73 – Sanftes Meer
Sie erreichten die Uferpromenade. Anstatt weiterzugehen, hielt Berger vor der Mauer zum Strand an und blickte aufs Meer hinaus, während er murmelte: „Die wenigsten Menschen gehen heute noch abseits der Feiertage in die Kirche.“
„Warum tun Sie es dann? Sie klangen nicht danach, als ob Sie mit Gott viel am Hut hätten.“
Berger zuckte mit den Schultern. „Hab ich auch nicht. Aber wenn man alleine sein will, hat man in einer Kirche reichlich Gelegenheit.“ Er zögerte einen Augenblick. „Und sollte man doch reden wollen, findet sich auch dafür immer jemand.“
„Hm“, brummte Erik nachdenklich – nicht sicher, was er sagen wollte. Irgendwie klang das logisch und trotzdem falsch. Er jedenfalls konnte sich bessere Orte vorstellen, um allein zu sein, als ausgerechnet eine Kirche.
Plötzlich drehte Berger sich zu ihm und grinste breit. „Außerdem ist es im Sommer da meistens angenehm kühl drinnen, was durchaus seine Vorteile hat.“
Da musste Erik lachen: „Das klingt etwas arg profan, finden Sie nicht?“
Berger drehte sich herum und setzte sich auf die Mauer zum Strand. Den Blick von Erik abgewandt schwieg er zunächst, bevor er sich mit einem deutlichen Seufzen über den Nacken rieb.
„Sie wollten doch, dass ich in Ruhe nachdenke.“
Es war kein Speer, maximal ein Dolch, der sich Erik in den Magen rammte. War trotzdem schmerzhaft. Sollte er das so verstehen, dass Berger sich längst entschieden hatte? Angesichts des Gesprächs, das Erik kurz zuvor belauscht hatte – und der daraus resultierenden Stimmung – konnte er wohl kaum damit rechnen, dass Berger ihn hierher mitgenommen hatte, um für nächste Woche ein Date auszumachen.
„Falls dabei nichts Positives bei rausgekommen ist, denken Sie länger nach“, gab Erik mit gepresster Stimme zurück.
„Sie wissen, dass ich Ihnen Ihre Frage nicht beantworten darf.“
Das ungute Gefühl in Eriks Bauch wurde stärker, zog schon wieder schmerzhaft an seinen Eingeweiden. Die logische Entscheidung hätte bereits am Anfang der Fahrt sein müssen, dass er Berger in Ruhe ließ – ihm nicht mehr nachrannte, dieses Katz-und-Maus-Spiel endlich beendete und sich hoffnungsvolleren Horizonten zuwandte. Der Gedanke daran drehte Erik aber erst recht den Magen um. Denn eines war ganz klar: Er wollte nicht aufgeben. Nicht, nachdem er endlich das Gefühl hatte, sich nicht mehr verstecken zu müssen.
Der Dreier mit Pierre, ein kurzes Intermezzo mit dem Franzosen im Schwimmbad – es wäre unter anderen Umständen einfach gewesen. Er hätte nur aufhören müssen an Berger zu denken. Und trotzdem hatte Erik immer mehr das Gefühl, dass das nicht er selbst gewesen wäre. In den letzten Tagen hatte sich das, was sich im vergangenen Jahr von Abneigung über Geilheit bis zu Neugier gesteigert hatte, noch einmal verändert. Nein. Aufgeben kam nicht infrage – nicht solange da keine ehrliche Abfuhr kam. Das hier war nur ein weiterer halbherziger Versuch, bei dem der Dickschädel nicht ernsthaft erwartete, dass Erik aufgab.
Er sah zu Berger, der mit gesenktem Kopf auf der halbhohen Mauer saß und erneut keinen Ton herausbrachte. Wie schon seit ihrem Aufbruch, wirkte Berger angespannt. Einfach nur von der Herberge und Frau Farin wegzukommen hatte scheinbar nicht geholfen. Oder lag es an der Begleitung? Konnte Berger schlichtweg nicht mehr neben ihm zur Ruhe kommen?
Irgendwie gefiel Erik der Gedanke überhaupt nicht.
