24 – Reizender Anblick
„Zeit, um zu verschwinden“, murmelte Erik erneut. Dabei versuchte er, sich einzureden, dass er ganz sicher jetzt nicht in die Herberge zurückkehrte, um zu sehen, ob Berger dort war. Denn wenn der noch zwei, drei Stunden auf der Treppe vor ihrer Hütte hocken würde, geschähe ihm das schließlich nur recht.
„Hoffentlich gehen ihm dabei die Kippen aus.“
Erik schlenderte zur Bar hinüber und gab die Flasche zurück, bevor er sich umdrehte und die Stufen zur Promenade hinauflief. Definitiv Zeit zu verschwinden. Bisher hatte der heutige Tag schließlich schon genug Fettnäpfchen und Schwierigkeiten für ihn bereitgehalten. Da wollte Erik sein Glück besser nicht auf die Probe stellen.
Langsam machte er sich auf den Weg in Richtung Herberge. Dafür, dass es offensichtlich der Hauptweg am Strand entlang war, hatte man hier auf Beleuchtung erstaunlich weit verzichtet. Allerdings waren die meisten der Geschäfte scheinbar keine Bars oder Kneipen, sodass sich der nächtliche Verkehr hier vermutlich normalerweise sehr in Grenzen hielt.
Erik stockte. Das Herz in der Brust setzte zum Sprint an, erhöhte die Schlagzahl sich gefühlt mit jeder Millisekunde. Er wollte schlucken, aber sein Hals war für den Moment staubtrocken. Allein die dafür notwendigen Muskeln zu bewegen fühlte sich grundlegend falsch an. Genau wie der beschissene Anblick, der sich Erik ein paar Meter weiter im Halbdunkel der Promenade offenbarte.
‚Da gibt es durchaus gleich nächtlichen Verkehr‘, versuchte sein mentaler Quälgeist ihn zu reizen.
Erfolgreich.
Das Grummeln in Eriks Bauch schlug von einer Sekunde auf die andere in ein Flammenmeer um. Ehe er es sich versah, war Erik die zehn Meter vorgestürmt. Er hatte nie viel von dem Ausdruck gehalten, dass man sich vor jemandem ‚aufbauen‘ konnte. Aber Erik hoffte, dass er genau das gerade tat. Das innerliche Brennen war unerträglich. Seine rechte Hand war zur Faust geballt und kurz davor dem Schleimbeutel vor ihm eine reinzuhauen.
Der drehte verwundert den mit Gel zugekleisterten Kopf und sah verwirrt zu Erik auf. Wäre dieser bei klarem Verstand gewesen, hätte er eingestehen müssen, dass das nur zu nachvollziehbar war. Dummerweise mangelte es Erik gerade an zwei der dafür notwendigen Dinge. Zum einen war er dank des Alkohols nicht mehr wirklich völlig klar. Und in puncto ‚Verstand‘ konnte er in Anbetracht des Brennens in seinem Bauch auch nicht mithalten.
„Mon dieu. Hé beau“, tönte das Arschloch vor ihm mit einem breiten Grinsen, das Erik ihm nur zu gern aus der Fresse hauen wollte.
„Verpiss dich“, zischte er stattdessen um Beherrschung bemüht hervor.
„Hm?“
Eriks Zähne pressten sich so fest aufeinander, dass er nur noch knurrend herauspressen konnte: „Finger weg und verpiss dich, Arschloch.“
Der schmierige Kerl machte aber keine Anstalten sich zu bewegen oder die verfickten Wichsgriffel endlich bei sich zu behalten. Stattdessen richtete er sich vollends auf – wodurch Erik immer noch gute zehn Zentimeter größer war.
Eine Hand von dem Wichser lag weiterhin dort, wo sie nichts zu suchen hatte, wie Erik nach einem kurzen Seitenblick knurrend bemerkte. Ein Zittern wanderte durch Eriks Körper, als er darum kämpfte, sich zurückzuhalten. Irgendwo im Hinterkopf rief eine verzweifelte Stimme, dass er sich hier lächerlich machte, und zusätzlich über eine Grenze trat, die er besser nicht einmal berühren sollte.
