81 – Wechselnde Entscheidungen
Im Grunde hätte man den restlichen Verlauf der Fahrt am besten mit ‚unspektakulär‘ beschreiben können. Es würden jedoch wahlweise ebenso die Bezeichnungen ‚langweilig‘, ‚verschlafen‘ und ‚verdammt noch einmal viel zu lang‘ passen.
Nachdem sie vom ersten Rastplatz aufgebrochen waren, hatte Erik versucht wieder einzuschlafen. Die Gegenwart des Mannes neben und der Frau vor ihm, hielt das Chaos im Kopf jedoch am Rotieren und ihn folglich wach – egal wie sehr Erik versuchte, sich dagegen zu wehren.
Dass diese ständige Grübelei nichts bringen würde, war ihm durchaus bewusst. Trotzdem konnte er sie nicht abschalten – und nach dem miesen Kaffee an dem dämlichen Rasthof war Erik blöderweise vorerst zu wach gewesen.
Der absolut sinnlose Versuch, sich mit einem der Bücher, die er extra mitgenommen hatte, abzulenken, scheiterte direkt im Ansatz. Weniger daran, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Vielmehr war es wohl die Tatsache, dass andere Dinge in Eriks Aufmerksamkeit deutlich höher angesiedelt waren. Namentlich vor allem der Sturkopf neben ihm.
Berger hatte im Gegensatz zu Erik nämlich überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt, recht kurz nach ihrem erneuten Aufbruch einzuschlafen. Und er schien noch viel weniger Probleme damit zu haben, sich dabei gegen Erik zu lehnen. Was bei dem wiederum prompt das erwartungsgemäße Hormon- und Emotionschaos auslöste.
Anstatt es wenigstens zu genießen, rotierte es in Eriks Kopf ununterbrochen. Frau Farin war glücklicherweise vor ihnen und die Mädchen, die eigentlich auf der anderen Seite des Ganges saßen, hatten sich längst weiter nach hinten verkrümelt. Im Grunde bemerkte es wohl nicht einmal jemand. Trotzdem konnte sich das komische Gefühl in Eriks Bauch nicht entscheiden, ob es zu platzenden Seifenblasen aufsteigen oder sich doch zu einem zentnerschweren Stein zusammenballen wollte.
Nachdem sie erneute vier Stunden später eine weitere längere Rast einlegten, bei der Erik sich diesmal etwas zu essen gönnte, sah die Lage wieder anders aus. Denn Berger schlief bei der Weiterfahrt nicht erneut ein. Das hieß allerdings, dass Erik die nette Wärme nicht mehr durch sein T-Shirt spüren und die schwarzen Haare ihn nicht am Hals kitzeln konnten. Dadurch bestand zwar, was Frau Farin oder den Rest der Reisegruppe anging keine wirkliche Gefahr mehr, aber es fühlte sich beschissen an. So lächerlich es klingen mochte, das bisschen Körperkontakt war zumindest so etwas wie eine Verbindung zu Berger gewesen. Jetzt hatte Erik nicht einmal mehr das. Die Aussicht, dass sich das im Laufe des Tages nur weiter verschlimmern konnte, lag ihm stundenlang verdammt schwer im Magen.
Irgendwann war es Abend geworden. Gegen halb zehn hielten die Busfahrer verfrüht noch ein drittes Mal. Bis nach Hause würden sie es der verbleibenden Zeit nicht schaffen, bevor die größere Pause für die Fahrer anstand. Dafür war diese – hoffentlich letzte – Rast vor ihrer Ankunft lediglich dreißig Minuten lang. Während dieser rotierte die Belegschaft des kleinen Schnellrestaurants an einem Autohof deshalb umso heftiger.
Nachdem sie von dort losgefahren waren, verloren sich Eriks Gedanken jedoch irgendwann. Das Nächste, was ihm bewusst wurde, war ein merkwürdiges Kitzeln an seiner Hand, das ihn aufweckte. Als Erik mühsam die Augen öffnete und auf seine Linke hinuntersah, war dort aber nichts zu sehen. Trotzdem kribbelte es weiter auf der Oberseite. Irritiert hob er die Hand und rieb mit der Rechten darüber.
„Wo sind wir?“, fragte Erik heiser, während er sich in seinem Sitz aufrichtete.
