59 – Unterdrückte Wut
Die Erleichterung, die Erik erfasste, als er den Männern hinterherblickte, raubte ihm für einen Moment die Luft. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr sein Herz raste. Sein stoßweiser Atem brannte in den Lungen, während der anhaltende Regen seine erhitzte Haut gleichermaßen abkühlte.
Nur ganz allmählich setzte Eriks Verstand ein. Kaum war das passiert, wandte er den Kopf nach links und stolperte zu Berger hinüber. Erleichtert stellte Erik dabei fest, dass Berger bereits begann sich aufzurichten. Das konnte hoffentlich nur bedeuten, dass der Dickschädel nicht wirklich schwer verletzt war.
Irgendwo im Hintergrund hörte Erik Alinas Stimme. Aber in den eigenen Ohren rauschte es wie wild, sodass er sie kaum verstehen konnte. Sein Fokus lag ohnehin auf Berger. Der saß zwar inzwischen aufrecht, hielt sich aber weiterhin den Kopf.
Eher unbewusst stellte ein Teil von Erik fest, dass der Regen das Hemd an Bergers Oberkörper kleben ließ. Der deutlich bewusster denkende Part bemerkte, dass man trotzdem auch heute nicht wirklich etwas sehen konnte. Und der Teil, der tatsächlich bei Verstand war, fügte hinzu, dass nichts davon eine Rolle spielte, so lange Berger unverletzt geblieben war.
„Alles okay?“, fragte Erik zögerlich und ließ sich neben seinem verletzten Lehrer auf die Knie fallen.
Vorsichtig hob Erik die Hand und fuhr prüfend damit über die Haare an Bergers Hinterkopf. Als sie sich zwar nicht wirklich trocken jedoch ohne rote Spuren davon lösten, atmete Erik erneut erleichtert auf.
‚Nur der Regen.‘
„Geht schon.“
Bergers Antwort war kaum hörbar und dessen Augen geschlossen, was die Worte wenig glaubhaft erscheinen ließ. Trotzdem hielt Erik sich mit einem entsprechenden Kommentar zurück. Inzwischen hatte er mit der Sturheit dieses Mannes genug Bekanntschaft gemacht, um zu wissen, dass er, zumindest solange Hanna und Alina in der Nähe waren, keine ehrliche Antwort aus dem Kerl herausholen würde.
Der Gedanke erinnerte Erik ebenfalls daran, was sie überhaupt hierher geführt hatte. Mit funkelnden Augen drehte er den Kopf herum und sah zu Hanna. Die stand sichtlich erschüttert ein paar Meter entfernt. Alina war inzwischen bei ihr, hielt den Schirm schützend über beide Mädchen. Hannas Hände verdeckten den Mund und sollten wohl ein Schluchzen unterdrücken, denn ihre Augen sahen reichlich verheult aus. Trotzdem konnte Erik den Tränen, die über ihre Wangen rollten, nicht glauben.
„Was hast du diesmal getan?“, zischte Erik wütend.
Er scherte sich dabei zur Abwechslung kein Stück darum, dass die zwei Mädchen ängstlich zusammenzuckten. Genauso wenig interessierte Erik, dass beide einen Schritt zurücktraten, als er aufsprang.
„Die Kerle sind einfach plötzlich aufgetaucht“, jammerte Hanna unter Tränen. „Sie haben das alles völlig falsch verstanden.“
„Ach ja?“ Es kostete verflucht viel Überwindung, nicht prompt auf die Mädchen zuzustürmen und Hanna am Kragen zu packen.
„Die dachten ... keine Ahnung ... ich ... ich weiß auch nicht. Sie haben so schnell gesprochen und ... ich habe nicht verstanden, was ...“, stammelte sie weiter, während ihr ängstlicher Blick zwischen den drei anderen hin- und her wechselte.
„Schon gut, Hanna“, versuchte sich nun auch Alina einzumischen. „Sie sind ja jetzt weg. Es ist alles okay.“
Diesmal hielt Erik sich nicht zurück, als er die Mädchen anschrie: „Nichts ist okay!“
„Es reicht“, unterbrach ihn weder Hanna noch Alina, sondern ausgerechnet der Dickkopf, der bei diesem Aufeinandertreffen vermutlich am meisten abbekommen hatte.
„Wollen Sie die etwa schon wieder in Schutz nehmen?“, fuhr Erik diesmal Berger an.