„Est-il votre amant?“
„Juste mon élève.“
Erik biss sich auf die Lippe. Auch wenn er keine Ahnung hatte, was das Arschloch gefragt hatte. Für die darauf erfolgte Antwort reichten sogar die paar Jahre, die er Französisch gehabt hatte, gerade noch aus.
‚Nur mein Schüler.‘
Erneut lief ein Zittern durch Eriks Körper, während er weiterhin zu der beschissenen Hand starrte, die auf einer Hüfte lag, wo sie nicht hingehörte.
„Wie war das mit dem unangemessenen Zustand?“, zischte Erik ungehalten und zwang sich, den Kopf zu heben, um Berger ins Gesicht zu sehen.
Kaum war sein Blick dort angekommen, war Erik sich jedoch nicht mehr sicher, ob es nicht besser wäre, sich einfach zu verpissen. Wohlgemerkt nicht, weil Berger irgendwie wütend aussehen würde, sondern vielmehr, da Erik in diesem viel zu hübschen Gesicht wie so oft keine Regung erkennen konnte.
‚Sieh zu, dass du wegkommst‘, dröhnte es in seinem Kopf, aber er konnte nicht.
Ja, realistisch betrachtet stand es ihm nicht zu. Weder hier aufzutauchen, noch dem schleimigen Arschloch irgendwelche Ansagen zu machen. Es sollte ihm egal sein, wenn Berger mit irgendjemandem ... Nein, es ging nicht. Erik konnte den Gedanken nicht einmal zu Ende führen. Und ihm schon gleich gar nicht folgen.
„Que se passe-t-il?“
‚Warum steht das Arschloch hier immer noch rum mit seinen Wichsgriffel auf ...!‘
Ein erneutes Knurren entkam Erik und er trat jetzt doch einen weiteren halben Schritt vor. Offenbar nahm der Kerl das endlich zum Anlass, sich zu verpissen. Zwar sagte er noch irgendwas zu Berger, der lächelte jedoch nur zaghaft und zuckte mit den Schultern. Beide sahen sie dem Schleimbeutel nach, als der sich reichlich unzufrieden entfernte. Nachdem er in Richtung Strand in der Masse verschwunden war, sah Berger wieder Erik an.
„Halten Sie das für angemessen, Herr Hoffmann?“
Das Schnauben konnte er nicht zurückhalten. „Wollen Sie ernsthaft wissen, wofür ich das gehalten hab?“
„Ich glaube nicht, dass Sie in einer Position sind, in der ich Ihnen Rechenschaft darüber schulde, mit wem ich mich unterhalte“, fuhr Berger jedoch ungerührt fort.
Die Art, wie der Kerl lässig mit beiden Händen in den Hosentaschen da an die Hauswand gelehnt stand, ließ das Blut in Erik hochkochen. „Wie bitte? So wie der Kerl an Ihnen geklebt hat, war das eher ein Trockenfick als eine Unterhaltung.“
Das kurze Grinsen, das über Bergers Lippen huschte, ließ Erik zurückschrecken. Was redete er denn hier? Der Blödmann hatte doch völlig recht. Es ging Erik rein gar nichts an, was der Mann trieb. Berger war sein Lehrer. Und trotzdem fühlte es sich beschissen an. Vielleicht war es aber auch schlichtweg scheiße, dass jemand anderer dort vor Berger stehen durfte, während er ja ‚nur ein Schüler‘ war.
„Abgesehen von der maßlosen Übertreibung ... Ist das die Ausdrucksweise eines Abiturienten?.“
Erik schnaubte erneut und fuhr sich entgeistert durch die Haare. „Und Sie wollen mir sagen, ich wüsste nicht, wie ich auf andere wirke? Ernsthaft jetzt?“
Das amüsierte Lächeln auf Bergers Gesicht gab ihm den Rest. Ehe Erik sich versah, stand er diesmal vor seinem Lehrer, die Hände links und rechts gegen die Hauswand gestemmt. Schon rechnete er damit, dass Berger ihn wegstoßen würde, aber der hatte die Hände noch immer in den Hosentaschen. Den Kopf leicht nach oben geneigt, damit er Erik ansehen konnte, stand er einfach da und lächelte.
