60 – Schweigende Rückkehr
Der Rest der Rückfahrt in die Herberge verlief schweigend. Und zäh. Nicht zu vergessen stinklangweilig. Die dämliche Baustelle kostete sie zwar nicht so viel Zeit wie auf der Herfahrt, im Stau standen sie trotzdem. Allerdings kamen sie aufgrund der späten Abfahrt um den Berufsverkehr herum und je weiter der Abend fortschritt, desto leerer war die Autobahn.
Obwohl der Tag abgesehen von der letzten Stunde vor ihrer Rückfahrt relativ gemächlich verlaufen war, fühlte Erik sich wie erschlagen. Und so war es vermutlich nicht verwunderlich, dass er irgendwann während der Fahrt wegdämmerte. Ein kurzes Rütteln an seinem linken Arm weckte ihn zu deutlich fortgeschrittener Stunde.
Als sie schließlich in der Herberge ankamen, war es bereits gegen halb elf und jeder froh, dass der Tag endlich zu Ende ging.
Da Berger keine Anstalten machte, sofort aufzustehen, blieb Erik ebenfalls sitzen. Eine andere Wahl hatte er ohnehin nicht. Aus dem Fenster beobachtete er, wie ein Teil des Kurses draußen untereinander diskutierten. Nach einem kurzen Gespräch mit den beiden Lehrerinnen machten sie sich auf den Weg in Richtung Stadt.
‚Vermutlich auf der Suche nach etwas zu essen.‘
Das erinnerte Erik ebenfalls daran, dass er seit dem Kuchen vom Nachmittag nichts mehr gehabt hatte. Für einen Moment überlegte er tatsächlich, sich den anderen anzuschließen, um nicht alleine durch die Stadt irren zu müssen. Aber kaum war der Gedanke da, schob Erik ihn beiseite.
Zum einen kam er hier nicht raus, ohne über seinen Sitznachbarn zu klettern. Zum anderen war er nicht sonderlich versessen darauf, dass Sophie womöglich plante, das Gespräch vom Nachmittag fortzusetzen. Abgesehen davon drehte sich ihm bei dem Gedanken an Hanna ohnehin der Magen um und jeder Appetit war schlagartig vergessen.
Erik lugte nach links. Nachdem der Rest mehrheitlich ausgestiegen war, schickte auch Berger sich an, endlich den Bus zu verlassen. Mal sehen, was dieser für den übrigen Abend plante. Sollte Berger tatsächlich ebenfalls in die Stadt gehen, um sich etwas zum Essen zu besorgen, würde Erik ihn nach dem heutigen Tag sicherlich nicht aus den Augen lassen. Appetit hin oder her.
Kaum war Berger aufgestanden, schnappte Erik sich den eigenen Rucksack und folgte ihm. Dass er sich dabei direkt vor Sandro drängelte, fiel Erik erst auf, nachdem dessen genervte Stimme hinter ihm anfing herumzumaulen.
„Du wirst schon nicht im Bus übernachten müssen“, gab Erik seinerseits gelassen über die Schulter zurück.
Das verräterische Zucken von Sandros Augenbrauen verhieß nichts Gutes. Vor den Lehrern riss er sich aber offensichtlich zusammen. Auf den Stufen spürte Erik jedoch eine Hand in seinem Rücken. So einfach wollte er sich allerdings nicht überrumpeln lassen. Deshalb sprang er die letzten Stufen herab – dabei Berger beinahe in die Hacken, was dieser mit reichlich Verwunderung zur Kenntnis nahm.
„Alles okay mit Ihnen?“, fragte Berger Erik prompt.
Dieser nickte hastig und deutete zum Haupthaus: „Muss aufs Klo.“ Das klang zumindest in den eigenen Ohren nach einer verdammt brauchbaren Ausrede.
Um dieser mehr Wirkung zu verleihen – und natürlich nicht zuletzt, damit er von Sandro fortkam – lief Erik eilig davon. Ein zufriedenes Grinsen huschte über seine Lippen, bevor er sich dessen überhaupt bewusst wurde. Ja, es war vermutlich reichlich dämlich, Sandro so kurz vor dem Ende dieser Fahrt, und damit des Schuljahres, noch einmal zu provozieren, aber es fühlte sich trotzdem gut an.
‚Keine Versteckspiele mehr‘, dachte Erik bei sich.