Mit weiterhin heftig klopfendem Herzen sah er zu, wie der sture Kerl sich ächzend vom Boden hochkämpfte – um schließlich leicht schwankend stehen zu bleiben. Der verfluchte Regen hatte immer noch nicht aufgehört und die Klamotten klebten nur so an Bergers schlanken Körper. Ein Anblick, den Erik normalerweise ausgesprochen gern länger genossen hätte. Zusammen mit dem weiterhin schmerzverzerrten Gesicht war er aber deutlich weniger angenehm.
„Es war tatsächlich nicht ihre Schuld“, fuhr Berger leise fort. „Die Männer konnten kein Deutsch. Sie dachten, sie würden Hanna beschützen. Und mir haben sie nicht geglaubt.“
Erik presste die Lippen aufeinander, während sich seine Hände schon wieder zu Fäusten ballten. Ganz sicher wollte er Berger nicht schlagen oder auf irgendeine Weise bewusst verletzen. Aber mit dieser an Selbstaufopferung grenzenden Art ging der Sturkopf Erik allmählich auf die Nerven. Wie konnte man dermaßen verblendet sein? Natürlich war es Hannas Schuld! Darüber bestand doch gar kein Zweifel.
„Selbst wenn sie die Kerle nicht aufgestachelt hat ...“ Erik drehte sich erneut herum und sah zu Hanna und Alina. „Wärt ihr beiden Idioten pünktlich am Bus gewesen, hätte nichts hiervon passieren müssen.“
„Erik ...“, setzte Bergers viel zu ruhige Stimme erneut an.
„Nein!“, fuhr er diesmal harsch dazwischen und sah zu Berger.
Der hielt erstaunlicherweise tatsächlich die Klappe und widersprach zur Abwechslung nicht. Allerdings sah er auch nicht so aus, als ob er einsehen würde, dass Erik recht hatte. Für ein paar Augenblicke war das einzige Geräusch das kontinuierliche Plätschern des Regens.
„Ich wollte nicht ...“, setzte Hanna unter Schniefen und Räuspern an.
„Oh, bitte!“, zischte Erik genervt. „Die da weiß vielleicht nicht, was du wolltest, aber dem Rest von uns ist das verdammt klar.“
Diesmal war es Alina, die Erik böse anfunkelte, als sie antwortete: „Was denkst du dir eigentlich?“
„Was ich mir denke?“, fragte er seinerseits mit einem humorlosen Lachen zurück. „Ich denke, dass Hanna gehofft hat, Herr Berger würde für das Prinzesschen den Retter in der Not geben.“ Erik stockte für eine Sekunde, aber die Worte mussten raus, also fuhr er fort: „Wenn einem jemand etwas bedeutet, versucht man, den zu beschützen. Man macht nicht ständig nur einen auf Jungfrau in Nöten und bringt ihn damit erst recht in Gefahr!“
Wieder herrschte Schweigen. Neben dem Regen klang diesmal aber auch Eriks eigener schwerer Atem viel zu laut in seinen Ohren. Er stand mit dem Rücken zu Berger, starrte stur zu Alina und Hanna. Erstere sah ihn geradezu entsetzt an, während Letztere ... Nun ja, Erik war geneigt ihren Ausdruck als ‚beschämt‘ zu bezeichnen. Hoffnung, dass Hanna einsehen würde, wie bescheuert diese Aktion gewesen war, hatte Erik allerdings wenig.
„Wir müssen zurück zum Bus“, hörte er mit einem Mal Bergers Stimme hinter sich.
Langsam drehte Erik sich um und sah zu dem verdammten Sturkopf. In seinem Inneren tobte weiterhin die Wut. Auf Hanna, diese Kerle, aber ebenfalls auf Berger, weil er das hier einfach abtun würde. In diesem Moment verzog Berger allerdings ein weiteres Mal das Gesicht vor Schmerz. Sofort verflog die Wut und machte wieder der Sorge Platz.
„Geht es Ihnen wirklich gut?“
Das beschissene Geräusch, als Bergers Kopf auf den Asphalt geschlagen war, hallte in Eriks eigenen Hirn nach. Wenigstens schien der Sturkopf sich keine Platzwunde zugezogen zu haben. Bei dem Dickschädel konnte man deshalb womöglich tatsächlich hoffen, dass Berger mit einem sprichwörtlichen blauen Auge davongekommen war.
‚Ein reales ist es zum Glück auch nicht‘, dachte Erik bei sich, während er auf Berger zutrat.
Der holte das Handy aus der Hosentasche und tippte irgendetwas darauf herum. Es dauerte einen Moment, bis Erik klar wurde, dass der Kerl garantiert die Kolleginnen wissen ließ, dass sie Hanna und Alina endlich gefunden hatte.
