62 – Aufrichtige Lügen
Erst jetzt bemerkte Erik, dass sein Atem sich immer weiter beschleunigte. Bergers Zögern hielt jedoch nicht lange an. Er öffnete die letzten zwei Knöpfe des Hemdes und zog es schließlich mit einem Ruck von den Schultern. Kurz danach landete es irgendwo in der Nähe des Bettes. Erik hatte leider keinerlei Hirnzellen frei, um genauer darauf zu achten.
‚Tatsächlich kein Tattoo‘, war das Erste, was Erik denken konnte.
Seine Augen hingen an dem breiten, gezackten Streifen, der sich von der linken Schulter abwärts bis zur rechten Hüfte zog. Kaum war Eriks Blick diesem gefolgt, wurde er von einem weiteren Streifen eingefangen, der diesmal quer über den Bauch verlief.
Bergers Linke kam hoch und sein Daumen strich die lange Narbe von der Brust abwärts entlang.
„Enttäuscht?“, fragte Berger mit kühler Stimme.
„Was ...“, setzte Erik an, kam aber nicht weiter, da ihm die Worte im Hals stecken blieben.
Statt zu antworten, rieb Bergers Rechte inzwischen über den hellen Streifen Haut am linken Arm, wo sich die letzten Tage das Armband befunden hatte. Erst jetzt wurde Erik bewusst, dass es fehlte. Warum?
„Es fühlt sich immer an wie eine Fessel“, murmelte Berger, als hätte er Eriks Gedanken dazu erraten.
Mit gesenktem Kopf presste er die Hand an seine nackte Brust. Für einen Moment zögerte er, dann drehte Berger sich langsam um und lief zu dem Hemd, das neben dem Bett auf dem Boden gelandet war. Er beugte sich herunter und hob es auf – nur um es anschließend aufs Bett fallen zu lassen.
Erik konnte das überraschte Keuchen nicht unterdrücken, als er diesmal einen Blick auf den Rücken werfen konnte, den er sich bisher nur allzu oft vorgestellt hatte. Allerdings nicht in diesem Kontext. Und definitiv in einem gänzlich anderen Zustand. Verteilt über das rechte Schulterblatt bis etwa zur Hälfte des Rückens hinunter zog sich ein feines, spinnennetzartiges Muster aus dünnen, sich immer wieder überschneidenden Narben.
Damit war das Flattern in Eriks Innerem endgültig verschwunden. Stattdessen schienen seine Eingeweide förmlich implodieren zu wollen. Alles in ihm zog sich zusammen. Es war ja klar gewesen, dass der Kerl irgendetwas unter den Hemden versteckt hatte. Und ja, den einen oder anderen Gedanken in die Richtung, dass es eine Operationsnarbe war, hatte Erik gehabt. Aber das hier war eine ganz andere Hausnummer.
„Für manche gehört das zum Überleben dazu“, hörte er Bergers Stimme in seinem Kopf. „Sie haben keine Ahnung, was Angst wirklich ist.“
Während Erik sehr genau wusste, wann ihm den zweiten Satz vor die Füße geworfen worden war, konnte er sich an den ersten nicht erinnern. Wenn Berger ihn tatsächlich schon einmal gesagt hatte, musste das in der Montagnacht gewesen sein, an die Erik sich noch immer nicht erinnerte. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde ihm jedoch klarer, dass all diese Worte, von denen Erik geglaubt hatte, sie sollten ihn nur beruhigen und hinhalten, tatsächlich Teil der Wahrheit waren.
„Wer hat Ihnen das angetan?“
Kaum waren die Worte raus, konnte Erik ein Brodeln in sich spüren, das nach Vergeltung verlangte. Rache für etwas, das er weder verursacht hatte, noch jemals hatte verhindern können. Und trotzdem konnte Erik an nichts anderes denken, als dass er niemals zulassen würde, dass sich etwas in der Art wiederholte. Ruckartig drehte Berger sich herum und trat wieder auf Erik zu. Die Tortur im Bauch verstärkte sich gegen seinen Willen erneut.