Da fiel ihm plötzlich etwas ein, das Berger vor ein paar Tagen zu ihm gesagt hatte. Er lächelte und deutete in Richtung Meer: „Ich glaube, ich würde gern da rüber gehen.“
Verwundert sah Berger auf. Er zog die Augenbrauen nach oben und sah einmal zwischen der dunklen Wasserfläche und Erik hin und her, bevor er fragte: „Tatsächlich?“
Erik zuckte mit den Schultern und sprang mit einem Satz auf die Mauer neben Berger. Von dort war es ein nur unwesentlich tieferer Sprung in den Sand. Ohne etwas zu sagen, stapfte Erik weiter in Richtung Meer. Zum ersten Mal seit Jahren bereitete ihm der Gedanke, in der Nähe eines Gewässers zu sein, kein Unbehagen. Allerdings hatte Erik ganz sicher nicht vor, sich in die Fluten zu stürzen. Er drehte den Kopf und sah über die Schulter zu Berger zurück.
Die Straßenbeleuchtung an der Promenade war nicht sonderlich stark, aber immer noch deutlich heller als das, was davon bis zu Erik an den Strand drang. Berger war auf der Mauer jedenfalls weiterhin gut genug zu erkennen. Der verwunderte Ausdruck, die angespannte Haltung – alles nur zu deutlich. Zum ersten Mal sah Berger tatsächlich aus, als wüsste er nicht, was er tun oder sagen sollte. Das passte schon wieder nicht zu dem Eindruck, den Erik das ganze Jahr über von dem Mann gehabt hatte. Andererseits waren es ja gerade all diese Facetten, die Berger so faszinierend machten.
„Was ist?“, rief Erik also lautstark in Richtung Promenade. „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie jetzt nicht ins Wasser wollen.“
Einen Moment zögerte Berger noch, aber schließlich lächelte er, schwang die Beine über die Mauer und stapfte zwei Sekunden später durch den Sand auf Erik zu.
„Erzählen Sie mir nicht, dass Sie es nicht nur darauf anlegen, dass ich mich ausziehe, Herr Hoffmann.“
„Es ist dunkel und niemand hier“, gab Erik grinsend zurück.
Obwohl die Lichtverhältnisse am Strand deutlich schlechter waren als auf der Promenade, sorgte die sternenklare Nacht dafür, dass Erik Berger trotzdem gut genug erkennen konnte. Insbesondere nachdem der bei ihm angekommen war und geradezu sehnsüchtig auf das Meer starrte. Zumindest bildete Erik sich das ein. Und schließlich hatte Berger vor ein paar Tagen im Schwimmbad gemeint, dass unter Wasser zu sein, ihn beruhigen würde. Es ging hier also überhaupt nicht darum, dass Erik nichts dagegen hätte, noch ein, zwei Blicke auf nackte Haut zu erhaschen – zumindest nicht primär.
„Die Unterhose können Sie ja anlassen, wenn Sie drauf bestehen. Und ich verspreche, keine Fotos zu machen“, meinte Erik grinsend und wackelte mit den Augenbrauen. Sah vermutlich total dämlich aus, aber es brachte Berger zum Lachen. Das reichte.
„Und das soll ich Ihnen glauben?“
Das breite Grinsen, das ihm entgegenstrahlte, gefiel Erik deutlich besser als die bedrückte Stimmung zuvor. Das ungute Gefühl verzog sich allmählich aus der Magengegend, wurde stattdessen mal wieder von einem leichten Kribbeln abgelöst. Eines, das sich offenbar noch nicht ganz entschieden hatte, ob es tiefer oder höher wandern wollte.
‚Besser‘, dachte Erik bei sich und das eigene Grinsen wurde zu einem zufriedenen Lächeln.
Da er selbst ja nicht plante, ins Wasser zu gehen, setzte Erik sich schließlich mit Blick in Richtung Meer an den Strand. Er zog die Turnschuhe aus und drehte sie herum, um den sich bereits jetzt darin ansammelnden Sand auszuschütten. Als Berger sich neben ihn setzte und ebenfalls die Schuhe auszog, sah er den deshalb zufrieden an.