„Wir gehen. Und keine weiteren Verzögerungen mehr“, sagte Berger in Richtung der Mädchen, während er das Handy wieder einsteckte.
„Es tut mir leid“, murmelte Hanna betreten und wischte sich schniefend über das Gesicht. „Ich konnte doch nicht wissen, dass diese Männer auftauchen.“
Erik musste sich auf die Zunge beißen, um ihr nicht direkt eine weitere Erwiderung an den Kopf zu werfen. Selbst wenn sie tatsächlich nichts mit dem Auftauchen dieser Typen zu tun hatte, musste sie irgendetwas getan haben, sodass die Berger angegriffen hatten. Mal ganz davon abgesehen, dass sie inzwischen gut eine Stunde verspätet waren und folglich alle anderen genervt am Bus auf sie warteten.
‚Von wegen unschuldig.‘
„Es ist vorbei. Niemand ist verletzt worden.“ Berger sah zu Erik. „Oder?“
Er verzog das Gesicht, bestätigte allerdings leise, dass ihm nichts passiert war. Dass niemand zu Schaden gekommen worden war, sah Erik dennoch anders. Denn ganz offensichtlich war das zumindest in einem Fall nicht wahr. Wie bereits festgestellt, würde Berger aber sowieso alles abtun. Dennoch nahm Erik sich vor, das Thema spätestens in der Herberge anzusprechen.
Vorerst machten sie sich aber auf den Weg zurück zum Bus. Hanna und Alina teilten sich den Schirm. Da Erik selbst keinen dabei hatte, konnte er damit leider nicht bei Berger punkten. Wenigstens galt das Gleiche offensichtlich für Hanna. Andernfalls wäre die mit dem Ding ja vermutlich längst an Bergers Seite gesprungen.
Missmutig stapfte Erik den Weg entlang. Hanna und Alina liefen auf Bergers Anweisung vorweg. Vermutlich wollte er die beiden im Auge behalten, damit sie nicht ein weiteres Mal abhandenkamen.
„Wie geht es Ihnen wirklich?“, fragte Erik flüsternd, nachdem sie einige Minuten später den Park verließen.
Berger schnaubte leise, zuckte anschließend aber mit den Schultern. Er hob den Kopf und sah zunächst zu den beiden Mädchen, die ein paar Meter vor ihnen liefen. Das Seufzen war kaum zu hören, trotzdem war Erik sich sicher, dass er es sich nicht nur eingebildet hatte.
„Ich bin verprügelt worden, müde, nass und mir ist kalt. Was glauben Sie, wie es mir geht?“
Die Antwort schoss wie selbstverständlich aus Erik heraus: „Beschissen.“
Er war sich ziemlich sicher, dass Berger lächelte, während er zögerlich den Kopf schüttelte. Da Berger aber noch immer neben Erik lief und nicht zu ihm aufsah, konnte er das nicht sicher sagen. Das Gespräch war trotzdem erneut beendet.
Einem plötzlichen Impuls folgend zog Erik den Rucksack von der Schulter und kramte kurz darin herum. Mit einem Lächeln zog er schließlich die Jacke heraus, die er am Morgen vorsorglich eingepackt hatte. Zwar fand Erik den Regen inzwischen auch reichlich unangenehm, wirklich kalt war es nach seinem Empfinden aber nicht.
Wortlos hielt er Berger die Jacke hin. Der sah jetzt doch endlich auf – und Erik entsprechend fragend an. Ohne etwas zu sagen, presste Erik die Jacke Berger gegen die Brust, bis dessen Hand hochkam und sie festhielt.
Das gemurmelte „Danke“ ließ all die negativen Gefühle, die Erik eben noch gehabt hatte, für einen Moment verblassen. Stattdessen war er regelrecht ‚zufrieden‘. Auf eine merkwürdige und verquere Art und Weise. Der Tag war ganz sicher nicht so verlaufen, wie Erik es sich gewünscht hätte.
Aber immerhin hatte er diesmal nicht total versagt.
✑
Als sie schließlich wieder am Bus eintrafen, war es bereits nach sieben. Falls sich jemand darüber wunderte, dass Berger in Eriks deutlich zu großer Jacke auftauchte, sagte diese Person zumindest nichts. Der Rest des Kurses ließ stattdessen Hanna und Alina hören, was sie von deren Orientierungssinn hielten. Die Vorstellung, dass die beiden sich nicht einfach nur verlaufen hatten, schien ebenfalls niemandem in den Sinn zu kommen. Falls doch, sprach sie zumindest keiner aus.