„Gleich zu Hause.“
Bei den Worten war er schlagartig wach und sah sich um. Erst jetzt wurde Erik bewusst, dass es draußen stockdunkel war. Das galt offenbar nur deshalb nicht für den Bus, weil jemand die Innenbeleuchtung angeschaltet hatte. Verschlafen rieb Erik sich die Augen, bevor er zur Digitalanzeige der Uhr vorn im Bus blickte.
„Schon nach Mitternacht“, murmelte Erik verwundert.
Er konnte spüren, wie die Schulter neben seiner sich bewegte. Als Erik zu Berger hinüberblickte, sah der jedoch lediglich auf die eigenen, im Schoß gefalteten Hände.
„Eine Vollsperrung“, bemerkte Berger kaum hörbar. „Wir mussten einen Umweg fahren.“
„Ah“, brummte Erik.
Er sah erneut aus dem Fenster. Allerdings war da scheinbar gerade keine der Anzeigetafeln, an denen stand, welche Ausfahrten als Nächstes kommen würden. Da Erik weder einen Führerschein besaß, noch sich sonderlich in der Umgebung auskannte, würden ihm die Schilder womöglich eh nicht viel sagen.
Es raschelte auf den Sitzen vor ihnen und kurz darauf trat Frau Hirvi nach hinten und meinte: „Herr Berger? Wie machen wir das mit dem Aussteigen der Schüler?“
„Welcher Halt ist für Sie am günstigsten?“, fragte Berger seinerseits zurück, anstatt zu antworten.
Frau Hirvi überlegte kurz, bevor sie sagte: „Ich könnte problemlos bis zum zweiten Halt mitfahren und von dort laufen. Was ist mit Dir, Mandy?“
„Da wir den umgekehrten Weg in die Stadt kommen, wäre für mich der erste Halt am günstigsten. Aber ich fahre auch bis zum letzten mit und nehme mir von dort ein Taxi.“
Erik runzelte die Stirn. Bei der Abfahrt waren bis auf wenige seiner Mitschüler bereits alle im Bus gewesen – inklusive Berger. Deshalb hatte Erik eigentlich angenommen, dass er diesmal vor den Übrigen den Bus verlassen würde.
Erst jetzt wurde Erik klar, dass das so oder so bedeuten würde, dass er sich an diesem Abend nicht vernünftig von Berger würde verabschieden können. Er schluckte und wandte den Blick ab, um stattdessen in die Finsternis auf der anderen Seite des Fensters zu starren.
Wahrscheinlich sollte Erik wohl froh sein, dass er die Fahrt endlich hinter sich hatte. Und wenn er vor Berger ausstieg, konnte Erik zumindest nicht Gefahr laufen, quasi im Vorbeigehen noch seine Abfuhr zu kassieren.
In Eriks Magen zog sich etwas schmerzhaft zusammen. Heftig genug, dass er für einen Moment die Augen schloss und die Schläfe gegen das kühle Glas der Fensterscheibe lehnte.
Berger drückte sich derweil nach oben und sah über die Lehne der vorderen Sitze zu Frau Farin: „Sie wissen nicht einmal, ob Sie dort so einfach ein Taxi bekommen.“
„Lassen Sie das mal meine Sorge sein“, gab diese jedoch schneidend zurück.
Berger schüttelte den Kopf. „Das ist nicht gerade eine Gegend, in der man ewig auf der Straße wegen eines Taxis wartet.“
„Hey!“, murrte Erik beleidigt, bevor ihm klar wurde, dass er sich besser nicht in das Gespräch einmischen sollte. Aber immerhin wohnte er dort. Und obwohl Berger zweifellos recht hatte, wollte Erik sich nicht so fühlen, als ob er in der Assi-Gegend schlechthin lebte. Glücklicherweise beachtete ihn jedoch niemand weiter.
„Wo wohnen Sie?“, fragte Frau Hirvi und zog damit vor allem Eriks Aufmerksamkeit wieder auf sich.
„Für mich macht der Weg von keiner der drei Stationen einen Unterschied“, gab Berger jedoch nur ausweichend zurück.
„Lassen Sie mich raten, Sie melden sich freiwillig“, kam es auch schon prompt mit einem wütenden Zischen aus der Reihe vor ihnen.
