68 – Miese Laune
„Können wir weiter?“, fragte Berger von der Seite und ließ Erik überrascht zusammenfahren.
„Klar!“, rief er hastig und hielt Berger eine Papiertüte hin. Der sah jedoch nur verwundert zurück. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie keinen Hunger haben.“
Berger zögerte, was Erik wiederum den Magen zusammenzog und beinahe ebenfalls den Appetit verdarb. So stur, wie der Kerl war, klangen die Gepflogenheiten der Neandertaler manchmal durchaus angemessen. Eins über den Schädel ziehen und in die nächste Höhle schleifen. Füttern, aufpeppeln, und ein paar Streicheleinheiten verpassen.
‚Klingt eher nach einer streunenden Katze ...‘
Erik schluckte und ignorierte das Kribbeln, das sich schon wieder in seinem Magen ausbreitete. Stattdessen hob er die Papiertüte noch einmal höher und sah Berger herausfordernd an. Der griff aber weiterhin nicht zu.
„Jetzt kommen Sie schon“, forderte Erik ihn mit einem frustrierten Schnauben auf. „Es ist nur ein Plunderstück oder so etwas. Wenn Sie sich dermaßen einfach kompromittieren lassen würden, wären wir nicht hier. Und hätten deutlich weniger Klamotten an.“
Zögerlich, geradezu vorsichtig, griff Berger nach der Tüte und sah hinein. „Danke“, murmelte er schließlich, hob den Kopf allerdings nicht, um Erik anzusehen.
„Gern geschehen“, gab er mit einem breiten Grinsen zurück. ‚Eins zu null.‘
Berger vermied weiterhin den Augenkontakt und deutete in die Richtung, die zur Herberge führen würde. „Sie wissen, wo die anderen sind?“, fragte er murmelnd.
Am liebsten hätte Erik verneint. So wäre es ihm schließlich womöglich gelungen, die Zeit bis zum Lagerfeuer zu überbrücken. Dass er Berger für den restlichen Tag von den Chaoten am Strand fernhalten konnte, war aber eine eher unrealistische Vorstellung. Außerdem würde das Erik ganz sicher keinen weiteren Vertrauensbonus einbringen.
„Die gleiche Stelle am Strand, wo wir die letzten Male schon waren. Direkt dort, wo die Straße von der Herberge auf die Promenade trifft“, murmelte Erik irgendwann.
Er setzte sich in die genannte Richtung in Bewegung. Um sich abzulenken, holte Erik das belegte Brot heraus, das er für sich selbst gekauft hatte. Berger lief zunächst nur neben ihm her. Aus dem Augenwinkel konnte Erik sehen, dass der Sturkopf immer wieder verstohlen in seine Richtung sah, bevor Berger schließlich das Plunderstück herausholte, das Erik ihm mitgebracht hatte. Zufrieden nahm ebendieser kurz darauf zur Kenntnis, dass sein Einkauf scheinbar auf Gegenliebe traf.
Berger schlenderte eher in gemächlichem Tempo die Promenade entlang. Da Erik ebenfalls kein sonderlich großes Verlangen hatte, möglichst schnell zu den anderen zurückzukehren, war ihm das nur recht.
„Hat es geschmeckt?“, fragte Erik mit einem Grinsen, kaum dass Berger die leere Papiertüte schließlich zusammenknüllte.
„Ja. Danke.“
Etwas enttäuscht, dass nicht mehr kam, sah Erik erneut nach rechts. Berger hielt den eigenen Blick jedoch stur geradeaus gerichtet. Hastig wandte Erik sich wieder ab. Der Sturkopf von Lehrer sah aber jetzt nicht wirklich wegen eines blöden Teilchens vom Bäcker dermaßen verlegen aus? Nein, das konnte nicht sein. Nicht jemand wie Berger. Oder?
‚Sag was!‘
Leichter gedacht als getan. Erik hatte keine Ahnung, was er denn sagen sollte. Small Talk war noch nie seins gewesen – und schon gleich gar nicht mit Berger. Erik versuchte, die aufsteigende Unsicherheit zurückzudrängen.
‚Sei endlich ein Mann, kein verfluchter Junge!‘, ermahnte er sich selbst.
Die eigene, inzwischen leere Papiertüte raschelte lautstark, während sich Eriks Faust darum schloss. Er brauchte diese verdammte Zusage von Berger. Wenn er dafür diese Folter der Unwissenheit ertragen musste, würde Erik auch das tun.
Der sture Kerl da drüben sollte es wollen. Von sich aus. Ansonsten würde es nur genauso laufen wie bei Tom. Erik würde wieder einer Wunschvorstellung nachrennen, die sich niemals erfüllen konnte.