Nicht falsch, nicht verlogen, sondern so verflucht ehrlich, beinahe schüchtern, wie er es in den letzten Wochen des Schuljahres immer getan hatte. Aber es war eine verdammte Fassade, ein Trugbild, denn wenn Berger eines ganz sicher nicht war, dann ‚schüchtern‘. Das hatte Erik eben nur zu deutlich sehen können, als dieses französische Arschloch kurz davor gewesen war, sich das von Berger zu holen, was Erik seit dem verfluchten letzten Schultag haben wollte.
„Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie viele allein aus meinem Kurs Sie gern flachlegen würden?“, zischte er, darum bemüht, nicht die Kontrolle zu verlieren.
Berger lachte leise, bevor er Erik breit angrinste und eine Hand hob, um zwei wackelnde Finger vor seine Nase zu halten. „Wobei ich unterstelle, dass eine davon, zu einer etwas ... weniger direkten Ausdrucksweise tendieren würde.“
Erik ließ den Kopf hängen. Der Kerl machte ihn fertig. Das Brennen verschwand, wurde ersetzt durch das kribbelnde Flattern, das aus seinem Bauch nach unten wanderte.
„Sagen Sie mir, was ich tun muss“, flüsterte Erik leise.
Berger schwieg, doch die Hand verschwand wieder in der Hosentasche. Mit gesenktem Kopf starrte Erik auf den flachen Bauch, den Hosenknopf. Er bräuchte nur zugreifen. Entweder Berger stieß ihn weg und die Sache war geklärt, oder ...
‚Und was, falls es ‚oder‘ ist?‘
Was, wenn er nicht weggestoßen wurde? Bergers Worte vom Nachmittag fielen ihm wieder ein: „Das Ihr Interesse sich auf mehr als nur die Antworten auf Ihre Fragen bezieht.“
Erik schloss die Augen und versuchte, das schmerzhafte Ziehen zu ignorieren, das schon wieder drohte, das deutlich angenehmere Flattern zu vertreiben. Was wäre denn, wenn er seine Antworten hatte? Ehrlicherweise hatte Erik da nie drüber nachgedacht. Vielleicht, weil er nicht ernsthaft damit rechnete, diese Antworten jemals zu bekommen.
Eine Hand wurde auf seine Brust gelegt, drückte dagegen – und Erik damit effektiv nach hinten. Der Moment war vorbei, genauso wie die Chance. Offensichtlich sollte er seine Antwort auch heute nicht bekommen. Und vermutlich würde es für immer so bleiben.
„Es ist spät“, meinte Berger verhalten.
Für einen Augenblick bildete Erik sich ein, dass da Enttäuschung in dessen Stimme lag. Aber das war Unsinn. Denn der Einzige, der enttäuscht sein sollte, war schließlich er selbst. Trotzdem richtete Erik sich auf und trat einen Schritt zurück, um Berger Platz zu machen.
‚Chance verpasst ...‘, säuselte es weiterhin hämisch in seinem Kopf.
Für heute war Erik aber zu erschöpft – auf jede nur erdenkliche Weise – um sich auch noch damit zu beschäftigen. Also schlich er Berger einfach schweigend hinterher. Die ganze Zeit fragte Erik sich jedoch, was genau er sich eigentlich von dieser beschissenen Antwort erwartete.
✑
Als Erik nicht ganz eine Stunde später im Bett lag und an die Decke starrte, war er sich weiterhin nicht sicher, warum ihn die Frage nach diesem Kuss umtrieb. Egal, wie oft er versuchte, eine Antwort darauf zu finden, jedes Mal, wenn Erik glaubte, sie greifen zu können, entglitt sie ihm wieder.