„Angetan?“, fragte Berger mit einem humorlosen Lachen zurück. „Es sind ewigwährende Erinnerungen an die einzigen drei Menschen, die mir einst etwas bedeutet haben.“
Berger fuhr sich durch die Haare. Das Auflachen war falsch und bar jeder Fröhlichkeit. Dafür stach es Erik erneut in die Eingeweide. Er versuchte, zu verstehen, was das heißen sollte.
„Das ist es doch, was Sie sehen wollten, oder? Die ... Wahrheit.“ Bergers Linke fuhr diesmal über die Narbe am Bauch. Die Verbitterung in seiner Stimme war greifbar, schmerzhaft. „Verstehen Sie es endlich? Ihre Vorstellung von mir ist eine Illusion. Genauso wie Hannas Idee, dass sie das hier jemals lieben könnte. Naive, kindische Wunschträume, die an der Realität nur zerbrechen können.“
Es fühlte sich an, als wäre sein Hirn nicht einmal beteiligt, als Eriks Mund wie automatisch zu antworten schien: „Ich bin nicht Hanna.“
Berger lächelte gequält und trat vor, bis er direkt vor Erik stand. Sie waren sich so nah, dass er sich einbildete, er könnte die Wärme, die von dem nackten Oberkörper ausging, spüren. Berger neigte den Kopf zur Seite, streckte sich, sodass sein Mund nur noch wenige Zentimeter von Eriks entfernt war.
„Nein, sind Sie nicht“, flüsterte Berger. „Sie ... sind viel gefährlicher. Herr Hoffmann.“
Überrascht zuckte Erik zurück. „Wie meinen Sie das?“, fragte er zunehmend verunsichert. Er könnte niemandem so etwas antun und schon gar nicht Berger. Nicht mehr. Nicht so. Nicht das.
Dessen Lächeln wurde breiter, ehrlicher, während Berger die rechte Hand hob und sie ein weiteres Mal auf Eriks Brust legte. Mit sanftem, aber bestimmten Druck schob Berger ihn rückwärts in Richtung Zimmertür.
„Sie bringen mich in Versuchung ... daran zu glauben“, antwortete er, nachdem Erik schließlich im Flur stand.
Ein Hochgefühl schien in Erik zu explodieren und dabei den Knoten in seinen Eingeweiden aufzulösen. Aber im gleichen Augenblick hob Berger die linke Hand und griff nach der Türkante. Mit geweiteten Augen starrte Erik auf die breite weiße Linie und die acht kleinen Punkte – jeweils vier auf jeder Seite.
„Sagen Sie, dass das Arschloch tot ist“, zischte Erik mit gepresster Stimme das Erste, was ihm in den Sinn kam. Seine Augen hingen weiterhin an der verdammten Narbe.
„Wie bitte?“
„Sagen Sie mir, dass die Kerle, die Ihnen diesen Scheiß angetan haben, unter der Erde liegen. Andernfalls bin ich versucht, jeden Einzelnen davon zu finden und nachzuhelfen.“
Für einen Augenblick sah Berger irritiert aus, hatte sich aber nur wenige Sekunden später wieder unter Kontrolle. Das verdammte Grinsen war alles andere als freundlich, sondern genauso falsch wie jedes Lächeln, das Berger Hanna und den übrigen Mädchen permanent zu schenken schien.
„Da ist niemand“, meinte Berger schließlich. „Ich bin für jede dieser Erinnerungen verantwortlich. Versuchung ist ein Biest, Herr Hoffmann. Eine Illusion von Liebe, die nur in Qualen enden wird. Wenn man ihr erliegt, kann man nur verlieren. Und genau deshalb ist es besser, dass Sie sich von mir fernhalten. Ich habe keinen Platz mehr für weitere Narben. Und ich bin es leid, die Illusion zu jagen.“
Bevor Erik reagieren konnte, wurde die Tür vor seiner Nase zugeschlagen. Wie erstarrt stand er davor, die Augen weiterhin auf die Stelle fixiert, an der eben noch Bergers Hand das Türblatt festgehalten hatte. Es war falsch. Wie ein Suchbild aus Kindertagen, in denen man die fünf Dinge finden sollte, die nicht der Realität entsprechen konnten. Und in diesem Fall war die Narbe an Bergers linkem Handgelenk eines davon.