Vom Durchgang aus sah er noch einmal zu Berger. Der stand bei seinen beiden Kolleginnen und sah nicht sonderlich glücklich darüber aus, mit denen sprechen zu müssen. Garantiert musste er noch einmal für die Geschichte mit Hanna Rede und Antwort stehen. Wobei Erik vermutete, dass die Einzigen, die dort redeten, die beiden Lehrerinnen waren – und Berger sich bei den Antworten entsprechend ebenso zurückhalten würde.
„Wäre besser, wenn er stattdessen endlich mal Klartext reden würde“, murmelte Erik und wandte sich ab in Richtung ihrer Hütte. Berger hatte genervt ausgesehen. Dass er sich anschließend in die Stadt verzog, erschien Erik unwahrscheinlich. So oder so würde Berger aber garantiert irgendwann an der Hütte auftauchen.
‚Hoffentlich eher als später.‘
Eine weiche Matratze klang zunehmend verlockend. Wobei Erik auf Dusche, Bett und Essen gern verzichtete, wenn er stattdessen den Abend mit Berger verbringen und in der Hinsicht endlich etwas vorwärtskommen würde.
Das glucksende Lachen, das in Eriks Brust aufstieg, wirkte merkwürdigerweise sowohl grundlegend falsch als auch vertraut. Dabei hätte er beim besten Willen nicht sagen können, woher dieses Gefühl kam.
Kurz darauf stand Erik im Dunkel der Nacht vor der Hütte und starrte die Stufen hinauf zur Eingangstür. Bis auf das Zirpen irgendwelcher Insekten war nichts zu hören. Jedenfalls keine Schritte, die sich eilig näherten, um endlich aufzuschließen. Erik seufzte und ließ den Kopf hängen.
Er schloss die Augen und versuchte, die Frage zu verdrängen, ob Berger sich gerade eine Rechtfertigung für Hanna aus den Fingern saugte. Beinahe wünschte Erik sich, dass die Farin diesmal nicht lockerlassen würde. Jedenfalls nicht, was Hanna anging.
Selbst wenn die blöde Kuh wirklich nichts dazu beigetragen hatte, dass diese Kerle aufgetaucht waren, war sie schuld an dem Ganzen. Wäre Hanna pünktlich am Bus gewesen, anstatt schon wieder so einen Mist abzuziehen, hätte nichts davon passieren müssen.
Eriks Hände ballten sich an seiner Seite zu Fäusten. Es war Hannas Schuld, also wieso fühlte er selbst sich immer noch so, als hätte er ebenfalls versagt? Er war doch dort gewesen, hatte den Kerl von Berger weggezerrt, dem einen sogar die Nase blutig geschlagen. Erik schluckte und fuhr mit der linken Hand über die noch immer schmerzenden Fingerknöchel seiner Rechten.
‚Berger ist trotzdem verletzt worden.‘
Ja. Und vermutlich war genau das der Grund, warum Erik sich weiterhin dermaßen mies fühlte. Obwohl er dort gewesen war, hatte er es schon wieder nicht geschafft, Berger zu beschützen. Schlimmer noch. Er hätte den Kerl gar nicht erst alleine zu Hanna laufen lassen sollen. Sophie hatte Erik doch gewarnt. Aber anstatt sie ernst zu nehmen, hatte er es als Unsinn abgetan.
‚Hanna muss nicht selbst Hand anlegen, um eine Gefahr zu sein‘, wurde Erik ein weiteres Mal bewusst, während die Szene im Park sich noch einmal vor seinem inneren Auge ausbreitete.
Eriks Kiefer knirschte, als er die Zähne zusammenbiss. In gewisser Weise hatte er eben schlichtweg versagt. Er hatte es zumindest schon wieder nicht geschafft, zu seinen eigenen Worten zu stehen. Die Erkenntnis zog und zerrte an Eriks Eingeweiden, als wollte sie ihn zerfetzen.
Am liebsten würde Erik sich umdrehen und zu den anderen Hütten stapfen. Irgendwo dort war Hanna. Die Vorstellung, sie aus ihrem Zimmer zu schleifen und vor dem ganzen Kurs bloßzustellen war für einen weiteren Moment ausgesprochen verführerisch.
