn er den Kopf hob, könnte er zu Berger sehen. Insofern wäre es vielleicht vernünftiger gewesen, sich woanders hinzusetzen – zumindest auf den gegenüberliegenden Platz um in die andere Richtung zu blicken.
Das stetig stärker werdende Reißen im Bauch ließ Erik stattdessen aufblicken. Wo zum Teufel war das nette Kribbeln und das komische Flattern hin, das er in den letzten Monaten so sehr verflucht und trotzdem herbeigesehnt hatte? Scheiße. Im Augenblick würde Erik sogar den peinlichen Ständer in Kauf nehmen. Hauptsache, dieses beschissene schwarze Loch, das immer stärker an ihm zog, verschwand wieder.
Berger saß lässig und geradezu gelangweilt auf dem Stuhl und drehte die Kaffeetasse zwischen den schlanken Fingern. Auch er saß alleine am Tisch. Scheinbar glänzten die beiden Lehrerinnen aktuell ebenfalls mit Abwesenheit.
‚Oder sie sind schon wieder weg.‘
Vorsichtig, damit es nicht ganz so auffällig war, sah Erik sich ein weiteres Mal im Speisesaal um. Lediglich ein paar der Mädchen machten einen fitten Eindruck – im Übrigen genau wie Berger. Gerade wollte Erik sich wieder dem Frühstück zuwenden, als sein Blick vom Eingang angezogen wurde. Da kamen drei weitere Mädchen. Normalerweise kein Anblick, der Erik lange beschäftigen würde. Die Art und Weise, wie Hanna, kaum dass sie den Raum betreten hatte, verstohlen in Bergers Richtung sah, war aber merkwürdig.
In Eriks Bauch wurde das Reißen zu einem ausgewachsenen Brennen. Sofort zuckte sein Blick zu Berger. Der starrte jedoch stur auf die Kaffeetasse, ließ sich nicht anmerken, ob er überhaupt gemerkt hatte, dass Hanna und ihre Freundinnen angekommen waren.
Auch wenn die Erinnerung an die letzte Nacht eine nicht zu verachtende Lücke aufwies, konnte Erik sich noch gut an Hannas beschissenes Grinsen erinnern. Das hatte ihm schließlich mehr als einmal gestern Abend entgegengeschlagen.
‚War da noch etwas?‘
Das Letzte, woran Erik sich erinnerte, war die verfluchte Hitze in dem blöden Keller. Und die Müdigkeit, die ihn überfallen hatte. Irgendwie musste er von dort in sein Bett gekommen sein. Zögerlich sah Erik erneut zu Berger, während er dessen Anweisung befolgte, und den eigenen Magen mit Kaffee und etwas zu essen füllte.
‚Der Kerl hat dich wohl kaum getragen‘, warf Eriks Quälgeist ein, sobald das Koffein ein paar Hirnzellen aktiviert hatte.
‚Wirklich wütend hat er auch nicht ausgesehen‘, sagte Erik sich selbst. Unsicher vielleicht. Zurückhaltend. ‚Ängstlich?‘, überlegte er weiter. Das ungute Gefühl wurde stärker. Berger zeigte ja an guten Tagen schon kaum, was in ihm vorging – oder Erik konnte es zumindest nicht erkennen.
Dank Bergers Wunderpillen ging es Eriks Kopf nach zwei Tassen Kaffee wieder einigermaßen. Jedenfalls gut genug, um die düsteren Gedanken zunächst beiseitezuschieben und sich dem Frühstück zu widmen. Irgendwann im Laufe des Tages würde sich hoffentlich eine Gelegenheit ergeben, die Sache noch einmal anzusprechen.
Als Erik einige Minuten später erneut aufblickte, um nach Berger zu sehen, war der nicht mehr an seinem Platz. Stattdessen saßen dort die zwei Lehrerinnen. Zur Sicherheit sah Erik sich prüfend im Saal um. Aber Berger blieb verschwunden.
Eriks spontaner Impuls war, aufzuspringen, er schaffte es allerdings, sich zu bremsen. Dem Kerl sofort hinterher zu stürmen, würde nichts bringen. Er hatte ja sowieso keine Ahnung, was er Berger sagen sollte. Da sie erst gegen Abend wieder in die Herberge zurückkehren würden, hieß das allerdings, dass Erik genug Gelegenheit den Tag über haben würde, um sich genau das zu überlegen.
Also schmierte er sich zunächst ein paar Brote und packte auch noch etwas vom Obst dazu. Proviant konnte garantiert nicht schaden. Genauso wenig wie eine weitere Tasse Kaffee, die er sich gönnte, bevor Erik letztendlich in Richtung der Hütte aufbrach.