80 – Mahnende Worte
Sie erreichten den Eingang und betraten das Restaurant. Kaum war Berger vom Rest des Kurses entdeckt worden, lotsten ihn bereits die ersten Schülerinnen an einen der großen Tische. Unsicher sah Erik der Gruppe einen Moment hinterher. Alles in ihm drängte danach, zumindest an Bergers Seite zu bleiben. Als seine Augen jedoch ein Stück weiter nach links wanderten, sah er dort Frau Farin, wie sie ihn finster anstarrte.
Damit war zunächst die Toilette endgültig zu Eriks nächstem Ziel erklärt.
Etwa dreißig Minuten später saß er im Restaurant – erstaunlicherweise zusammen mit einigen seiner Mitschüler. Nicht, dass irgendjemand am Tisch sich um diese Tatsache geschert hätte. Eriks Blick hing die ganze Zeit an Berger, der etwa zehn Meter entfernt ungefähr genauso mies gelaunt saß wie Erik hier. Wenigstens war die Stimmung am Tisch von Frau Farin nicht besser. Leider hatte die ebenso einen ausgesprochen guten Blick zu ihm herüber, obwohl Erik es darauf bei der Platzwahl wahrhaftig nicht angelegt hatte.
Aber nachdem er von der Toilette zurückgekommen war, war ihm beim Anblick der munter schnatternden Truppe seiner Mitreisenden klar geworden, was Berger gemeint hatte. Wenn Erik dem Mann weiterhin derartig an die Hacken klebte, würde das nur zu noch mehr Problemen führen. Im Bus brauchte er Berger nicht von der Seite weichen, zumal das ohnehin nicht wirklich möglich war. Aber hier, auf dem Rasthof, war es ratsam, Frau Farin nicht bewusst weiter zu provozieren.
Und letztendlich war das der einzige Grund, warum Erik, trotz des absolut nicht vorhandenen Appetits weiterhin hier saß. Das Geld für den Fast Foodfraß hatte er sich so wenigstens gespart. Einen Kaffee hatte Erik sich gegönnt. Weniger, um damit tatsächlich wach zu werden, als vielmehr, um nicht noch bescheuerter auszusehen, während er darauf wartete, dass es endlich weiterging.
Das Gespräch der anderen am Tisch verfolgte Erik natürlich nicht. Weshalb ihn das plötzliche laute Lachen etwas überraschend aus seinen Gedanken riss. Irritiert sah er sich zwischen den anderen am Tisch um, konnte aber nicht ausmachen, worüber sie sich unterhalten hatten. Wenn Erik nicht sicher gewusst hätte, dass er mit diesen Typen die letzten Jahre zusammen zur Schule gegangen war, hätten es genauso gut Fremde sein können. Da war kein Gefühl von Vertrautheit.
Erik runzelte die Stirn und sah erneut zu dem Tisch hinüber, an dem Berger saß. Um den herum waren lauter Mädchen.
‚Frauen‘, korrigierte Erik sich gedanklich selbst. Immerhin wollte er von Berger auch nicht mehr als Kind gesehen werden.
Am anderen Tisch waren offenbar gelaunte Gespräche im Gang. Obwohl Berger selbst sich nicht wirklich zu beteiligen schien, war immer wieder ein verhaltenes Lächeln auf seinen Lippen zu sehen. Jedes einzelne stach Erik wie eine Pfeilspitze in den Bauch.
Wahrscheinlich stieß das Geplänkel da drüben der Farin nicht sauer auf. Bei denen war das offenbar okay. Mit zusammengebissenen Zähnen senkte Erik den Kopf und drehte ihn leicht zur Seite, bis er Hanna an einem der anderen Tische entdeckte. Sie saß mit dem Rücken zu Berger. Auch von Eriks Platz aus war ihr Gesicht nicht zu sehen.
Bei der Farin standen sie beide auf dem gleichen Level. Zwei beschissene Kinder, die versuchten sich an ihren Lehrer ranzumachen. Hastig drehte Erik den Kopf zurück und starrte auf seine Kaffeetasse. War er am Ende also in den Augen der anderen genauso wie Hanna?