Berger schwieg weiterhin. Erik vor sich herschiebend, stieg er wortlos in den Bus. Die Lehrerinnen hielten den beiden Mädchen für ihre Fahrlässigkeit derweil eine Standpauke. Etwas, das Erik mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nahm, während er von seinem Platz im Bus aus beobachtete, wie die vier Frauen draußen miteinander sprachen.
Was wirklich passiert war, würde vermutlich keiner jemals erfahren. Jedenfalls rechnete Erik nicht damit, dass Hanna und Alina es erzählen würden. Und der Sturkopf neben ihm hatte sich ja ebenfalls nicht dazu geäußert. Der Gedanke, dass Berger Hanna auf diese Weise beschützte, brannte ein Loch in Eriks Eingeweide.
Er biss die Zähne zusammen und drängte die Antwort auf diese Frage so weit in sein Unterbewusstsein zurück, wie er konnte. Dummerweise blieb sie nicht lange dort. Hing vermutlich damit zusammen, dass Erik nass und schweigend neben Berger sitzen musste, während sie sich ein paar Minuten später endlich auf den Rückweg zu ihrer Unterkunft machten.
Egal, wie sehr Erik es drehte und wendete, es gefiel ihm schlichtweg überhaupt nicht, dass Berger Hanna nicht noch im Park endgültig den Riegel vorgeschoben hatte. Wenn er das getan hätte, solange Alina dabei war, könnte Hanna sich später nicht mehr herausreden. Aber Berger hatte geschwiegen und das Gespräch auf unbestimmte Zeit verschoben.
‚Vermutlich wird es nie stattfinden‘, dachte Erik mit einer Mischung aus Trotz und Wut.
Der verdammte Sitz war zu klein, als dass er es sich hätte bequem machen können. Missmutig versuchte Erik sich abzulenken, indem er aus dem Fenster starrte. Leider war die Landschaft nicht sonderlich unterhaltsam. Zumal sie definitiv zu langsam an ihm vorbeizog.
Je mehr Erik versuchte, nicht an Hanna zu denken, desto deutlicher schob sich die schon wieder in seine Gedanken. Vielmehr die Frage, wie viel tatsächlich gefehlt hatte, dass er genauso geworden wäre. Dabei wollte Erik darüber ganz sicher nicht nachdenken.
Sein mentaler Quälgeist schien auf diese Selbstzweifel aber mal wieder recht willig anzuspringen. Denn prompt sah Erik sich selbst, wie er sich erst am Vorabend auf Bergers Schoß gesetzt hatte. Wenn er die Augen schloss, konnte er die warme Hand auf seiner Brust spüren, die er selbst dort platziert hatte. Was Erik im Verlauf des letzten Jahres getan hatte, war an so vielen Stellen unangemessen gewesen, dass der gestrige Abend lediglich den Höhepunkt darstellte.
Genau wie bei Hanna hatte Berger nichts dagegen unternommen. Er hatte es toleriert. Erik bildete sich noch immer ein, dass der Sturkopf der Idee gegenüber selbst nicht abgeneigt wäre, dass Berger ihn nicht ablehnte, weil der verfluchte Quälgeist eben doch recht hatte. War er am Ende trotzdem nur genauso verblendet wie Hanna?
Auf dem Nachbarsitz rutschte Berger unruhig hin und her. Als Erik hinübersah, zog der Mann gerade die inzwischen ebenfalls durchweichte Jacke fester um die Schulter. Der Anblick und das verhaltene Seufzen, das Erik hörte, schmerzten mal wieder beinahe körperlich.
Der Bus stockte. Auf seiner Seite konnte Erik nicht viel erkennen, aber es lag nahe, dass sie den Rückstau der Baustelle erreicht hatten, die sie schon auf der Herfahrt einiges an Zeit gekostet hatte. Frau Farin schien die Unterbrechung der Fahrt nutzen zu wollen und erhob sich aus dem Platz vor ihnen. Sie sah sich zunächst im Bus um und beugte sich anschließend zu Berger hinunter. Dem kritischen Blick aus zusammengekniffenen Augen, der ihn selbst traf, begegnete Erik mit einem falschen Lächeln.
„Was ist tatsächlich passiert?“, fragte die Farin flüsternd.