✑
Unabhängig davon, wie langsam sie sich bewegten, irgendwann erreichten sie trotzdem den Strandabschnitt, auf dem sich immerhin noch gut die Hälfte von Eriks Kurs aufhielt – leider vornehmlich der weibliche Teil.
Vermutlich war es unvermeidbar gewesen. Dass sowohl die blöde Farin als auch diverse Mädchen sofort aufsprangen und auf Berger zugingen, gefiel Erik trotzdem nicht. Noch viel weniger mochte er die Tatsache, dass der Kerl schweigend zu Frau Hirvi hinüber marschierte und sich demonstrativ neben der in den Sand setzte.
‚Reiß dich zusammen‘, versuchte Erik sich selbst zu ermahnen. Das verfluchte Ziehen wurde aber nur noch stärker.
Trotzig marschierte er zu Berger hinüber und ließ sich auf dessen anderer Seite ebenfalls in den Sand plumpsen. Die konnten Erik alle mal kreuzweise. Wenn irgendjemand was von Berger wollte, würden sie mit Eriks finsteren Blicken leben müssen.
Dummerweise hatte zumindest Frau Farin damit überhaupt kein Problem. Statt Berger wandte sie sich auch erst einmal Erik zu und hielt ihm eine Standpauke darüber, dass er sich, obwohl es der letzte Tag ihres Aufenthaltes war, an die Regeln zu halten hatte.
Erik schwieg und ließ sie reden. Diskutieren würde ohnehin nichts bringen. Und auf keinen Fall wollte er neben Berger wie ein bockiges Kind aussehen. War schon schlimm genug, dass die blöde Lehrerin ihn so behandelte.
„Sie können es gut sein lassen, denke ich“, sagte jedoch Berger irgendwann, als Frau Farin anfing, allmählich frustriert zu wirken, weil Erik so gar nicht reagierte. „Ich bin sicher, Herrn Hoffmann ist bewusst, dass er sich nicht einfach hätte von der Gruppe absetzen sollen.“
Prompt verzog Frau Farin das Gesicht und seufzte lautstark, bevor sie antwortete: „Sie sollten den Schülern nicht immer so viel durchgehen lassen.“
„Oh keine Sorge“, gab Erik mit einem falschen Lächeln statt Berger zurück. „Ich werde mich für den Rest der Fahrt ganz brav an die Regeln halten. Herr Berger war in der Hinsicht auch schon recht deutlich gewesen. Und damit das garantiert nicht schiefgeht, werde ich Herrn Berger einfach nicht von der Seite weichen. Dann kann ich ja nicht mehr verloren gehen.“
Irgendwo war ein leises Keuchen zu hören. Als Erik seine Augen ein Stück nach links wandern ließ, entdeckte er dort Hanna und war sich ziemlich sicher, dass es aus ihrer Richtung gekommen war. Der finstere Blick, der ihm entgegenschlug, sagte alles. Die Fronten waren klar. Erik somit umso fest entschlossen, für den Rest der Fahrt niemanden mehr an Berger heranzulassen. Der Kerl gehörte ihm, egal was die übrigen Anwesenden dachten.
‚Hoffentlich haben das jetzt endlich alle kapiert.‘
Fünf Minuten später war Erik sich sicher, dass es überhaupt keiner kapiert hatte. Vor allem nicht Berger. Der unterhielt sich nämlich wie üblich freundlich lächelnd mit so ziemlich jedem Idioten, der vorbeikam. Und es kamen reichlich – primär die weibliche Sorte.
Genau die, die Erik gerade nicht ertragen konnte. Weniger weil sie Frauen waren, sondern da die meisten von ihnen Berger diese verfluchten Blicke zuwarfen. Solche, die darum bettelten, dass der Kerl sich endlich auszog. Oder die Damen auszog. Bei der einen oder anderen vermutlich beides.
‚Das bildest du dir ein‘, sagte Erik sich immer wieder. Schließlich war bis auf Hanna bisher auch niemand dermaßen offen hinter Berger hergerannt. Aber es half nichts.
Dazu die verdammte Hitze, die brennende Sonne, die Tatsache, dass Erik aus dem Augenwinkel schon Sandro lachend auf ihn deuten sah. Das hier war scheiße. Es fehlte nur noch, dass der Arsch rüberkam und Erik anmachte, weil er keine Badesachen anzog und ins Wasser ging.
Das schien Sandro sich aber zumindest heute dann doch nicht zu trauen. Vielleicht weil Berger in dem üblichen langärmligen Hemd und der ebenfalls langen Hose ein gleichgutes Ziel abgeben würde.
‚Bei dem traut Sandro sich das garantiert nicht.‘
Um der Sonne wenigstens ein Stück weit zu entgehen, kramte Erik irgendwann in seinem Rucksack und fand tatsächlich ein Basecap. Ewig würde das nicht reichen. Aber mit nach hinten gedrehtem Schirm hoffte Erik, zumindest seinen Nacken etwas zu schützen. Der Rest des Kurses schien allerdings weniger Probleme mit der Hitze zu haben.