„Na gut“, lenkte Erik ein, um wenigstens einigermaßen glaubhaft rüberzukommen. „Ich verspreche zumindest, die Fotos mit niemandem zu teilen.“
Wieder lachte Berger und das angenehme Kribbeln, das Erik viel zu oft in Gegenwart von dem Sturkopf hatte, breitete sich in seinem Magen weiter aus. Eine Antwort bekam er jedoch nicht und so saßen sie schließlich doch wieder schweigend nebeneinander. Je länger die Stille und Bewegungslosigkeit anhielt, desto unsicherer wurde Erik. Er hatte Berger mit dem Vorschlag einen Gefallen tun wollen. Und für einen kurzen Moment hatte es doch so ausgesehen, als würde Berger darauf eingehen. Was hielt ihn jetzt noch ab?
„Sie haben gesagt, das Wasser beruhigt Sie normalerweise“, meinte Erik zögerlich. „Vielleicht hilft es heute ja auch.“
„Glauben Sie denn, ich müsste mich beruhigen?“
Erik zuckte mit den Schultern. Als sie bei der Herberge aufgebrochen waren, hatte Berger wütend gewirkt. Inzwischen sah er eher niedergeschlagen, vielleicht auch resignierend aus – trotz der zwischenzeitlich besser gewordenen Stimmung. Allerdings bestand noch immer die Möglichkeit, dass Erik sich schlichtweg irrte. Er war schließlich nie der Typ gewesen, der anderen ihren momentanen Gemütszustand ansehen konnte. Und erst recht hatte er nie gewusst, wie er darauf reagieren sollte.
Allmählich schien Berger da aber zu einer Ausnahme zu werden. Wobei es Erik zur Abwechslung auch nicht egal war, was in dem Dickschädel vor sich ging.
‚Weil er dir nicht egal ist.‘
Erik ließ den Kopf hängen. Wenn es so einfach wäre, hätte es doch mit Tom und Dominik ebenso klappen müssen. Die waren ihm schließlich auch nicht gerade am Arsch vorbeigegangen. Na gut, im Nachhinein betrachtet hatte er sich bei Dominik nicht wirklich angestrengt. Und Tom? Der war ihm zumindest wichtiger gewesen als Domi – obwohl noch immer Welten entfernt von dem, was Erik sich bezüglich Berger an Gefühlen einbildete.
Sowohl mit Tom als auch mit Dominik hatte Erik sich monatelang getroffen. Trotzdem hatte er oft genug das Gefühl gehabt, dass er keine Ahnung hatte, was in den beiden vorging. Und entsprechend oft danebengelegen, sodass sie am Ende gescheitert waren. Erik wollte es nicht schon wieder in den Sand setzen. Vor allem nicht, bevor er überhaupt eine echte Chance gehabt hatte.
„Ich glaube, dass Sie die Anspannung loswerden müssen. Und wenn Sie das im Wasser können ...“ Erik deutete auf das Meer vor ihnen. „Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich werde warten.“
Berger zog die Knie an. Seine Arme zogen sich fest darum, als wollte er sich wie ein Igel zusammenrollen. Bei dem Gedanken zog es an Eriks Mundwinkeln, aber das Lächeln kam nicht heraus. Stattdessen wartete er geduldig ab, bis Berger den Kopf zu ihm drehte.
„Wie lange?“
Ein kurzer Stich in Eriks Magengegend, aber die Antwort war trotzdem heraus, bevor er auch nur darüber nachgedacht hatte: „So lange wie Sie brauchen.“
Ein weiterer Moment, in dem Erik das Gefühl hatte, als würde kein einziger Gedanke in seinem Kopf zu einer passenden Synapse finden, um ihn verarbeiten zu können. Eriks Hirn war leer, buchstäblich. Zur Abwechslung mischte sich nicht einmal der Quälgeist ein. Keine unpassenden Bilder, keine dämlichen Kommentare.