Erst nachdem er ein dumpfes Geräusch aus dem Inneren des Zimmers hörte, erwachte Erik aus der Schockstarre. Blinzelnd kämpfte er darum, sich zu orientieren. Er stand im Flur, direkt vor der Tür zu Bergers Zimmer. Hinter ihm lagen der Rucksack und die durchnässte Jacke. Eriks eigenes, ebenso nasses Shirt fühlte sich mit einem Mal zehn Grad kälter an. Trotzdem war das wohl kaum der Grund für das Zittern, das durch seinen Körper lief.
„Es ist nicht wahr“, flüsterte Erik heiser die Worte, die sich, immer lauter werdend, in seinem Kopf wiederholten.
Eriks Hand sauste erneut auf das Türblatt zu, doch kurz bevor sie dagegen schlug, stoppte er sich. Ein Keuchen entkam ihm, während er mit weit aufgerissenen Augen weiterhin auf die Tür starrte. Selbst wenn ein Teil davon keine Lüge war, die Wahrheit sagte Berger ihm dennoch nicht.
‚Ein verzweifelter Versuch, dich dazu zu bringen, aufzugeben.‘
Unter normalen Umständen hätte Erik niemals zugegeben, dass seine Hand tatsächlich zitterte, während er sie auf die Türklinke legte. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete tief durch. Als er vorhin das Zimmer betreten hatte, war das eine Sache gewesen, aber eben hatte Berger ihn förmlich rausgeschmissen. Sich dem zu widersetzen war ganz sicher nicht mehr im Bereich von ‚anständig‘.
„Scheiß drauf“, zischte Erik und drückte die Klinke nach unten.
Mit einem Ruck schob er die Tür auf und trat ein. Ehe seine Vernunft einsetzen und ihn davon abhalten konnte, schloss er sie hastig hinter sich und ließ sich mit dem Rücken dagegen fallen. Mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen kämpfte Erik darum, sein weiterhin hämmerndes Herz und den stoßweisen Atem unter Kontrolle zu bringen.
„Wann geben Sie endlich auf?“, murmelte Berger mit einem Seufzen aus Richtung des Bettes.
Als Erik die Augen öffnete und vorsichtig hinübersah, konnte er jedoch nur Bergers Rücken sehen. Sein Blick wanderte über das zarte, netzartige Muster. Für eine Sekunde war da der Gedanke, dass es wie aufgemalt aufsah. Ein Kunstwerk. Doch gleichzeitig war sich Erik sicher, dass Berger nicht darum gebeten hatte. Jemand hatte es dem Mann aufgezwungen.
Wut brodelte in Erik hoch. Zwar hatte er keine wirkliche Idee, wie diese Narben zustande gekommen waren, die Vorstellung, dass es jemand gewesen war, der Berger etwas bedeutet hatte, jagte Erik jedoch einen kalten Schauer über den Rücken.
Was war das für ein Name gewesen, den er während des belauschten Telefonats mit Frau Fink gehört hatte?
‚Timo?‘
Aber Berger hatte von drei Menschen gesprochen. Erik musste sich zwingen, die Augen von dem Anblick abzuwenden. Anstatt sich etwas Unverfängliches zu suchen, wanderten sie jedoch wie automatisch zu Bergers linkem Arm. Der hing, genauso wie der andere, schlaff an Bergers Seite. Jetzt, wo Erik wusste, was die Hemden und das Armband verborgen hatten, schien die helle Farbe am Handgelenk nur umso deutlicher hervorzustechen.
„Egal, was Sie sagen ... Sie wollen nicht wirklich, dass ich aufgebe“, entgegnete Erik schließlich ruhig.
Langsam drehte Berger sich herum, blieb aber vor dem Bett stehen. Sein Blick war ausdruckslos und für einen Moment war Erik sich nicht sicher, ob er sich irrte. Je länger er Berger ansah, desto stärker wurde allerdings wieder einmal das Gefühl, als würde der Dickkopf nur darauf warten, dass Erik endlich aufhörte sich zurückzuhalten.