Berger hatte direkt vor ihm gestanden. Wenn Erik es gewollt hätte, wäre es ein Leichtes gewesen, sich diesen verfluchten Kuss einfach zu holen. Der Blödmann hatte nicht gerade so ausgesehen, als würde er ihm dafür in die Eier treten. Nicht nachdem der Franzose dermaßen an ihm geklebt hatte. Schnaubend drehte Erik sich auf die Seite und starrte nun auf die Holzbalken der Hüttenwand.
„Ist doch egal“, murmelte er zaghaft, konnte sich aber nicht selbst davon überzeugen.
Vor allem schaffte Erik es nicht, dieses verdammte Bild aus dem Kopf zu bekommen. Berger, wie er lässig mit den Händen in den Hosentaschen an der Wand lehnte. Wäre da nicht dieser dumme Franzose, der an Eriks Lehrer geklebt und die verdammten Finger schon an dessen Hosenbund gehabt hatte, wäre es ein verführerisches Bild. Eines, das wohlgemerkt wiederum nicht zu den gebügelten Hemden passte. Sehr wohl aber zu dem stetig interessanter werdenden, rauchenden Badboy, den Eriks innerer Quälgeist ihm gerade erneut vor Augen führte.
Zwar schaffte er es, die Bilder einigermaßen jugendfrei zu halten, im Gegenzug hielten die Erik jedoch zwanghaft wach. So versuchte er auch mehr als eine weitere Stunde später weiterhin, in den Schlaf zu finden. Inzwischen spürte Erik allerdings die Müdigkeit des Tages und viel würde nicht mehr fehlen, dass es ihn endlich in Morpheus Arme trieb.
‚Wenigstens einer, der hier mit dir liegen würde.‘
Der Gedanke zog an Eriks Mundwinkeln und holte ihn für einen Moment von der Grenze des Schlafes zurück. Genug um mitzubekommen, dass jemand die Tür zur Hütte öffnete. Schlagartig setzte Erik sich auf und sah zur Zimmertür. Es würde ja wohl niemand versuchen, hier einzubrechen, um sie zu überfallen.
Ganz ehrlich, das Ritz war diese Herberge nicht gerade. Wer sich hier einbuchte, brachte sicherlich nicht viel mit, bei dem es sich lohnen würde, auf Diebestour zu gehen. Zumal ein Einbruch tagsüber, wenn niemand da war, deutlich mehr Sinn ergeben würde.
Darum bemüht, keine unnötigen Geräusche zu machen, schob Erik die Decke beiseite und stand langsam auf. Das Fenster Richtung Veranda war seit seiner Ankunft gekippt. Vorsichtig schlich Erik jetzt hinüber und versuchte, durch das Fliegengitter etwas zu erkennen. Da es auf der Lichtung aber noch keine Beleuchtung gab, war alles, was er im Mondlicht sehen konnte, eine schattenhafte Gestalt, die sich in Richtung Treppe bewegte. Erik runzelte die Stirn. Sah eher so aus, als würde jemand gehen.
‚Berger!‘
Schon wollte Erik zur Zimmertür laufen, als die Gestalt mit einem Mal in sich zusammensank. Verwirrt runzelte er die Stirn und versuchte zu erkennen, was vor sich ging. Erst als er einen rot glühenden Punkt entdeckte, wurde Erik klar, dass es in der Tat Berger sein musste, der sich eben für eine weitere Zigarette längsseits auf die Treppe zur Veranda gesetzt hatte.
Ein kurzes Lächeln huschte über Eriks Lippen, als er den Kopf schüttelte. Der Tag war eindeutig zu lang gewesen. Zeit, endlich ins Bett zu gehen. Doch anstatt genau das zu tun, starrte er weiter, an die Wand neben dem Fenster gelehnt, in die Dunkelheit. Versuchte, entgegen jeder Vernunft Bergers Gesichtsausdruck im Mondlicht zu erkennen.