Missmutig zog Erik das Handy heraus und prüfte die Uhrzeit. Obwohl er heute eigentlich nicht viel getan hatte, wünschte er sich, dass der Tag allmählich zu Ende ging. Zumindest saß Erik hier gefühlt schon zu lange in der Sonne. Das Handy behauptete trotzdem steif und fest, dass es gerade einmal drei Uhr war.
Mit einem unterdrückten Stöhnen rieb Erik sich über die Stirn. Wann würden sie denn endlich in die Herberge zurückkehren? Hatte Frau Farin nicht etwas davon gesagt, dass sie für die Vorbereitung des Lagerfeuers selbst verantwortlich wären? Dafür musste doch bestimmt einiges erledigt werden. Als Erik in die Runde schaute, schienen sich aber alle eher für ihr Vergnügen am Strand zu interessieren.
‚Scheiße ...‘
Nicht einmal die Nähe zu Berger konnte diesen Stimmungstiefpunkt noch irgendwie aufhellen. Der saß nämlich nur genauso gelangweilt rum, wie Erik sich fühlte. Bei dem Gedanken, dass er Berger schließlich ansprechen und fragen könnte, ob er mit ihm zurück in die Herberge ging, pochte es jedoch schon wieder recht heftig in Erik. Glücklicherweise nur in der Brust. Und so setzte sich die ausnahmsweise mal vollkommen ereignislose Katastrophe dieses Tages fort.
‚Was nicht ist, kann noch werden‘, warf der mentale Quälgeist in die Runde, wurde allerdings von einem zunehmend frustrierten Erik ignoriert.
Wie automatisch wanderte sein Blick bei dem Gedanken zu Hanna. Die saß inzwischen nicht mehr alleine, sondern hatte sich zu einer anderen Gruppe von Mädchen gesellt. Sie wirkte dort allerdings genauso zugehörig, wie Erik hier neben den drei Lehrern. Immerhin saß sie so, dass sie lediglich aufs Meer hinausblickte und nicht permanent zu Berger.
‚Vielleicht hat sie es ja doch kapiert‘, sagte Erik sich selbst, hatte aber nicht viel Hoffnung darauf, dass es wahr sein könnte.
„Wir brauchen noch Getränke“, rief von irgendwo jemand.
„Dann hol halt welche. War doch Kohle dafür eingeplant gewesen“, tönte es sofort aus anderer Richtung zurück. Diesmal brauchte Erik nicht einmal hinsehen, denn das der Einwurf von Sandro kam, war nicht zu überhören gewesen.
‚Ein Grund mehr, sich rauszuhalten.‘
„Es ist ja wohl nicht zu viel verlangt, wenn die Getränkekisten vom angeblich starken Geschlecht geschleppt werden“, schoss es direkt aus der nächsten Ecke zurück. Diesmal eines der Mädchen, die bei Hanna saßen.
„Du machst doch sonst auch immer einen auf Emanze, Jenny. Das ist die Gelegenheit“, giftete Sandro direkt zurück.
„Du bist manchmal echt so ein Arsch, Claasen!“
Das Geschrei ging weiter. Von rechts war ein leises, kaum hörbares Seufzen zu vernehmen. Allmählich fing Erik an, zu begreifen, warum Berger sie für unreife Kinder hielt. Wenn man die Idioten dort drüben betrachtete, konnte man es ihm wirklich nicht verübeln.
„Jetzt hört schon auf“, setzte irgendwann Damian an, um zu vermitteln. „Wer kommt mit und hilft tragen?“
Insgesamt drei Freiwillige hatten sich überraschend schnell gefunden. Der Rest schien aber eher unwillig. Insbesondere Sandro betonte, dass die anderen ja ‚auch mal‘ etwas für den Kurs leisten konnten. Erik wollte gar nicht wissen, was der Idiot glaubte für ihre Gruppe geleistet zu haben. Alles, was ihm in Bezug auf Sandros Leistungen einfiel, war ein regelmäßiges geistiges Versagen im Unterricht und das Herumirren in der Pampa vor zwei Tagen.
„Die meisten der Herren haben sich ja vorsorglich schon einmal verzogen. Nun stellt euch nicht so an und helft wenigstens ihr mit“, forderte eines der Mädchen, die sich freiwillig gemeldet hatten.
Die Tatsache, dass die meisten Jungen bei seiner Rückkehr bereits verschwunden gewesen waren, war auch Erik nicht entgangen. Allmählich fing er an, zu begreifen, warum sie abgehauen waren. Die Richtung, in die diese Diskussion verlief, gefiel ihm zunehmend weniger. Ganz sicher würde er sich hier nicht einmischen.