Im Hintergrund rauschte leise das Meer, die blöden Sterne leuchteten, irgendwo schien vermutlich auch der Mond – oder Eriks Augen hatten sich endgültig an das Halbdunkel am Strand gewöhnt. Vielleicht waren es aber auch tatsächlich Bergers verdammte Augen, die ihn dermaßen anfunkelten. Sie bohrten sich in ihn, krallten sich mit Widerhaken fest und ließen Erik nicht mehr los.
Nicht, dass er überhaupt hätte entkommen wollen.
Das Lächeln auf Bergers Lippen wirkte aber nicht belustigt, nicht spielerisch, eher traurig und betrübt. Die scheinbar gute Stimmung eben war nur gespielt gewesen, wurde Erik klar. Nur eine Fassade, die Berger aufsetzte.
‚Wie immer.‘
Dabei wünschte Erik sich doch vor allem, dass der Mann diese eine Sache endlich in seinen Dickschädel hineinbekam: Dass dieses Vertrauen, auf Gegenseitigkeit beruhen würde. Er wollte, dass Berger bei ihm genau das gleiche Gefühl hatte – die Sicherheit er selbst sein zu dürfen.
„Sie brauchen sich nicht immer zu verstellen“, meinte Erik – und war erstaunt, wie rau die eigene Stimme klang. Dabei hatte er aufmunternd und bestätigend wirken wollen. Und trotzdem hatte Erik das Gefühl, schon wieder der Trottel zu sein, der einfach nicht die richtigen Worte fand.
War das ein Lächeln auf Bergers Lippen? Ein winzig kleines? Vielleicht. Womöglich. Hoffentlich.
„Sie verstellen sich doch auch die meiste Zeit, Erik.“
Okay, das hatte gesessen und dämpfte das gerade noch aufsteigende Hochgefühl gewaltig ab. Aber Erik war nicht bereit nachzugeben. Berger hatte ihn hierhergeschleift – warum auch immer. Trotzdem war Erik sicher, dass der Sturkopf das nicht aus einer Laune heraus gemacht hatte.
„Nicht bei Ihnen“, widersprach er also.
„Warum glauben Sie das?“
Verwundert runzelte Erik die Stirn, antwortete aber dennoch, ohne groß darüber nachzudenken: „Ich habe Ihnen schon so viel Mist aus meinem Hirn gezeigt. Und Sie haben mich trotzdem nicht aufgegeben. Ich will, dass Sie mich so sehen, wie ich bin.“
„Hm.“
Das Lächeln verschwand und dafür wurde das Ziehen in Eriks Bauch erneut stärker. Berger erklärte sich nicht, wandte sich stattdessen ab und sah wieder aufs Meer hinaus. Die Versuchung, wenigstens den Arm auszustrecken und ihn über Bergers Schultern zu legen, war verdammt groß. Aber Erik widerstand auch der. Nicht, weil es falsch gewesen wäre. Allerdings würde es nicht so rüberkommen, wie es meinte. Da war Erik sich ausnahmsweise verdammt sicher.
„Gehen Sie“, forderte er Berger erneut auf – und zur Abwechslung hatte das rein gar nichts damit zu tun, dass der Kerl sich auf diese Weise hoffentlich heute doch noch ausziehen würde.
„Hab kein Handtuch dabei“, kam die gemurmelte Antwort kurze Zeit später.
Ausreden – davon hatte der Dickkopf ja permanent genug parat. Zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Diesmal würde Erik aber ebenso stur bleiben. Also zog er sich das T-Shirt über den Kopf und hielt es Berger hin.
„Hier. Sie können das nehmen.“ Als auf sein so großzügig ausgesprochenes Angebot keine Reaktion erfolgte, funkelte Erik Berger finster an. „Na los.“
Der senkte den Kopf erneut auf die Knie, sah ihn diesmal aber nicht an. Und griff weiterhin nicht zu dem blöden Shirt. Stattdessen kam nur kaum verständliches Gemurmel aus Bergers Richtung: „Kann doch nicht riskieren, dass Sie sich am Ende sogar noch erkälten.“
„Ich bin hart im Nehmen“, schoss Erik grummelnd zurück. „Außerdem wird mir garantiert heiß genug, wenn Sie sich endlich ausziehen.“
Berger lachte zwar, sah ihn aber weder an, noch griff er nach dem T-Shirt. Mit jeder verstreichenden Sekunde wurde Eriks Arm schwerer, bis er ihn schließlich senkte und resignierend seufzte. Warum musste der Kerl nur weiterhin dermaßen stur sein?