Erik war nicht der Einzige, der von dem plötzlichen Vorstoß noch während der Fahrt überrascht wurde. Auch Berger blinzelte etwas irritiert und sah stirnrunzelnd zu seiner Kollegin auf. Da Erik quasi nicht überhören konnte, was die beiden besprachen, machte er entsprechend auch keinen Hehl daraus, dass er lauschte.
„Die Mädchen haben den Weg nicht gefunden.“
„Ist das ein Scherz? Die beiden können ja wohl ein Handy bedienen“, zischte Frau Farin gereizt.
„Sie waren im Park. Schlechter Empfang? Zeit vergessen? Nicht rechtzeitig losgelaufen? Wer weiß. Sie haben doch mit den beiden gesprochen. Sagen Sie es mir.“
Die emotionslose Stimme ließ Eriks Blut erneut aufkochen. Das wäre die Gelegenheit wenigstens Frau Farin klar zu machen, wer an dieser ganzen Scheiße vorhin schuld gewesen war. Wieso zum Geier nahm Berger Hanna weiterhin in Schutz?
‚Weil der Dickkopf offenbar in jedem kranken Arschloch, dich eingeschlossen, etwas Gutes sehen und es retten will.‘
Erik schluckte und versuchte, sich wieder auf das Gespräch neben ihm zu konzentrieren. Berger wollte allerdings offensichtlich genau jene Unterhaltung um jeden Preis vermeiden. Das entging Frau Farin ebenso wenig. Das verhaltene Murmeln verstand Erik diesmal nicht. Sie kehrte jedoch kurz darauf zu ihrem eigenen Platz zurück.
Kaum war sie verschwunden, ließ Berger den Kopf nach hinten gegen den Sitz fallen und schloss seufzend die Augen. Als er auch noch ein Stück weiter in sich zusammensackte, war die Sorge in Erik schlagartig zurück.
„Sind Sie wirklich in Ordnung?“, fragte er so leise wie möglich, damit weder Frau Farin, noch die Mädchen auf der anderen Seite des Ganges etwas mitbekamen. Wie oft hatte er das inzwischen eigentlich gefragt?
„Ja.“
Die Frage war wohl eher, wann Berger eine Antwort geben würde, die einigermaßen glaubwürdig klang. Erik biss sich auf die Zunge, um nicht weiter nachzuhaken.
Für einen Moment erlaubte er sich die Hoffnung, dass Berger tatsächlich nichts passiert war, dass er sich bei dem Sturz nicht verletzt hatte und es ihm auch sonst gut ging. Als Eriks Blick aber weiterhin an dem angespannt wirkenden Gesicht hing, wurde diese Hoffnung stetig geringer. Selbst wenn Berger körperlich tatsächlich unverletzt sein sollte, irgendetwas war definitiv nicht in Ordnung. Aber weitere Nachfragen würden garantiert nicht zu einem Erfolg führen – nicht hier, wo andere sie hören könnten.
Deshalb drehte Erik sich eher widerwillig weg und setzte sich richtig hin. Es fühlte sich inzwischen nicht mehr so an, als wäre es ihm diesmal gelungen, diesen Dickkopf neben ihm zu beschützen. Erik blickte auf seine Hände. Dieses beschissene Geräusch, als Berger auf dem Boden aufschlug, ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er schloss die Augen und versuchte, das zunehmend stärker werdende Hämmern in der Brust zu unterdrücken.
‚Du warst rechtzeitig da. Du hast nicht wirklich versagt.‘
Ein genervtes Stöhnen neben ihm riss Erik aus seinen Gedanken. Er öffnete die Augen und drehte den Kopf nach links, um zu Berger zu sehen. Überrascht stellte er dabei fest, dass der zur Abwechslung mal nicht so tat, als würde er schlafen, sondern stattdessen mit kritischem Blick zu ihm zurücksah.
„Es ist nichts passiert, Erik.“
„Seh ich anders“, schoss er sofort zurück – war sich dabei allerdings im Klaren, dass er dieses Gespräch – genau wie Berger – nicht hier und jetzt führen wollte.
Obwohl Erik kein Problem damit gehabt hätte, Hanna ein für alle Mal vor dem Rest des Kurses als das bloßzustellen, was sie in seinen Augen war. Der Gedanke, dass da auch die eine oder andere Wahrheit über Erik selbst ans Licht kommen würde, war in dem Zusammenhang eher nicht willkommen.
Für einen Moment sah es so aus, als würde Berger stattdessen zu einem weiteren Kommentar ansetzen. Er schwieg erwartungsgemäß am Ende aber doch.
‚Zumindest ein Punkt, in dem ihr euch mal einig seid.‘