Berger ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken und antwortete: „Jemand muss bis zum letzten Halt im Bus bleiben. Wenn ich Sie in der Gegend mitten in der Nacht auf der Straße stehen und auf ein Taxi warten lasse, macht mir Frau Fink die Hölle heiß.“
Im Gegensatz zu Bergers Stimme war es in Erik mit einem Mal gar nicht mehr so ruhig. Auf der einen Seite würde er nur zu gern noch das eine oder andere Wort mit Berger wechseln. Die Sorge, dass der nach dem Gespräch mit Frau Farin Erik heute Abend endgültig abservierte, wurde aber stetig größer.
Würde es für Leute wie die Farin am Ende überhaupt einen Unterschied machen, ob Berger noch sein Lehrer war oder nicht? Oder würden sie es ohnehin stets als ‚unanständig‘ bezeichnen? Weil sie es auf diese Weise sehen wollten.
Der verfluchte Felsbrocken in Eriks Magen wurde zunehmend schwerer. Sein Blick wanderte zu Berger, der weiterhin auf eine Antwort von Frau Farin wartete, die schlicht nicht kam.
„Dann bleiben Sie bis zum Schluss im Bus, Herr Berger?“, fragte irgendwann stattdessen Frau Hirvi nach.
Dieser hob lediglich die Schultern und sah erneut in Richtung ihrer Kollegin. Von der hörte Erik kurz darauf ein abfälliges Schnaufen und etwas, das wie ein gemurmeltes „War ja klar“, klang.
„Vielen Dank“, meinte Frau Hirvi jedoch strahlend. Entweder die kapierte die vorherrschende Stimmung mal wieder überhaupt nicht oder sie ignorierte sie. Manchmal war sich Erik nicht sicher, was von beidem besser wäre. „Dann kannst du, Mandy, am ersten Halt raus, ich nehme den zweiten und Herr Berger, Sie begleiten die verbleibenden Schüler.“
Erik verdrehte die Augen. Im Grunde war es lächerlich, dass überhaupt jemand von den dreien sie begleiten musste. Als ob sie das nicht alleine schaffen würden. Die Fahrer würden schon an der richtigen Stelle halten und alle, die noch im Bus saßen samt Gepäck auf die Straße setzen.
War ja nicht so, als ob Erik und die anderen nicht seit Jahren in der Gegend wohnen würde. Abgesehen davon überfiel ihn garantiert keiner. Da würde Erik sich mehr Sorgen um Berger machen, wenn der heute Nacht alleine auf den Nachtbus wartete. Andererseits hatte der Kerl ja während der Klassenfahrt mehrfach bewiesen, dass er sich wehren konnte, wenn es notwendig war.
Der Gedanke ließ zumindest den Felsbrocken in Eriks Bauch etwas leichter werden. Vielleicht könnte er mit Berger auf den Bus warten. Natürlich nur, damit dem auch ganz sicher nichts passierte. Die Haltestelle war schließlich nur einen Katzensprung von Eriks zu Hause entfernt. Jedenfalls insofern die Linie Berger überhaupt irgendwo in die Nähe seiner eigenen Wohnung bringen würde. Was Erik prompt einmal mehr bewusst werden ließ, dass er keine Ahnung hatte, wo Berger lebte.
Hastig kniff er die Augen zusammen und rieb sich über die Stirn. Was dachte er denn da? Selbst wenn er wüsste, wo Berger wohnte, wollte Erik sich nicht auf Hannas Niveau herablassen und dem hinterherschleichen. Also würde das heute Abend unter Umständen die letzte Gelegenheit sein, um allein mit Berger reden zu können. Eriks zunehmend schneller schlagendes Herz schien bei dieser Vorstellung noch einmal zu beschleunigen.
‚Die letzte Chance?‘
War es das? Würde er heute die letzte Möglichkeit haben, Berger davon zu überzeugen, ihn nicht abzuservieren? Oder war es dafür längst zu spät? Würde er sich heute Nacht seine Absage einholen und damit klarkommen müssen?
Morgen war die Zeugnisübergabe, der Abiball. Am Sonntag könnte Erik zu Alex ins Rush-Inn gehen und wieder von vorne anfangen. Neuer Lebensabschnitt, neuer Kerl – selbst wenn es nur für ein paar Nächte war und der gesuchte Kandidat nicht Berger hieß. Konnte doch nicht so schwer sein. War schließlich nicht so, als ob Erik noch nie mit jemand anderem ausgegangen war.