Vorsichtig hob er den Kopf ein weiteres Mal, sah diesmal zu Berger. Der saß in sich zusammengesunken da. Dass Erik vor ein paar Tagen bei dem Kerl auf dem Schoß gesessen hatte, war vermutlich sehr weit weg von einem professionellen Abstand gewesen. Genauso wie all die Gelegenheiten, bei denen Erik Berger gegen die verdammte Wand im Flur ihrer Hütte gepresst hatte, ihr Gespräch in der Gasse am Vortag oder die letzte Nacht am Strand.
‚Ging alles von dir aus.‘
Sollte die Farin deshalb weiter irgendwelche dummen Gerüchte verbreiten, würde das aber wohl niemanden mehr interessieren. Wenn man Berger einen Strick draus drehen wollte, wäre das vermutlich ein Leichtes.
Ein Brennen schlich sich aus Richtung Magen Eriks Speiseröhre hinauf. Vor einigen Monaten hatte er selbst noch darüber nachgedacht, wie er Berger genau so einen Scheiß anhängen könnte. Die Erinnerung daran, dass er tatsächlich einst mit dem Gedanken gespielt hatte, den Mann auf genau so eine beschissene und hinterhältige Art und Weise ins Messer laufen zu lassen, drehte Erik den Magen um.
Heftig genug, dass da mit einem Mal nicht nur das Sodbrennen die Speiseröhre hinaufkroch. Hastig sprang Erik auf und stolperte in Richtung der Geschirrrückgabe. Kaum stand die Kaffeetasse auf einem der Tabletts, stürzte er weiter zu den Toiletten. Je mehr Erik versuchte, die Bilder zu verdrängen, desto präsenter schienen sie zu werden.
Nachdem er aber schließlich in einer der Klokabinen stand, kam nicht mehr als ein trockener Husten aus Erik heraus. Das Ziehen und Quetschen drückte ihm weiterhin den Magen ab, aber das wenige, was sich darin befand, wollte glücklicherweise nicht den Weg zurück ans Licht nehmen. Ächzend lehnte Erik sich schließlich gegen die Tür und schloss die Augen.
„Scheiße“, flüsterte er gebrochen.
Wie hatte er so ein Arschloch sein können? Und was noch viel wichtiger war: Wie konnte er erwarten, dass Berger sich trotzdem jemals für ihn entscheiden würde? Nach allem, was Erik dem Mann in seinen Aufsätzen vorgesetzt hatte, war es ohnehin ein Wunder, dass der Kerl ihn nicht schon längst aufgegeben hatte.
Es dauerte weitere fünf Minuten, bis sich Eriks Magen einigermaßen beruhigt hatte. Erst nachdem er einige seiner Mitschüler vor der Kabinentür lachen hörte, schaffte Erik es, sich zusammenzureißen. Um wenigstens den Schein zu waren, spülte er und trat wortlos aus der Kabine.
Ob die Jungs an den Pissoirs ihn bemerkten, hätte er nicht sagen können. Sein Blick blieb stur nach unten gerichtet, während er sich die Hände wusch, und Erik hob ihn genauso wenig, als er wieder die Toilette verließ.
Den Blick in den Restaurantteil sparte er sich ebenfalls. Berger lächelnd zwischen den Weibern zu sehen konnte er im Augenblick nicht ertragen. Genau genommen hatte Erik das Gefühl, im Moment rein gar nichts ertragen zu können. Außer vielleicht ein nettes Gespräch mit einem gewissen Lehrer. Nach Möglichkeit eines, bei dem der Erik freudestrahlend sagte, dass er sich entschieden hatte, wenigstens einmal mit ihm auszugehen.