„Hoffnung ist gefährlich“, murmelte Berger und rieb mit dem Daumen seiner rechten Hand über die Narbe am anderen Handgelenk. „Genauso wie Liebe. Mitunter wird sie zu viel. Viel zu viel. Und dann endet es in Schmerzen. Für alle.“
Die eigene Stimme kam Erik genauso tonlos vor wie die Bergers, als er den Kopf hob und antwortete: „Das da hat nichts mit Liebe zu tun. Und Sie haben sich das nicht selbst angetan, also hören Sie auf mir etwas vorzuspielen.“
Berger blinzelte kurz, wirkte irritiert. Fast so, als müsse er sich zwingen, aus den Erinnerungen in die Gegenwart zurückzukehren. Für einen kurzen Moment sah er Erik in die Augen, wandte sich aber prompt ab, als der dem Blick standhielt.
„Akzeptieren Sie die Tatsachen, Herr Hoffmann.“ Berger verzog das Gesicht und hielt seinen linken Arm nach vorn. „Ich bin für das hier verantwortlich.“ Mit der rechten Hand fuhr er über die Narbe an seinem Bauch. „Und das hier. Genauso wie für den Rest.“
‚Lügner!‘
Eriks Kiefer schmerzte, als er die Zähne zusammenpresste. Seine Hände ballten sich zu Fäusten. Wieso versuchte der Sturkopf weiterhin, ihm diesen Schwachsinn vorzumachen, wenn es doch offensichtlich nicht die Wahrheit sein konnte. Das Brodeln in Erik wurde stärker, der Druck in seiner Brust stieg an. Es war falsch. Alles.
„Sehen Sie endlich ein, dass Sie einer Wunschvorstellung nachrennen, die nichts mit der Realität zu tun hat!“
Eriks Verstand musste für ein bis drei Sekunden ausgesetzt haben. Denn im nächsten Moment stand er nicht mehr mit dem Rücken an der Zimmertür, sondern kniete halb auf dem viel zu kleinen Bett. Unter ihm der überraschte, aber noch immer nicht ängstliche Blick in den grünen Augen des Mannes, der eigentlich nicht mehr als ein verfluchter Lehrer sein sollte.
„Sie haben das nicht getan“, zischte Erik – erneut bemüht, die Wut im Zaum zu halten.
Unter seinen Händen konnte er nicht nur die Wärme von Bergers Haut spüren, sondern ebenso die Anspannung in dessen Körper. Aber da war weiterhin keine Angst, die Erik entgegenblickte. Und auch das wiederum war falsch. Denn wenn irgendjemand so grausam zu Berger gewesen war, sollte der sich nicht in Grund und Boden fürchten, sobald jemand dermaßen überraschend über ihm kniete?
Für einen Moment zweifelte Erik an sich selbst, aber es war sowieso zu spät, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Sein Atem kam stoßweise, während das Chaos im Kopf ganz allmählich zu einer Ordnung fand.
„Wollen Sie jetzt doch fallen, Herr Hoffmann?“
Erik schloss die Augen, kämpfte weiterhin darum, Atem, Herzschlag und Gedanken irgendwie unter Kontrolle zu bekommen. Als er wieder zu Berger sah, wirkte der absolut ruhig. Noch immer kein Zeichen von Angst. Das Brodeln ebbte ab, machte einem anderen Schmerz Platz, der sich durch Eriks Bauch hindurch, die Wirbelsäule entlang zu ziehen schien.
„Denken Sie wirklich, dass mich ein paar Narben abschrecken?“, fragte er, anstatt auf Bergers Frage zu antworten. „Ist es das, was Sie glauben? Dass Sie nicht mehr für jemanden sein können als ein ... ansprechender Körper? Oder liegt es an mir? Wegen diesem ... Müll, den ich Ihnen vorgesetzt habe?“
Das beschissene Schweigen hielt an, drehte Erik immer heftiger den Magen um. Aber der Schmerz konnte den Zorn nicht verdrängen. Die Wut auf einen Unbekannten, von dem er noch weniger wusste als von Berger selbst.