Im Verlauf der letzten sieben Tage waren ihm zwei Typen über den Weg gelaufen, die mit ihm geschlafen hätten. Keine Beziehung, vermutlich nicht mal ein ernst gemeinter Flirt. Aber unkompliziert zu bekommender Sex. Völlig normal.
Es war ausschließlich Eriks eigene Blödheit gewesen, dass er mit keinem von den beiden geschlafen hatte. Bei Pierre hätte es ein Dreier werden können. Andere Männer träumten da womöglich von. Aber der Gedanke an den frechen Franzosen und seinen kratzbürstigen Freund löste in Erik eher Unbehagen aus. So war er nicht.
‚Verklemmter Idiot.‘
Erik senkte den Kopf und sah aus dem Augenwinkel zu Berger, der sich wiederum auf seinen Platz gesetzt hatte. Der Dreier mit Pierre wäre entweder beschissen peinlich oder verflucht geil geworden. Der Blowjob von dem Franzosen im Spaßbad hätte wenigstens zum Frustabbau getaugt. Die Tatsache, dass er beiden abgesagt hatte, konnte Erik trotzdem nicht bedauern. Warum?
„Mitunter suchen wir Dinge, die wir niemals finden können. Dafür finden wir am Ende aber manchmal etwa anderes. Obwohl wir es nie gesucht haben.“
Womöglich traf das ja auf ihn genauso zu. Ein Lächeln huschte über Eriks Lippen. Er konnte zwar nicht wirklich benennen, was er gesucht hatte. Aber ganz sicher waren irgendwelche dummen Gefühle für den eigenen Lehrer nicht Teil davon gewesen. Schon gar nicht Berger. Den hatte Erik vor einem Dreivierteljahr schließlich noch geradezu verabscheut. Jedenfalls wenn man von dem hübschen Hinterteil absah, das da regelmäßig vor Erik im Unterricht hin und her geschwungen worden war.
Dem verfluchten sexy Badboy war zuzutrauen, dass er das mit voller Absicht gemacht hatte – genauso wie dem fiesen Deutschlehrer. Während der schüchterne Typ, der sich zierte, gerade ganz andere Bilder in Erik heraufbeschwor. Solche, die inzwischen verflucht viele Details zu bieten hatten.
„In zehn Minuten sind wir am Ostbahnhof. Alle, die hier aussteigen, können sich schon mal fertigmachen“, dröhnte die Stimme des Fahrers durch den Bus.
Erik sah aus dem Fenster und tatsächlich befanden sie sich bereits mitten in der Stadt. Er hatte allerdings keine Ahnung, wo der Bus langfahren würde oder wie lange sie um diese Uhrzeit für die Strecke bis zu ihm nach Hause brauchen würden. In jedem Fall waren wohl zumindest für heute die Minuten neben Berger gezählt.
Tatsächlich dauerte es noch gut eine halbe Stunde, bis der Fahrer sich schließlich zum dritten – und somit letzten – Mal damit meldete, dass sie ihr Ziel erreichen würden. Außer Erik und Berger waren erwartungsgemäß nur noch die drei anderen Jungen im Bus, die auch schon bei der Abfahrt diesen Halt gewählt hatten.
Kaum hatte der Fahrer an der Haltestelle gestoppt, sprangen die drei gut gelaunt aus dem Bus. Der zweite Fahrer öffnete derweil die Klappe, damit sie an ihr Gepäck kommen konnten. Da Erik ohnehin erst nach Berger aussteigen konnte, war er nicht gerade in Eile. Die Tatsache, dass Oliver und seine beiden Kumpel sich, sobald sie ihre Taschen hatten, bereits lachend von Herrn Berger bis zum Mittag verabschiedeten, war auch eher angenehm.
Deutlich weniger gut fand Erik das beschissene Schweigen, das ihm selbst entgegenschlug. Berger nahm seine Reisetasche und bedankte sich noch einmal bei den Fahrern. Die grunzten beide einen Dank zurück und waren kurz darauf samt Bus verschwunden.