Aber je länger er darauf hoffte, desto unrealistischer schien diese Möglichkeit zu werden. Das Einzige, was Eriks Hoffnung bis dato aufrecht erhielt, war die Tatsache, dass Berger ihm bisher nicht klipp und klar abgesagt hatte. Die Sorge, dass genau das spätestens morgen der Fall sein würde, wurde aber stetig größer. Womöglich zögerte Berger es ja nur hinaus. Denn wenn sie nach dem Abiball getrennte Wege gingen, konnte Erik ihn zumindest nicht mehr einfach aufspüren und bedrängen.
Wobei der Gedanke allein schon wieder die Übelkeit heraufbeschwor. Auf Hannas Niveau würde er sich sicherlich nicht hinablassen. Er war kein Stalker. Wenn Berger ihn nicht wollte, würde Erik das akzeptieren. Das sollte der Sturkopf ihm allerdings gefälligst ins Gesicht sagen.
‚Er will dich aber genauso.‘
Erik biss sich auf die Lippe und stapfte nach draußen. Frische Luft würde womöglich helfen, den verfluchten Quälgeist zur Ruhe zu bringen.
Außerhalb des Restaurants sah Erik sich zunächst um. Eine Gruppe aus seinem Kurs stand unweit entfernt. Sie schienen sich gut gelaunt zu unterhalten. Zum ersten Mal fiel Erik auf, dass einige von ihnen rauchten. Wie automatisch ließ er seinen Blick erneut über die Gesichter wandern, aber Berger war erwartungsgemäß nicht dort. Vermutlich saß der noch immer mit den Frauen drinnen im Restaurant und starrte ebenfalls auf eine Tasse Kaffee.
Die Ablenkung reichte, um Eriks Magen zu beruhigen. Deshalb beschloss er, beim Bus zu warten. Dort hatte er wenigstens seine Ruhe. Vielleicht würden die Fahrer ja deutlich eher als der Rest der Meute auftauchen, sodass er es sich drinnen bequem machen konnte. Wobei das Wort in Eriks Fall weiterhin mehr im übertragenen als wörtlichen Sinne anzuwenden war. Denn sonderlich ‚bequem‘ war da nichts in diesem Bus.
Wie nicht anders zu erwarten, hatte er jedoch kein Glück. Wäre ja auch etwas ganz Neues auf dieser Fahrt. Die Fahrer waren nicht da. Sonst allerdings ebenfalls niemand.
Ein Blick auf das Handy zeigte Erik, dass es gut zwanzig Minuten bis zur Abfahrt waren. Er hob die Hand über die Augen und sah zum Himmel. Der Sommer meinte es heute zwar gut mit ihnen, bei den Temperaturen waren sie aber wohl alle froh drum, dass der Bus mit einer funktionierenden Klimaanlage ausgestattet war.
Um nicht in der prallen Sonne herumstehen zu müssen, wanderte Erik auf die andere Seite des Busses und ließ sich dort in dessen Schatten auf dem Bordstein des Parkplatzes nieder.
Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und legte den Kopf in die Hände. Mit geschlossenen Augen versuchte Erik, endlich seine Gedanken freizubekommen. Diese ständige Grübelei über Berger brachte ihn nicht weiter. Die Vorstellung, so kurz vor dem möglichen Ziel aufzugeben, garantiert auch nicht.
„Hör auf“, ermahnte er sich selbst leise.
Dabei war sich Erik wieder einmal nicht sicher, worauf genau er die eigenen Worte bezog. Aufhören über Berger nachzugrübeln? Oder wäre es nicht besser, dem schlichtweg nicht mehr nachzurennen? Letztendlich war der Kerl auch nur ein Mann wie andere. Aber kaum hatten sich die Worte in Eriks Geist geformt, sank er schon in sich zusammen.
Berger war eben nicht wie die anderen – zumindest war er Erik nicht genauso egal. Und dabei konnte er noch immer keinen wirklichen Grund finden, warum. Außer der ominösen Vorstellung, dass er bei Berger nicht das Gefühl hatte, sich verstellen zu müssen – und es trotzdem funktionieren konnte. Aber war das genug? Und wo würde das Erik hintreiben? In diese Dunkelheit, den Abgrund, von denen Berger so oft gesprochen hatte?