„Ich glaube Ihnen das nicht“, flüsterte Erik schließlich. „Es ist nur eine weitere Fassade. Hören Sie endlich auf, sich vor mir zu verstecken.“
Bergers Augen unter ihm weiteten sich für einen Moment, bevor sie zu ihrem gewohnt kühlen Ausdruck zurückkehrten.
„Hören Sie auf, vor mir wegzulaufen.“
„Sie irren sich“, gab Berger zurück. „Sehen Sie hin. Das hier bin ich.“
Auch wenn der Sturkopf versuchte, es zu verstecken, seine Stimme zitterte. ‚Eine weitere Lüge‘, zuckte Erik prompt durch den Kopf.
„Nein, sind Sie nicht“, gab er lächelnd zurück. „Und diese Fahrt ist noch nicht vorbei. So einfach lasse ich Sie nicht davonkommen. Wenn Sie mich loswerden wollen, machen Sie es richtig. Treten Sie mir in die Eier, sagen Sie mir, ich soll mich verpissen.“
Berger runzelte die Stirn, antwortete ein weiteres Mal nicht. Brauchte er allerdings auch nicht, denn das Schweigen sagte Erik genug. Zumindest bildete er sich das ein.
‚Es ist das Risiko wert, dass du falschliegst.‘
Langsam beugte Erik sich runter. Seine Hände drückten Berger Schulter fester auf die Matratze, als sich Eriks Gewicht nach vorn verlagerte. An den Kuss, der ihn seit Wochen beschäftigt hatte, dachte er in diesem Augenblick zur Abwechslung überhaupt nicht. Stattdessen senkte Erik den Kopf neben Bergers, bis sein Mund an dessen Ohr war.
„Sie sagen immer, dass ich nichts über Sie weiß“, raunte Erik mit einem Lächeln auf den Lippen. „Aber das stimmt nicht. Denn eines weiß ich ganz sicher ... Sie haben sich nicht die Pulsader aufgeschnitten. Und wenn das Arschloch, das es getan hat, noch atmet, wird der Kerl das irgendwann bereuen.“
Erik konnte förmlich fühlen, wie ein Schauer sich durch Bergers Körper arbeitete. Dessen Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen, während er seinerseits fragte: „Woher?“
Das Grinsen konnte Erik sich nicht verkneifen, obwohl Berger es nicht sehen konnte. Für einen Sekundenbruchteil gab er der Versuchung nach. Seine Lippen berührten Bergers Ohr. Der geradezu winzige Kontakt jagte wie ein Blitz durch Eriks Körper, sodass er die Augen schließen und kurz durchatmen musste.
„Sie ist am falschen Arm“, flüsterte Erik mit einem zufriedenen Seufzen.
Der Kampf gegen die Versuchung wurde zunehmend schwerer. Um ihr wenigstens ansatzweise entgegenzuwirken, stemmte Erik sich wieder weiter nach oben und sah Berger in die Augen.
„Sie sind Linkshänder.“
Es hatte etwas merkwürdig Komisches, wie die Gesichtszüge dieses offenbar unbelehrbaren Sturkopfes für einen Moment ihren Platz völlig zu verlieren schienen. Womöglich hätte die Verwunderung, die in den grünen Augen lag, Erik verletzten sollen – ihm einen Stich verpassen, weil der Mann ihm nicht einmal zutraute, die Zusammenhänge herzustellen. Dabei war das ja wohl mehr als offensichtlich.
Erik ließ Berger los. Ein Knie auf dem Bett, den anderen Fuß auf dem Boden, war nicht gerade eine sonderlich bequeme Position. Aber die Alternativen wären gewesen, Berger gehen zu lassen oder schon wieder auf dessen Schoß zu sitzen. Beides erschien im Augenblick ‚falsch‘.