„Erik?“ Es war Damian, der sich diesmal direkt an ihn wandte. So viel dazu, dass er sich raushalten wollte.
„Herr Hoffmann hilft Ihnen gern“, antwortete Berger an seiner statt und erntete dafür prompt einen giften Blick von Erik.
„Ach ja?“, zischte er angepisst zurück. Dem Dickkopf sollte klar sein, dass Erik ihn nicht alleine hier am Strand zurückließ. Erst recht nicht, solange Hanna noch in der Nähe war. Der würde er sicherlich keine Chance mehr geben, sich an Berger heranzumachen.
„Natürlich“, gab eben dieser jedoch gelassen zurück. „So ein paar Getränkekisten dürften für Sie doch kein Problem sein. Vergessen Sie nicht, auch alkoholfreie Sachen zu bringen.“
Erik presste die Lippen aufeinander, um nicht irgendetwas Unpassendes zurückzugiften. Trotzdem tobte es in ihm. Warum zum Geier schickte Berger ihn jetzt auch noch weg? Da verzichtete Erik schon extra darauf, den Mann weiter zu bedrängen, und der nutzte sofort die Gelegenheit, um sich abzusetzen? So war das nicht gedacht gewesen.
„Der Rest von Ihnen sollte ebenfalls allmählich zusammenpacken“, fuhr Berger unbeeindruckt von Eriks wütenden Blicken fort. „Es ist schließlich noch einiges vorzubereiten für das Lagerfeuer. Und wie Ihnen meine Kolleginnen sicherlich bereits mitgeteilt haben, liegt es in Ihrer Verantwortung, dass es heute Abend etwas zu essen gibt.“ Berger drehte den Kopf in Eriks Richtung und grinste. „Um die Getränke kümmert sich ja jetzt offensichtlich bereits jemand.“
„Warum muss nur ich da mit? Sandro kann sich ruhig genauso nützlich machen“, murmelte Erik grummelig.
Berger zuckte mit den Schultern. Das verfluchte Grinsen wurde breiter. Ein Paar grüne Augen schien für einen Moment, den Umweg über Eriks Brust zu nehmen, bevor es ihm erneut ins Gesicht sah. Gern würde er sich einbilden, dass das Grün diesmal deutlich glasiger wirkte, aber das war wohl doch mehr Wunschvorstellung als Realität.
„Wollen Sie die armen Damen die schweren Kisten etwa alleine schleppen lassen?“
Am liebsten hätte Erik mit einem lautstarken ‚Ja‘ geantwortet, aber das wäre mit ziemlicher Sicherheit nicht so gut angekommen. Weder bei Berger noch bei den von diesem angesprochenen Damen. Er beschränkte sich also auf ein frustriertes Schnauben, drehte die Mütze nach vorn und zog sich den Schirm tiefer ins Gesicht. Der Blick Bergers, den er weiter auf sich spürte, war aber genug, um schon wieder diverse Stromschläge durch Eriks Körper wandern zu lassen.
‚Etwas Abstand ist vielleicht nicht so schlecht.‘
Zumindest könnte Berger ihn auf diese Weise nicht mehr permanent reizen. Und dass der Kerl genau das mit Absicht tat, stand für Erik außer Zweifel. Blieb jedoch dieses eine, nervige Problem.
„Nehmen Sie doch Hanna auch noch mit“, sagte Berger, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Entgeistert starrte Erik ihn an. Was zum Geier dachte der Kerl sich?
„Ich ... weiß nicht, ob ich ...“, setzte Hanna bereits verlegen an.
„Ich finde auch, dass das Planungskomitee das übernehmen sollte“, warf Sandro mit einem hinterhältigen Lachen ein.
Garantiert hatte der Kerl keine Ahnung davon, was Hanna in den letzten Tagen abgezogen hatte. Dank Bergers Verschwiegenheit konnte sich das vermutlich ohnehin niemand vorstellen. Eriks Blick wanderte zu Hanna, die zwar nicht sonderlich begeistert aussah, sich unter den wachsamen Augen der verbliebenen Mitschüler aber trotzdem anzog.
So ungern Erik seine Zeit mit der Frau verbringen wollte, es hätte womöglich seine Vorteile. Auf diese Weise hatte Hanna zumindest keine Chance, Berger zu nahe zu kommen. Solange Erik sie beobachtete, konnte sie nicht schon wieder irgendwelche Dummheiten anstellen.
Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Also war es wahrscheinlich die beste Lösung, wenn er in der Tat mit Hanna die Getränke holte, während Berger beim Rest der Gruppe blieb. Erik stöhnte. Diese dämlichen Gefühle schienen ihm langsam, aber sicher den letzten Funken Verstand zu rauben.