„Wenn Sie da nicht endlich reingehen, sieht meine edelmütige Geste irgendwie reichlich dämlich aus“, murmelte Erik weitere zehn Minuten später, in denen Berger sich immer noch nicht bewegt hatte.
Na gut, wahrscheinlich waren es nur zwei. Erik war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. War es überhaupt noch Donnerstag? Oder schon Freitag und damit seine Zeit hier in Frankreich quasi abgelaufen?
Berger schnaubte leise und sank sogar ein weiteres Stück in sich zusammen. „Sie machen es mir nicht gerade leicht, Erik“, antwortete er irgendwann, den Blick stur aufs Meer gerichtet.
„Sie mir aber auch nicht“, schoss Erik prompt zurück. „Wobei ich Sie dann vermutlich deutlich weniger interessant finden würde.“
Ein weiteres Mal drehte Berger den Kopf. Da war noch immer etwas merkwürdig Trauriges in dessen Blick, während er statt einer Erwiderung fragte: „Also ist es doch nur die Jagd?“
„Nein“, kam Eriks Antwort sofort.
Bergers Arme zogen sich fester um die Knie. „Sicher?“
„Bei einer Jagd würde immer nur einer gewinnen, oder nicht?“
Verwundert runzelte Berger die Stirn, schien für einen Moment zu überlegen, antwortete allerdings nicht. Trotzdem hatte Erik den Eindruck, als würden die angespannten Arme lockerer um Bergers Beine liegen.
„Wenn der Gejagte entkommt, hat der Jäger verloren. Erlegt er seine Beute, ist es umgekehrt. Ich möchte aber, dass wir am Ende beide Gewinner sind. Also kann es keine Jagd sein. Richtig? “
Berger lächelte. „Sie haben das mit der Philosophie scheinbar besser drauf ... Herr Hoffmann.“
Mit einem eigenen Lächeln auf den Lippen hob Erik das Shirt ein weiteres Mal hoch und hielt es Berger direkt vor die Nase. „Gehen Sie. Ich warte.“
Ehrlicherweise rechnete er mit einer erneuten Ablehnung, mehr Ausreden. Wobei Berger davon bisher nicht sonderlich viele präsentiert hatte. Im Wesentlichen lief es doch immer auf diese bescheuerte Lehrer-Schüler-Sache hinaus. Aber Erik hatte dem Sturkopf versprochen, ihn, was die Verabredung anging, nicht mehr zu drängen – wenigstens nicht für den Rest der Fahrt. Vielleicht kam das kaum verständliche Gemurmel deshalb so überraschend.
„Wirklich keine Fotos?“
Über die Antwort brauchte Erik nicht mal nachzudenken: „Natürlich nicht.“
Berger drehte den Kopf und sah ihn mit einem zweifelnden Blick an, der unter anderen Umständen vermutlich eine Beleidigung dargestellt hatte. Aber nach dem, was Erik dem Mann in den letzten Monaten alles an Schweinkram unter die Nase gehalten hatte, durfte er sich darüber wohl nicht beschweren.
Also zuckte Erik mit den Schultern und grinste Berger frech an. „Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass ich den Anblick mit irgendjemandem teilen werde?“
Mit einem Ruck sank Bergers Kopf wieder auf die Knie und ein lautstarkes Seufzen war zu hören. Trotzdem griff er irgendwann blind nach Eriks Shirt und legte es vor sich in den Sand. Kurz darauf öffnete Berger die Knöpfe an den Ärmeln seines Hemdes – es folgten drei weitere an der Knopfleiste. Anschließend zog er es wie ein T-Shirt über den Kopf und legte es hinter sich in den Sand.