Somit war prompt genau die Situation da, die Erik in seinen wachen Momenten auf dieser verfluchten Rückfahrt den Verstand hatte rauben wollen. Er stand hier, im flackernden Licht einer offenbar reichlich defekten Straßenlampe, und konnte sich nicht entscheiden, worauf er hoffen sollte. Dass Berger doch endlich den Mund aufmachte, weil er sich entschieden hatte – oder dass er es nicht tat?
„Wir ... sehen uns dann wohl bei der Zeugnisübergabe. Gute ... Nacht. Na ja ... was davon noch übrig ist jedenfalls.“
„Erik ...“, setzte Berger an.
Sofort krampfte sich sein Magen zusammen und Erik verzog das Gesicht. „Sagen Sie es ... einfach nicht“, presste er gequält heraus. „Bitte. Ich will es nicht hören.“
„Die Fahrt ist vorbei“, meinte Berger kaum hörbar. „Sie wollten eine Antwort.“
Das verfluchte Stechen in Eriks Magen wurde stärker, während er hastig den Kopf schüttelte und sich mit der rechten Hand über den Mund fuhr. So hatte er sich das nicht vorgestellt, als er Berger diese Entscheidung überließ.
„Es sollte halt die richtige Antwort sein“, sagte Erik krächzend – darum bemüht, nicht so jämmerlich verweichlicht zu klingen, wie er sich gerade fühlte.
Bergers Lippen verzogen sich. Es war keine gequälte Grimasse, kein hinterhältiges Grinsen. Nein, das war ein ehrliches und trotzdem so verflucht trauriges Lächeln, dass Erik absolut sicher war, wie Bergers Antwort lauten würde.
„Sie haben gesagt, dass ich einer Illusion nachrenne“, meinte Erik schließlich leise. „Aber das sehe ich nicht so. Ich würde Sie gern so viel besser kennenlernen. Trotzdem ... bin ich mir auch jetzt bereits absolut sicher, dass ich der Richtige für Sie sein kann.“
„Warum?“, fragte Berger ebenso flüsternd zurück.
Achselzuckend suchte Erik nach passenden Worten, aber die kamen nicht. Jedenfalls nichts, womit er Berger dieses Gefühl hätte erklären können. Er konnte es sich ja nicht einmal selbst erklären, woher diese Überzeugung wirklich kam.
„Wenn es sowieso nur eine Illusion ist ...“, setzte Erik erneut an und schluckte, als die Worte drohten, ihm im Hals stecken zu bleiben. „Dann lassen Sie mir die noch für einen weiteren Tag. Sagen Sie mir Ihre Antwort, wenn ich nicht mehr Ihr Schüler bin.“
Wieder lächelte Berger und nickte. „Also ... sehen wir uns morgen in der Aula, Erik.“
Das verfluchte Stechen in seinem Inneren wollte einfach nicht aufhören. Dieser beschissenen Antwort hatte Erik für heute ausweichen können. Vielleicht würde ja doch noch irgendein Wunder geschehen. Ein Sturz von der Bühne mit drei Jahren Koma als Folge, nach denen Erik sich an die ausgesprochen peinliche Abschlussfahrt und diese verdammten Emotionen schlichtweg nicht mehr erinnerte. Das klang doch nett.
Also sollte er jetzt gehen. Nach Hause. Sich ausschlafen. Nun ja, zumindest etwas schlafen, denn an ‚ausschlafen‘ war vermutlich nicht zu denken. Immerhin waren es nur mehr zehn Stunden, bis Erik endlich diesen blöden Wisch in den Händen halten würde.
Trotzdem widerstrebte es ihm, Berger hier einfach so stehen zu lassen. Erik wollte nicht gehen – genauso wenig, wie er den verdammten Sturkopf widerstandslos aufgeben wollte.
Ein Blick zur Anzeigetafel an der Bushaltestelle zeigte, dass der nächste Nachtbus in wenigen Minuten eintreffen würde. „Nehmen Sie den?“, fragte Erik verhalten und deutete in Richtung der Haltestelle.
Berger sah kurz hinauf und nickte schweigend.
„Ich warte mit Ihnen.“
„Erik ...“
„Nein“, widersprach er sofort. „Sie haben gesagt, Sie lassen mir meine Illusion. Also ... Auch wenn es albern ist. Ich ... warte mit Ihnen.“
Berger zögerte nicht wirklich, mehr als ein Nicken bekam Erik trotzdem nicht zurück. Und so standen sie am Ende schweigend neben der Haltestelle. Da der Bus pünktlich war, dauerte das wenigstens nicht zu lange. Trotzdem war Erik, als er die Lichter am Ende der Straße sah, nicht sicher, ob er darüber froh sein konnte.