Vor ein paar Monaten hatte Erik die Dunkel selbst in sich gesehen – und angefangen Berger dafür zu hassen, dass er sie in ihm hinauf beschwor. Aber inzwischen erschien diese Dunkelheit nicht so finster wie am Anfang. Da war zweifellos ein Verlangen, das Erik selten wagte, in Worte zu fassen, aber es war nicht mehr so überwältigend. Vielleicht, weil er immer öfter der Stimme des verdammten Quälgeistes Glauben schenkte, wenn sie behauptete, dass Berger ihn gerade deshalb wollen würde.
„Wunschdenken“, murmelte Erik.
Und fasste damit in einem Wort zusammen, was ihm schon wieder den Magen abschnürte. Mit diesem beschissenen Chaos im Hirn noch mindestens acht Stunden im Bus neben Berger. Die Vorstellung war erschreckend und beruhigend zugleich. Wobei Erik sich nicht sicher war, ob er Berger das gleiche Chaos im Kopf wünschte, das er selbst hatte. Immerhin würde das bedeuten, dass der Kerl sein Versprechen einhielt und ernsthaft darüber nachdachte, ob er Erik eine Chance geben wollte.
„Erstaunlich, dass man Sie alleine antrifft“, hörte er mit einem Mal die Stimme von Frau Farin.
Überrascht sah Erik auf, aber sie war nirgendwo zu sehen. Verwirrt beugte er sich zur Seite und sah unter dem Bus hindurch. Tatsächlich standen dort zwei Leute.
„Im Verlauf des letzten Schuljahres sollte auch Ihnen klar geworden sein, dass ich mich weder um die permanente Gesellschaft der Schüler noch der Lehrerkräfte sonderlich reiße.“
Prompt stockte Erik das Herz. Die Szene war deutlich zu nah an dem, was er letzte Nacht miterlebt hatte. Da war er schon einmal auf allen vieren gewesen und hatte Berger und die Farin belauscht, während die auf der anderen Seite des Busses gestritten hatten. Auch wenn beide Stimmen weiterhin angepisst klangen, schien es im Augenblick allerdings nicht auf einen Streit hinauszulaufen.
„Wo ist Erik?“, fragte Frau Farin weiter.
„Keine Ahnung, Sie waren doch bei den Schülerinnen und Schülern“, gab Berger gelassen zurück.
Wusste der Kerl, dass Erik sie hören konnte? Oder war es ein weiterer dummer Zufall – davon schien es ja im letzten Schuljahr mehr als genug gegeben zu haben. Ob die von Schicksal, Gott oder einem reichlich sadistischen Teufel verordnet worden waren, wollte Erik lieber gar nicht erst herausfinden.
„Dabei scheinen Sie ja eine ausgesprochene Begabung dafür zu haben, immer sehr genau zu wissen, wo Ihre Schüler sich gerade aufhalten.“
Nur zu gern hätte Erik gewusst, welchen Blick Berger der Farin für die Bemerkung daraufhin zuwarf. Aber dafür müsste er aus seinem Versteck kriechen, was offensichtlich nicht infrage kam.
Bergers Stimme klang merkwürdig nuschelnd, als er schließlich antwortete: „Ich dachte, auf dieser Fahrt ist es als Lehrer unser Job, zu wissen, wo die Schüler gerade sind.“
„Die Nähe zu den Schülern hat ihre Grenzen, Herr Berger“, meinte Frau Farin zischend.
„Danke für die Erinnerung. Ist mir aber durchaus klar.“
Erik runzelte die Stirn. Diesmal hatte Bergers Stimme wieder normal geklungen. Es dauerte einige Sekunden, bis ihm klar wurde, dass der Kerl vermutlich bei Frau Farin kein Problem damit hatte, wenn die ihn rauchen sah. Erik kam jedoch nicht dazu, näher darüber nachzudenken, denn das Gespräch der beiden Lehrer war offenbar noch nicht zu Ende.