‚Warum schläft er nicht?‘, fragte Erik sich und schob im gleichen Moment die prompt in seinem Kopf entstehende Idee beiseite. Die, bei der Berger von den Ereignissen des Tages genauso überrannt worden war, wie er selbst. Mit einem tonlosen Seufzen ließ Erik den Kopf hängen und drehte sich diesmal tatsächlich weg.
„Was ist?“, hörte er mit einem Mal Bergers leise Stimme. Prompt zuckte Erik erneut zurück und sah aus dem Fenster.
Neben dem Mondlicht war da diesmal ein sanftes Glühen, das Bergers rechte Gesichtshälfte beleuchtete. Dessen Kopf war gesenkt, das Handy am Ohr, während er die andere hob, um an der Zigarette zu ziehen.
„'Tschuldigung“, murmelte Berger, auch wenn es eher belustigt als tatsächlich bedauernd klang. „Was verschafft Ihrem untertänigen Lakaien das zweifelhafte Vergnügen dieses Anrufes, Sabine?“
Erik grinste. Er wusste, dass Frau Fink so mit Vornamen hieß. Was ihn allerdings auch mal wieder daran erinnerte, dass er hingegen keine Ahnung hatte, wofür das ‚R.‘ bei seinem Lehrer stand. Oder warum ihre stellvertretende Direktorin den mitten in der Nacht anrufen würde.
„Und deshalb rufen Sie ...“, Berger senkte das Handy, wodurch der Schein des Displays das grinsende Gesicht für einen Moment weiter erhellte. Offenbar überprüfte er die Uhrzeit, denn er fuhr anschließend fort: „Deshalb rufen Sie um kurz vor Mitternacht hier an. Ihr Mann wird noch eifersüchtig werden.“
Plötzlich ließ Berger den Kopf hängen und schüttelte ihn. Erik war sich nicht sicher, ob das wirklich ein Lächeln war, was er zu erkennen glaubte. Wenn es da war, verschwand es jedoch, während Berger weiter Frau Fink zuhörte.
„Weder hat er ein Problem, noch ist er eins. Oder macht welche. Das hab ich Ihnen nun wirklich oft genug gesagt“, gab Berger irgendwann grummelig zurück. „Und ansonsten hoffe ich, dass er inzwischen schläft.“
Erik erstarrte. Redeten die etwa über ihn? Schon konnte er spüren, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Zunächst fühlte Erik, wie das wütende Toben im Bauch ansetzte. Doch dann wurde ihm klar, was Berger wirklich gesagt hatte.
‚Er hat kein Problem.‘
Warum ihm die Worte überhaupt etwas bedeuteten, wollte Erik gar nicht wissen, aber irgendetwas an ihnen fühlte sich gut an. Er wünschte sich, dass er hören könnte, was Frau Fink sagte. Realistisch betrachtet würde er aber vermutlich nicht einmal etwas mitbekommen können, wenn er dort draußen auf der Veranda und nicht hier im Zimmer vom Fenster aus lauschen würde.
„Ach nein? Wenn Sie mich das nächste Mal in Urlaub schicken wollen, dann bitte in anderer Begleitung. Andernfalls sehe ich ehrlich gesagt nicht, wo das hier keine Strafe sein soll.“
Diesmal zog sich Eriks Magen unangenehm zusammen. Dass Berger diese Fahrt nicht mitmachen wollte, hatte er ja vorher schon gewusst. Er senkte den Blick und sagte sich selbst, dass er vom Fenster weggehen und sich hinlegen sollte. Hier zu lauschen würde nichts besser machen. Im Gegenteil. Der Tag heute war schon beschissen genug gewesen. Berger zuzuhören, dass der seine Gegenwart dermaßen unerträglich fand, musste nun wirklich nicht sein. Aber er schaffte es nicht, sich loszureißen, und lauschte stattdessen weiter.
„Ich hab doch schon ‚Nein‘ gesagt!“, zischte Berger diesmal ernsthaft sauer ins Telefon. „Es gibt keine Probleme.“
Dann sackte er in sich zusammen und hörte eine Weile nur zu. Wieder wünschte Erik sich, dass er hören könnte, was Frau Fink am anderen Ende sagte.