Ungläubig, dass der Dickkopf tatsächlich nachgab, starrte Erik auf den sich ihm bietenden Anblick. Nicht, dass ihn der noch sonderlich hätte überraschen können – zumal das Licht von der Promenade mit fortschreitender Zeit immer weniger zu werden schien. Als Berger auch noch aufstand, die Hose öffnete und zunächst über den Po, danach die Beine hinab schob, musste Erik selbst allerdings schlucken.
Die Unterhose ließ Berger an – und Erik war sich schlagartig nicht sicher, ob das gut oder schlecht war. Vermutlich ‚vernünftig‘. Vielleicht sogar ‚erwachsen‘. Irgendwie aber eben doch ziemlich ‚blöd‘. Dafür brachte es Eriks Herz erneut zum Hämmern und die kribbelnden Seifenblasen in seinem Bauch zum Platzen.
Schweigend sah Erik Bergers Gestalt hinterher, als der mit zügigen, aber nicht hastigen Schritten über den Sand lief. Mit klopfendem Herzen beobachte Erik die ersten zurückgelegten Meter im Meer. Kaum war Berger jedoch hüfttief im Wasser, war dieser von einer Sekunde auf die andere verschwunden.
Genau wie Eriks Herzklopfen – und die Atmung.
Er hatte keine Ahnung, wie lange Berger unter Wasser war, ganz sicher wollte Erik es auch niemals herausfinden. Es war definitiv zu lange, als dass er ohne Herzschlag hätte überleben können. Trotzdem fühlte es sich an, als ob Eriks Herz erst wieder anfing zu schlagen, nachdem der dunkle Haarschopf erneut aus dem Wasser auftauchte.
Das Keuchen, das Erik entkam, fühlte sich an wie ein Reißen, das seine Brust zu zerfetzen drohte. Als wäre durch den angehaltenen Atem ein Unterdruck entstanden, dessen sich die Lunge nur schmerzhaft entledigen konnte. Es war vermutlich reichlich erbärmlich, wie Erik japsend und nach Atem ringend dort am Strand saß, während es doch Berger war, der sich prompt noch einmal rückwärts ins Wasser fallen ließ.
‚Reiß dich zusammen!‘, ermahnte Erik sich.
Er schloss die Augen, atmete langsam durch die Nase ein und den Mund aus, bis die Panik abnahm. Der Schmerz verschwand, genauso wie die Anspannung. Fast so, als würde Berger dort im Meer nicht nur sich selbst, sondern auch Erik wieder beruhigen. Dabei war es doch die Tatsache gewesen, dass der Kerl plötzlich vom Wasser verschluckt worden war, die diesen Anfall ausgelöst hatte.
Nachdem Erik die Augen wieder öffnete, war Berger jedoch weiterhin nicht zu sehen. Prompt ergriff ihn weitere Panik. Hastig sprang Erik auf und lief die paar Schritte bis zum Wasser. Ob das Rauschen in seinen Ohren vom Blut oder vom Meer kam, hätte er nicht sicher sagen können. Wie gebannt starrte Erik auf die sanft Richtung Strand verlaufenden Wellen. Wie lange war Berger jetzt schon unter Wasser?
Erik hatte keine Ahnung, aber es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Zögerlich trat er einen weiteren Schritt nach vorn. Die längsten Ausläufer der Wellen berührten bereits seine Zehen und weckten ihn damit aus der Scheinstarre. Erik sah zu Boden, versuchte, die aufsteigende Panik zurückzudrängen.
Es waren nur ein paar Tropfen Wasser. Außerdem konnte Erik schließlich schwimmen. War ja nicht so, als ob er es nie gelernt hätte. Ganz davon abgesehen, dass er nicht gerade klein gewachsen war. Trotzdem krampfte sich alles in Erik zusammen, bei dem Gedanken, dass er hier jeden Moment jämmerlich ersaufen würde, während Berger durch die Wellen tollte.
Ein weiteres Keuchen entkam Erik. Er hob die Hand, aber da war kein Shirt vor seiner Brust, in das er sie hätte vergraben können. Stattdessen spürte Erik nur zu deutlich den eigenen Herzschlag, nachdem er die Handfläche auf seine Brust legte.