„Bei den Kollegen scheinen Sie weniger Probleme mit dem Abstand zu haben.“
Zuerst dachte Erik, dass Berger nicht mehr antworten würde. Doch dann hörte er ein verhaltenes: „Keiner mein Typ.“
Frau Farin schnaufte, es klang allerdings nicht sonderlich belustigt. „Es mag nicht viel erscheinen, aber ich bin schon ein paar Jahre länger in diesem Job. Also sehen Sie es als gut gemeinten Rat ... Es ist gefährlich, den Schülern zu nahe zu stehen – oder nur so zu wirken. Sie sollten sich sowohl von Erik als auch von Hanna fernhalten.“
Das merkwürdige Geräusch, das Berger machte, sollte wohl ein Lachen werden. „Ist in einem Bus nicht unbedingt einfach. Oder?“
„Sie wissen genau, wie ich das meine“, schoss Frau Farin grummelnd zurück. Ihre Stimme klang dabei nicht mehr derart gereizt wie zuvor. Hatte sie am Anfang des Gesprächs noch wütend gewirkt, konnte Erik sie im Augenblick nicht einordnen.
„Schon klar. Aber ich habe Ihnen bereits gesagt, dass ich nicht vorhabe mich einem Schüler – oder einer Schülerin – gegenüber unsittlich zu verhalten.“
Die wütende Erwiderung, die Erik erwartet hätte, blieb aus – und ließ ihn erneut irritiert die Stirn runzeln. Seine Verwunderung wuchs weiter an, als er meinte, Frau Farin seufzen zu hören.
„Haben Sie noch eine?“, fragte sie irgendwann. Berger antwortete nicht, aber unter dem Bus konnte Erik sehen, wie die Farin auf ihren Kollegen zutrat. „Danke.“
Obwohl er durchaus froh war, dass es scheinbar zunächst keinen weiteren Ärger von der Farin aus geben würde, gefiel Erik die aktuelle Entwicklung zwischen den beiden nicht wirklich. Wieso war die Frau denn mit einem Mal schon fast freundlich zu Berger?
„Ich mache mir nur Sorgen“, fuhr die Farin kurz darauf fort. „Solche Gerüchte können für die ganze Schule extrem belastend sein.“
„Mein Privatleben geht weder Sie noch die Kollegen etwas an.“
Wieder dieses übertriebene Seufzen. „Nein, tut es nicht. Allerdings habe ich gesehen, was passieren kann, wenn solche ... Gerüchte zum Selbstläufer werden.“
„Dann setzen Sie keine in die Luft“, antwortete Berger kühl.
„Sie wissen, dass einem von den beiden nur ein falscher Piep rausrutschen muss, und Sie sind erledigt.“ Erik konnte nicht verhindern, dass er bei den Worten von Frau Farin zusammenzuckte. „Ich habe an meiner letzten Schule gesehen, was passieren kann, wenn die Elternschaft Wind davon bekommt, dass ... nun ja ...“
Berger schwieg, was den Stein in Eriks Bauch um ein paar Tonnen schwerer zu machen schien. Eigentlich hatte er nicht damit gerechnet, dass da noch eine Antwort kommen würde. Und als Berger sie schließlich gab, war diese so leise, dass Erik sie fast nicht verstanden hätte.
„Die Schüler mehr Interesse wecken könnten als die Schülerinnen?“
Frau Farin zögerte zunächst, bevor sie schließlich sagte: „So etwas kann den Ruf der ganzen Schule gefährden.“
Wieder war da ein Schnauben, während Berger die Zigarette zu Boden warf und mit dem Fuß ausdrückte. Als der sich dann auch noch nach unten beugte, um sie aufzuheben, wäre Erik beinahe aufgesprungen, um zu flüchten. Gerade rechtzeitig wurde ihm klar, dass man ihn so erst recht hören würde. Dieses Gespräch war allerdings garantiert nicht für fremde Ohren gedacht – und schon gar nicht für seine. Also stand Erik langsam auf und setzte dazu an, sich wenigstens ein paar Meter davonzuschleichen.