„Gute Nacht“, verabschiedete er sich noch einmal von Berger, während der in Richtung der vorderen Tür ging.
„Ihnen auch, Erik.“
Vermutlich sah er wie der letzte Vollidiot aus, wie er da an der Haltestelle stand und den roten Rücklichtern des Busses nachblickte. Trotzdem kam es Erik irgendwie verflucht endgültig vor.
Als er am Vortag Berger angeboten hatte, ihn in Ruhe zu lassen, wenn der dafür ernsthaft darüber nachdachte, ob er Erik eine Chance geben könnte, war eine Absage nicht wirklich eingeplant gewesen. Schließlich war Erik sich auch weiterhin absolut sicher, dass Berger das Gleiche wollte wie er selbst.
„Naiver Trotter“, murmelte Erik und wandte sich ab. Es war an der Zeit, endlich nach Hause zu gehen.
Erik unterdrückte ein Gähnen, während er das Handy aus der Tasche zog. Inzwischen war es fast ein Uhr. Die Zeugnisübergabe würde um elf beginnen. Mit Frühstück und dem Weg zur Schule würde er heute Nacht zumindest etwas Schlaf bekommen. Während der Fahrt hatte er ja offensichtlich bereits einen Teil der letzten Nacht nachholen können.
„Bis zum Abiball ist auch noch genug Zeit“, sagte Erik sich selbst und stapfte weiter nach Hause.
Der Gedanke an die Feier am folgenden Abend entfachte jedoch schon wieder dieses unangenehme Reißen in seinen Eingeweiden. Vielleicht sollte er nach dem Essen einfach zusammen mit seiner Mutter gehen. Wenn Erik Berger aus dem Weg ging, konnte der ihm nicht sagen, dass es sinnlos war.
„Feigling!“
Verärgert rieb sich Erik die schmerzenden Augen. Dabei hatte er die halbe Fahrt verschlafen. Mal davon abgesehen, dass sie heute nicht wirklich irgendetwas gemacht hatten. Wovon war er schon wieder dermaßen müde?
Erik erreichte das Wohnhaus und schlich leise die Stufen hinauf, bis er schließlich vor der Wohnungstür seiner Mutter stand. Leider waren sie so spät zurück, dass die garantiert schon schlafen würde.
Ein kurzes Lächeln huschte über Eriks Lippen. Es war irgendwie lächerlich, aber ein Teil von ihm wünschte sich, dass sie noch wach wäre und er mit ihr reden könnte. Dabei waren die letzten Jahre zwischen ihnen nicht gerade von sonderlich viel Konversation geprägt gewesen. Außerdem wüsste er nicht, wie er ihr das alles erklären sollte.
Erik schüttelte den Kopf und atmete noch einmal tief durch, bevor er schließlich vorsichtig aufschloss. Er war kein kleines Kind mehr, das wegen jedes Problems zu Mami rennen musste. Zumal sie ihm bei dem hier ohnehin nicht würde helfen können. Das konnte letztendlich niemand. Außer vielleicht Berger – indem er sich gegen jede Vernunft, jeden Anstand und jedes Vorurteil eben doch für Erik entschied.
„Sieht nicht danach aus“, murmelte er, während er leise die Tür hinter sich schloss und die Schuhe von den Füßen streifte.
Dabei war Erik sich sicherer denn je, dass Berger ihn wollte, genauso wie die Beziehung. Und in fünf Jahren würde es keinen Unterschied mehr machen, ob die Küche einen Tisch hatte oder nicht. Der Rest drumherum wäre trotzdem wahr.
Denn dann würde Berger zu ihm gehören. Erik könnte darauf zählen, dass es okay war, sich zu nehmen, was er wollte, wo er wollte, wann er wollte. Genauso wie Berger endlich genug Vertrauen hätte, um zu wissen, dass Erik im Gegenzug alles tun würde, damit der Sturkopf genau das bekam, was er brauchte.