Bergers nachfolgende Worte waren kaum zu verstehen, aber Erik war sich sicher, dass er flüsterte: „Es gibt nichts, was Sie, ich oder irgendjemand sonst noch für Timo tun könnten. Also lassen Sie es endlich gut sein damit.“
‚Wer zum Teufel ist denn Timo?‘, fragte Erik sich prompt und runzelte die Stirn.
Dass Berger dem Arschloch auf der Promenade nicht völlig abgeneigt gewesen war, hatte er ja schon gesehen. War dieser Timo etwa ...? Schnell schüttelte Erik den Kopf. Nein, die Verbitterung, die er in Bergers Stimme zu hören glaubte, passte nicht dazu, dass er mit wem auch immer irgendeine Beziehung führen würde. Oder wollte.
„Ich bin nicht mehr Ihr Schüler, Sabine“, fügte Berger nach einer weiteren Unterbrechung hinzu, in der Frau Fink wohl etwas gesagt hatte. „Sie können aufhören, sich ständig Sorgen zu machen.“
Da war ein kurzes Lächeln, das Bergers Lippen umspielte, während er wieder Frau Fink zuhörte. „Ich kann nicht“, antwortete er, mit zitternder Stimme. „Ich kann erst aufhören, wenn diese verdammte Woche endlich rum ist.“
Zunächst hörte Berger lediglich zu. Ab und zu zog er an seiner Zigarette. Der gesenkte Kopf schien nicht dafür zu sprechen, dass das Gespräch mit ihrer stellvertretenden Direktorin sonderlich gut verlief. Immer stärker fragte Erik sich, worum es ging. Oder warum Frau Fink sich überhaupt um diese Uhrzeit darum bemühte, einen ihrer Lehrer anzurufen. Aber scheinbar kannte Berger sie ja schon länger.
‚Er war ihr Schüler‘, wurde Erik klar, als er die letzten Worte noch einmal Revue passieren ließ.
„Das weiß ich sehr genau, Sabine,“ fuhr Berger mit einem irgendwie traurig anmutenden Lächeln nach einer Weile fort. „Bis zum Ende der Woche wird sich die Sache von selbst erledigt haben.“
Wieder war da dieser Stich in Eriks Magen. Wie meinte Berger das. Eine kleine Stimme in seinem Kopf behauptete, dass die beiden sich über ihn unterhielten. Allerdings war Erik sich nicht sicher, ob er das gut fand. Irgendwie klang das alles nicht sonderlich positiv, dafür umso verwirrender.
Eine weitere Pause, in der Frau Fink vermutlich etwas sagte, bevor Berger verhalten antwortete: „Ich werde ihn nicht in diese Hölle hinabziehen.“
Erik runzelte die Stirn, während Berger erneut schwieg. Plötzlich flüsterte er heiser ins Telefon: „Sie waren es doch, die mich nicht nur mit dieser Fahrt erst recht ins Fegefeuer verbannt hat, Sabine. Bitte, tun Sie jetzt nicht so, als wollten Sie, dass mich irgendjemand da wieder rausholt.“
Kurz darauf landete das Handy mit einem Klappern auf den Holzdielen der Veranda – vermutlich abgeschaltet. Berger nahm einen letzten Zug von der Zigarette und seufzte hörbar.
„Verdammt ...“, fügte er grummelnd hinzu.
Die Dielen knarrten, als Berger sich erhob und das Handy schnappte. Nachdem er die Tür der Hütte gehört hatte, hielt Erik die Luft an. Würde der Mann gleich in seinem Zimmer stehen, weil er gemerkt hatte, dass er belauscht worden war?
Aber alles, was Erik hörte, war, wie zunächst im Bad das Wasser am Waschbecken lief und kurz darauf Bergers Zimmertür zufiel. Erleichtert atmete Erik auf, nur um sich gleichzeitig zu fragen, was das eben für ein merkwürdiges Gespräch gewesen war.