„Erzählen Sie mir nichts“, murrte Berger genervt. „Sie sorgen sich doch nur so weit um den Ruf der Schule, wie er auf Sie selbst zurückfallen könnte.“
Ein Knirschen war zu hören und als Erik unter dem Bus hindurch spähte, sah er, wie sich Berger offenbar entfernte.
„Wir fahren bald los. Wo wollen Sie jetzt noch hin?“, rief Frau Farin ihm hinterher.
Die Antwort konnte Erik nicht verstehen – wahrscheinlich war Berger inzwischen zu weit weg. Oder er antwortete gar nicht. Was aber außer Frage stand, war, dass Erik hier möglichst schnell verschwinden sollte. Denn irgendwie hatte er das Gefühl, als würde Frau Farin nicht sonderlich begeistert darüber sein, dass er das Gespräch zwischen ihr und Berger belauscht hatte.
Also setzte Erik den zuvor angestrebten Rückzug nun doch endlich in die Tat um. Möglichst lautlos schlich er einige Meter in die andere Richtung davon und lief in einem größeren Bogen um mehrere Lastwagen herum, bis er den Pkw-Parkplatz erreichte. Auch dort hielt er sich am Rand, den Blick ständig in Richtung Bus. Inzwischen konnte er Frau Farin neben diesem sehen. Die Fahrer waren ebenso eingetroffen. Selbst einige der anderen aus dem Kurs standen bereits in der Nähe. Wenn er jetzt ankam, würde es vermutlich am wenigsten auffallen.
Nachdem Erik das Gebäude des Rasthofes erreicht hatte, lief er deshalb an diesem entlang bis zum Haupteingang und von dort zurück in Richtung Bus. Unruhe waberte wie gehabt in ihm hoch und ließ Eriks Herz schneller schlagen.
Bisher hatte er die Farin eher als weiteren Stolperstein auf dem Weg zu Berger betrachtet. So sehr er die Frau für ihre Worte verachten wollte, ein Teil von Erik kam nicht umhin, ihr zuzustimmen. Es hatte mit Sicherheit seinen guten Grund, dass niemand zu wissen schien, an welchem Ufer Berger spazieren ging. Denn dass es das gleiche war, an dem Erik selbst sich befand, daran hatte er keinen Zweifel.
„Sie haben noch drei Minuten.“ Erschrocken fuhr Erik zusammen, konnte sich ein definitiv zu schrilles Keuchen allerdings nicht rechtzeitig verkneifen. „Ausgesprochen schreckhaft auf einmal“, feixte Berger prompt.
Als Erik versuchte, diesen wütend anzufunkeln, sah er vermutlich reichlich lächerlich aus. Zumindest wurde Bergers Grinsen unverschämt breit. Nicht zu vergessen schon wieder so verflucht sexy. Dabei hatte Erik sich nie für irgendwie masochistisch veranlagt gehalten. Aber von diesem hinterhältigen Grinsen und dem dazugehörigen Mann wollte er nur zu gern jeden Tag angestarrt werden.
„Liegt an der Gesellschaft.“
„Hm“, brummte Berger mal wieder, grinste aber weiter. „Und ich dachte, Sie schätzen meine Gesellschaft.“
„Ihre durchaus“, gab Erik grummelnd zurück.
Schon wollte er hinzufügen, dass sie dabei bitte unter vier Augen, in einem weichen Bett und idealerweise nackt sein sollten. Aber dann fiel ihm wieder ein, was die Farin eben gesagt hatte, und Erik verkniff sich den Kommentar. Allein hier mit Berger zu stehen und zu reden, schien in den Augen mancher offenbar zu weit zu gehen.
„Lässt sich eh nicht ändern“, murmelte Erik, zwang sich ein schiefes Grinsen ab und kehrte zum Bus zurück.
Berger folgte offenbar nicht.
Mit jedem Schritt, den er sich entfernte, wurde der Stein, der sich in Eriks Magen bildete schwerer. Je näher sie der Heimat kamen, desto deutlicher näherte sich die Zeit mit Berger ihrem Ende. Ebenso die Hoffnung darauf, dass es vielmehr der Beginn einer anderen Art von Beziehung sein würde.