Er schloss die Augen und ehe Erik es sich versah, saß er im Flur auf dem Boden, den Rücken an die Eingangstür gelehnt. Mit angezogenen Knien versuchte er dem verdammten Schmerz in seiner Brust entgegenzuwirken.
„Scheiße ...“, flüsterte er heiser. „Das ist nicht fair.“
„Erik?“
Erschrocken zuckte er zusammen und sah auf. Seine Mutter stand im Nachthemd vor ihm. Mit einer Mischung aus Sorge und Überraschung sah sie zu ihm herunter. Um sie nicht weiter zu beunruhigen, lächelte er gequält und versuchte eine eigene Begrüßung herauszuquetschen. Aber kaum hatte er den Mund geöffnet, fühlte sich sein Hals an, als würden sich die Worte darin zu einem festen Kloß zusammenballen.
„Alles okay, mein Junge?“
Erik versuchte ‚Ja‘ zu sagen, sie zu beruhigen. Sie konnte doch ohnehin nichts machen. Letztendlich war es seine eigene Schuld. Er hatte sich die ganze verdammte Woche eingeredet, dass es nur an Bergers Sturheit lag. Dass der schlichtweg nachgeben musste, und alles wäre okay.
Aber so einfach war es eben nicht. Vielleicht war das ja Eriks Strafe für den ganzen Scheiß, den er über Berger im Verlauf des letzten Jahres gedacht hatte. Ein Wink des Schicksals, der ihm den Tritt in die Eier verpasste, den Berger selbst Erik bisher erspart hatte.
Seine Mutter trat inzwischen auf ihn zu. Die Sorge war immer deutlicher in ihrem Gesicht zu erkennen.
„Erik! Sag doch was.“
„Schon gut, Mama“, brachte er schließlich trotz des verdammten Kloßes hinaus. „Es ... war nur eine anstrengende Fahrt.“
„Bist du sicher?“, fragte sie besorgt nach.
Erik nickte. „Ja. Ich ... brauche nur etwas Schlaf.“ Er drückte sich hoch und gab ihr, nachdem sie beide standen, einen Kuss auf die Wange. „Es ist gut, wieder daheim zu sein, Ma.“
Er hob die Reisetasche vom Boden auf und setzte dazu an, in sein Zimmer zu verschwinden. Da ergriff Eriks Mutter seinen Arm und zog ihn noch einmal zu sich herum. „Wenn ... irgendetwas passiert ist ... Du kannst über alles mit mir reden. Okay?“
Der Kloß in seinem Hals wurde prompt kleiner – obwohl Erik sich verflucht sicher war, dass er garantiert nicht über alles mit seiner Mutter sprechen könnte oder gar würde. Aber es war trotzdem ein gutes Gefühl, dass sie zumindest dafür bereit war.
In den letzten Jahren war Erik oft allein gewesen. Dennoch hatte er sich nie einsam gefühlt. Andere Menschen hatte er nie gebraucht. Aber jetzt war da dieser eine Mann, dieser unmögliche Kerl, den er weder begreifen noch erfassen konnte. Trotzdem hatte Erik ausgerechnet bei Berger das Gefühl, als würde er diesen eben doch brauchen.
„Mama?“, setzte er zögerlich an, nur um prompt abzubrechen. Erik lächelte und schüttelte den Kopf. „Nein, schon gut. Es ... ist mitten in der Nacht. Wir sollten schlafen gehen.“
Sie runzelte weiterhin besorgt die Stirn. Die Art und Weise, wie seine Mutter ihre Unterlippe malträtierte, kannte Erik gut genug aus der Zeit mit seinem Vater. Unsicherheit, ob sie wirklich etwas sagen sollte, wollte, durfte. Der Anblick stach ihm schon wieder in den Magen. Dabei war der für heute Nacht doch bereits genug gequält worden.
„Schon gut, Mama. Es ist ... okay.“
War es nicht, aber seine Worte schienen sie dennoch zu beruhigen. Heute Nacht würde Erik ohnehin nichts erreichen. Immerhin hatte er vorerst Berger davon abgehalten, ihm diese beschissene Abfuhr zu erteilen.
Es mochte albern und erst recht illusorisch erscheinen. Aber es blieb weiterhin der Abend des Abiballs. Achselzuckend lächelte Erik seine Mutter an, während der Kloß in seinem Hals stetig kleiner wurde.
„Es ist noch nicht vorbei.“