‚Als ob hier noch irgendetwas gerade in den richtigen Bahnen verlaufen würde.‘
Erik musste kurz lachen und schüttelte den Kopf, als er die Verwirrung in Bergers Gesicht sah. Seine Augen folgten der Spur, die sich quer über die Brust unter ihm zog. Erik kannte sich mit Narben nur bedingt aus, hatte allerdings bei den alten Leuten im Heim seiner Mutter oft genug welche gesehen. Die hier sah nicht frisch aus, war sicherlich bereits ein paar Jahre alt.
„Die ist ebenfalls verkehrt herum“, murmelte Erik, während sein Blick von Bergers linker Schulter zu dessen rechter Hüfte wanderte. „Wer auch immer das getan hat. Sie waren es nicht.“
„Das bedeutet nicht, dass ich nicht trotzdem ... daran schuld bin.“
Erik seufzte und rieb sich über die Augen. „Sie können nicht für jedes kranke Arschloch die Verantwortung übernehmen“, gab er müde zurück. „Irgendein Mistkerl hat Ihnen das da angetan. Aber das war nicht ich. Und ich bin auch nicht so. Ich bin nicht Werther, der im Wahn zur Waffe greift.“
Berger zögerte einen Moment, bevor er antwortete: „Sie können nicht wissen, was passiert, sollten Sie doch fallen.“
„Nein, weiß ich nicht“, gab Erik prompt zurück. Er atmete noch einmal tief durch und stand schließlich auf. Ohne den Blick von Berger zu nehmen, trat er rückwärts zwei Schritte vom Bett weg. „Aber ich habe nicht vor, blinden Auges in den Abgrund zu stürzen.“
Langsam richtete Berger sich auf, bis er auf der Bettkante saß. „Das ist nicht einfach nur eine Frage des Willens.“
„Ach ja?“
„Ja.“
Erik lächelte. „Und trotzdem sagen Sie, dass Sie bereits dort sind. In der Dunkelheit Ihres Abgrundes.“
Ein weiteres Mal war da Überraschung auf Bergers Gesicht. Wie schon zuvor, war dessen Kontrolle aber beinahe umgehend zurück. Ein kurzes Kribbeln wanderte an Eriks Wirbelsäule hinab, als ihm klar wurde, dass er in den letzten paar Minuten dem Mann vermutlich mehr Reaktionen hatte entlocken können als im gesamten verdammten Schuljahr zuvor.
„Das da“, dabei deutete Erik auf Bergers Brust, „schreckt mich nicht ab. Es lässt mich lediglich den Kerl hassen, der es getan hat, weil er mir offenbar meine Chancen versaut.“
Schon stand Berger auf und setzte zu einer Erwiderung an, aber Erik hob die Hand und stoppte ihn damit.
„Sie haben es selbst gesagt ... ich bin gefährlicher als Hanna. Also entweder Sie erteilen mir endlich eine klare Abfuhr, oder Sie leben damit, dass ich nicht einfach weggehen werde.“
Berger verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn zunächst mit einer Mischung aus Misstrauen und Unglaube an, bevor er irgendwann antwortete: „Sie sollten gehen. Es ist spät und ... Es ist immer noch ... unangemessen, wenn Sie hier sind.“
Erik lächelte und nickte. „Gute Nacht ... Herr Berger“, sagte er und drehte sich anschließend um. Auch wenn es ihm widerstrebte, das Zimmer zu verlassen. Den Mann weiter zu bedrängen, würde erfahrungsgemäß nirgendwo hinführen. Erik hatte, was er wollte. Die direkte Ablehnung war ausgeblieben.
Es war kein Hirngespinst, keine Illusion. Berger konnte die Narbe an seinem Handgelenk mit den langen Hemden oder diesem komischen Armband verstecken – und die übrigen unter dem verdammten Badeshirt. Aber das würde Erik nicht abschrecken. Nicht mehr. Im Gegenteil.
Noch zwei Tage, bevor sie wieder zu Hause wären. Achtundvierzig Stunden, um etwas zu finden, das Berger überzeugen würde, diesem ... was auch immer das zwischen ihnen sein konnte, eine Chance zu geben.
‚Es ist noch nicht vorbei.‘