Dabei war Erik vor einer Woche noch nicht einmal bewusst gewesen, dass er so eine Hoffnung überhaupt hegte. Wobei der Aufsatz über seine Zukunft ja bereits recht deutlich gezeigt hatte, wo er gern mit diesem verdammten Sturkopf sein wollte.
Dabei war der verfluchte Küchentisch eher unerheblich. Genauso wie der Sex. Wobei die Erinnerung an diese sehr spezielle Fantasie für einen Augenblick ein Kribbeln über Eriks Rücken jagte. Das unterdrückte er allerdings inzwischen recht gekonnt.
„Wo waren Sie?“
Zur Not waren da ja auch genug Leute um Erik herum, die jede im Ansatz aufkeimende Erregung sofort zunichtemachen konnten. Mit nur drei Worten. Vermutlich würde die Farin es nur mit einem schaffen, wenn sie es drauf anlegte. Nein, im Grunde würde es reichen, dass Sie ihm überhaupt unter die Augen trat.
„Klo. Kaffee. Frische Luft. Was glauben Sie denn?“, gab Erik genervt zurück.
Es war dämlich und vielleicht meinte die Frau es tatsächlich nicht böse. Weder mit Erik noch mit Berger. Falls dem so war, hatte sie aber eine beschissene Art und Weise, das zu zeigen. Und so konnte er, im Gegensatz zu seinem Gespräch mit Berger kurz zuvor, diesmal nicht die Klappe halten.
Frau Farin nahm den Ausbruch allerdings überraschend gelassen. „Sie sollten doch bei der Gruppe bleiben“, gab sie knurrend zurück.
„Tut mir leid, hat sich keiner angeboten, mir auf dem Klo zur Hand zu gehen.“
Um einen weiteren Streit zu vermeiden, drängelte Erik sich an ihr vorbei und lief die letzten Meter bis zum Bus. Die Fahrer hatten inzwischen die Türen geöffnet. Als er einstieg, bemerkte Erik, dass einige der anderen aus dem Kurs bereits auf ihren Plätzen saßen. Die meisten wirkten gut gelaunt, aber bei den Übrigen sah es eher so aus, als würden sie genauso mit der Müdigkeit zu kämpfen wie Erik selbst.
Er setzte sich auf seinen Platz und sah aus dem Fenster dem Treiben neben dem Bus zu. Berger war nirgendwo zu sehen. Es dauerte einen Moment, bis Erik ihn am Eingang des Rasthofes entdeckte. Dort scheuchte Berger gerade die letzten Schüler in Richtung Bus.
Etwas umständlich rutschte Erik auf seinem Sitz hin und her und zog das Handy heraus. Wenn die dort drüben in der Tat die letzten waren, die aus ihrer Gruppe noch fehlten, würden sie diesmal erstaunlich pünktlich aufbrechen.
Es dauerte dennoch weitere zehn Minuten, bis alle auf ihren Plätzen saßen und sie sich erneut auf den Weg machten. Erik starrte stur aus dem Fenster, während die sich kaum ändernde Landschaft vorüberzog.
Die etwa eine halbe Stunde später plötzlich auftauchende Wärme an Eriks linken Oberarm war eine stetige Erinnerung daran, wer da neben ihm saß. Nicht, dass er die tatsächlich gebraucht hätte. Leider war es nicht das Hochgefühl, das Erik sich erhoffte. Die Worte von Frau Farin erschienen immer mehr wie eine mahnende Prophezeiung, dem Drang in seinem Inneren endgültig abzuschwören.
War es denn wirklich so falsch, dass Erik wenigstens herausfinden wollte, was das zwischen Berger und ihm werden konnte? Es ging doch niemanden etwas an. Wären sie sich nicht in der Schule, sondern bei Alex im Rush-Inn begegnet, würde kein Hahn danach krähen.
Oder?