Sollten doch alle erfahren, dass sie Berger gestalkt hatte. Wie sie am Vortag einen verstauchten Fuß simuliert hatte. Nicht zu vergessen, dass sie heute absichtlich nicht pünktlich am Bus gewesen war, damit Berger kam, um sie zu retten. Vermutlich würde das den meisten sauer aufstoßen. Schon allein weil sie wegen Hanna eine Stunde am Bus gewartet hatten. So oder so wäre sie geliefert und würde sich hoffentlich für die restlichen Tage endlich von Berger fernhalten.
Andererseits würde Hanna das wohl mit ziemlicher Sicherheit doch nicht machen. Der Gedanke brachte schon wieder etwas in Erik zum Brodeln. Keine Wut, auch nicht die Verachtung, die er einige Stunden zuvor noch für Hanna empfunden haben mochte. Es war etwas anderes, das Erik wieder einmal nicht richtig einordnen konnte.
„Sie können es einfach nicht auf sich beruhen lassen, oder?“
Die Stimme kam nicht wirklich überraschend, trotzdem fuhr Erik erschrocken zusammen. Nein, er konnte es nicht auf sich beruhen lassen. Weil da noch immer dieser verdammte Druck auf seiner Brust war.
Erik schluckte. Langsam drehte er sich herum und sah zu Berger, der drei Meter entfernt von ihm und somit ebenfalls vor der Hütte stand. Die Hände in den Hosentaschen, der Rucksack auf der rechten Schulter. Obwohl Eriks Jacke Berger deutlich zu groß war, kam er nicht umhin, den Anblick zu genießen. Den Mann in den eigenen Klamotten zu sehen hatte etwas. Aber nicht genug, um die Scheiße vom Abend wettzumachen.
‚So verdammt nah und trotzdem scheinbar unendlich weit entfernt.‘
Egal wie sehr Erik sich wünschte, dass es anders wäre, Berger war weiterhin ein Fremder.
‚Er gehört nicht zu dir‘, flüsterte der Querulant in Eriks Kopf und sprach damit aus, was er selbst nicht in Worte fassen wollte. Das Arschloch hatte ihn ja schon immer gern gequält.
„Erik?“
„Nein, kann ich nicht“, presste er schließlich heraus.
Berger seufzte und fuhr sich mit der Linken durch die Haare. „Es war tatsächlich ein ... Unfall.“
Erik kam nicht dazu, darüber nachzudenken, was er sagte, sonst hätte er womöglich die Klappe gehalten anstatt herauszuprusten: „Naiver Trottel.“
Diesmal lachte Berger, aber es war weder ehrlich noch humorvoll. Ganz im Gegenteil. „Das sagt der Richtige.“
„Hanna hat sich gestern nicht den Fuß verstaucht – und sich heute nicht verlaufen“, fuhr Erik mit einem Knurren in der Stimme fort. „Sie gibt das unschuldige kleine Mädchen, während sie tief in sich drinnen genauso ... gestört ist wie ich.“
Bergers Augenbrauen wanderten nach oben. Eine Antwort kam jedoch zunächst nicht und irgendwie gefiel Erik das. Der Gedanke, Berger tatsächlich für einen Moment sprachlos gemacht zu haben, wirkte derweil wie ein Rauschmittel.
In Eriks Magen begann es zu kribbeln, während der immer schneller werdende Puls als Vibrieren durch seinen Körper wanderte. Es presste die Worte förmlich aus ihm heraus: „Entweder Sie weisen mich endlich richtig ab oder Sie leben damit, dass ich Hanna so einen Scheiß nicht noch einmal durchgehen lassen werde.“
Die Augenbrauen wanderten wieder runter, verengten sich, bis da diese beschissene Falte auf Bergers eben noch glatten Stirn erschien, die ganz sicher nicht für gute Laune stand. Der Sturkopf zog die Hände aus den Hosentaschen und verschränkte die Arme vor der Brust.
‚Streng dich mehr an!‘
„Ich habe Hanna auf dem Seitenweg getroffen“, meinte Berger zögerlich, bevor Erik dazu kam, etwas zu sagen. „Sie wollte ... reden.“
„Na klar“, schnaubte er und stopfte nun seinerseits die Hände in die Hosentaschen, um die geballten Fäuste zu verstecken.
Am liebsten hätte Erik Berger angezischt, dass er selbst ja auch immer nur hatte ‚reden‘ wollen. Gerade noch rechtzeitig konnte Erik sich stoppen. Solche unüberlegten Äußerungen würden seine momentanen Absichten in ein völlig falsches Licht rücken.
Zwar stockte Berger kurzzeitig, fuhr schließlich allerdings fort: „Während ich versucht habe, ihr zu erklären, dass wir zurück zum Bus müssen und keine Zeit für diese ... Spielchen haben, kamen die drei Männer vorbei.“
„Und die haben einfach so angefangen, auf sie einzuprügeln? Aus dem nichts? Wohl kaum.“ Eriks Augen verengten sich. Das klang eher nach einer Ausrede von Hanna.
Berger schüttelte den Kopf und seufzte, bevor er ein weiteres Mal fortfuhr: „Die drei haben kein Deutsch verstanden. Sie dachten, ich würde Hanna belästigen und wollten ihr helfen.“
Nun war es an Erik, die Stirn zu runzeln. Noch einmal rief er sich die Situation im Park in Erinnerung. Bevor er dazu kam, waren zwei der Mistkerle schon dabei, auf Berger einzuschlagen. Der dritte hatte irgendwo bei Hanna gestanden. Allerdings konnte Erik sich nicht daran erinnern, was der Mann bei ihr gemacht hatte.
„Ich will Hanna wirklich nicht fälschlich in Schutz nehmen“, meinte Berger.
Das Grummeln aus Eriks Bauch übertrug sich auf seine Stimme, während er antwortete: „Sie war trotzdem absichtlich nicht am Bus.“
Ein kaum sichtbares Lächeln zog an Bergers Mundwinkeln. „Vermutlich“, gab er zögerlich zu. „Allerdings nicht nachweisbar.“
Erik verzog den Mund, musste aber innerlich zustimmen. Er weigerte sich dennoch geradezu trotzig, Hanna aus der Verantwortung nehmen zu wollen: „Diese Männer, könnte sie ebenfalls vorher getroffen und aufgestachelt haben.“
Schon wieder ein Zucken um Bergers Mundwinkel herum – diesmal antwortete er allerdings nicht. War das tatsächlich ein Lächeln? Obwohl Erik sich nicht sicher war, schien allein die Möglichkeit seine Laune zu verbessern.
Eriks Augen wanderten über Bergers Gestalt, der noch immer einige Meter vor ihm stand. Obwohl der Kerl die Arme inzwischen vor der Brust verschränkt hielt, wirkte das auf ihn mit einem Mal nicht mehr so abweisend wie zuvor.
Erik runzelte die Stirn. „Ihnen ist kalt“, stellte er fest und trat beiseite, um Berger vorbeizulassen.
Zunächst zögerte der, kam schließlich allerdings auf Erik zu – nur um direkt neben ihm stehen zu bleiben. Eine weitere Pause, in der Eriks starrer Blick Bergers Schläfe zu durchbohren schien. Wenn er endlich kapieren würde, was in diesem Dickschädel vorging, wäre das hier alles deutlich leichter. Aber Berger war weiterhin ein Buch mit sieben Siegeln.
Der Mann sah nicht zu Erik auf, nicht einmal in seine Richtung, während er verhalten meinte: „Hören Sie auf, sich in ... diese Sache ... hineinzusteigern, Erik.“
Die Worte schmerzten – mehr, als er zugeben wollte. Bevor Erik jedoch dazu kam, etwas zu erwidern, lief Berger bereits weiter. Hinter sich konnte Erik hören, wie Berger die Stufen hinaufstieg und die Tür zur Hütte aufschloss. Das Gespräch war offensichtlich für beendet erklärt. In Eriks Brust hämmerte es jedoch gewaltig.
Tat er das? Steigerte er sich tatsächlich in eine Illusion herein? War Erik am Ende doch Werther und nicht Albert, wie er es eigentlich wollte? Wenn ja, wo lag sein Fehler? Berger hatte ihn wegen der Aufsätze nicht verpfiffen. Er war am letzten Unterrichtstag so verdammt nah gewesen, dass Erik noch heute ein wohliger Schauer den Rücken entlanglief, wenn er nur daran dachte.
‚Letzte Nacht hat er dich auch nicht vom Schoß geschubst‘, warf eine Stimme aus Eriks Bewusstsein ermunternd in die Runde. Half allerdings nur bedingt, der aufsteigenden Wut in ihm entgegenzuwirken. Es war keine beschissene Illusion!