70 – Verlorene Ruhe
Schmerz durchzuckte Eriks rechte Hand, als er hineinbiss, um das allmählich nicht mehr zu unterdrückende Stöhnen abzudämpfen.
‚Was würde Berger wollen?‘
Es erschien absurd, ausgerechnet in diesem Moment über so eine Frage nachzudenken. Bei Tom und Dominik hatte er nie wirklich darüber nachgedacht, was die wollten. War aber zugegeben auch nicht schwer zu erraten gewesen. Die beiden hatten es doch bei jedem Besuch von Erik zielsicher darauf angelegt, gevögelt zu werden – Tom noch mehr als Dominik.
Irgendwie passte das aber nicht zu Berger. Angesichts der Aufsätze, die Erik ihm im Verlauf des letzten Schuljahres vorgesetzt hatte, schien allerdings eines relativ klar: Der Sturkopf von Lehrer hatte sicherlich kein Problem mit der Vorstellung, dass Eriks Schwanz endlich nähere Bekanntschaft mit Bergers Kehrseite machte.
Er drehte sich auf den Bauch und vergrub das Gesicht im Kissen. So war das folgende Stöhnen wiederum gedämpft, ohne dass Erik sich weiter die eigene Hand malträtierte. Konnte ihm ehrlicherweise egal sein, wenn er das Bett heute Nacht einsaute. Morgen ging es nach Hause.
Erik kniff die Augen zu, obwohl es mit fest ins Kissen gepresstem Gesicht hier eh gerade nicht viel zu sehen gab. Jedenfalls nichts, das real wäre, denn vor Eriks geistigem Auge tummelten sich ja mehr als genug Bilder. Genau genommen, erfolgte dort gerade ein Szenenwechsel.
Statt im Bad waren sie auf einmal hier im Zimmer. Berger lag unter ihm. Stöhnend und keuchend verlangte dessen heisere Stimme danach, dass Erik endlich aus dem Knick kam. Keine netten Liebkosungen, keine Rücksicht. Der Mann wollte mehr – alles. Schnell und hart. So etwas wie Vorspiel würde erst in der zweiten Runde interessant werden. Eriks Hüfte stieß nach unten in die Matratze, gegen die eigene linke Hand. Aber es war verflucht noch mal nicht das Gleiche.
Erik stöhnte erneut ins Kissen. Scheiß auf irgendwelchen Anstand, er wollte Sex – mit diesem Sturkopf von Lehrer. Nicht mit irgendjemandem. Dieses lächerliche Rumgefummel an ihm selbst war einfach nicht genug.
Um der Realität entgegenzukommen, veränderte sich die Szene vor Eriks geistigen Auge erneut. Wie diese Szenenwechsel zustande kamen, war etwas, worüber man bei der Sorte von Fantasien vermutlich eher nicht nachdenken sollte. Sonst verloren sie an Substanz. Wobei das im Rhythmus seines Herzschlages durch Eriks Schwanz wandernde Pulsieren definitiv nicht substanzlos war.
Das nächste Stöhnen ließ sich nur dadurch unterbinden, dass er förmlich ins Kissen biss. Es fehlte nicht mehr viel. Ruckartig drehte Erik sich ein Stück auf die Seite, um etwas Bewegungsfreiheit zu bekommen. Mit der Rechten griff er nach dem Kissen und zog es erneut unter seinen Kopf um die Geräusche, wenigstens ansatzweise abzudämpfen.
Obwohl er sicher war, dass Berger nur zu gern gevögelt werden wollte – und das bitte auch von Erik – würde das hier vermutlich nicht so wirklich ‚erwachsen‘ rüberkommen. Warum gab der Sturkopf nicht endlich nach?
Weiteres unterdrücktes Stöhnen, Keuchen – kein Ringen nach Atem, aber der zunehmend drängender werdende Wunsch, endlich Erlösung zu finden. Eriks Körper schien sich jedoch zu weigern, tanzte auf der Welle der Erregung wie ein Surfer – und wollte einfach nicht ins Wasser fallen.
Wieder sah er Berger vor sich – unter ihm. Wie dieser sich auf dem Bettlaken rekelte, nach dem gleichen Finale suchte, das Erik selbst gerade anstrebte.
Er krallte die Hand ins Kissen, während die Bewegungen der anderen immer fahriger wurden. Die Augen fest zusammengekniffen, versuchte Erik sich auf das Bild von Berger zu konzentrieren. Nicht, weil er es brauchte. Sondern aus dem einfachen Grund, da die Fantasie nach dem gestrigen Abend so viel realistischer geworden war.
Bergers verhangener Blick voller Erregung, der etwas verlangte, das der zugehörige Mund nicht aussprechen konnte. Eine Wahrheit, die Eriks Geist kaum zu denken wagte. Nein, er würde sich Berger nicht einfach nehmen, wie er es mit Dominik gemacht und wie Tom es von ihm eingefordert hatte. Diesmal wäre es anders.
Es würde nicht darum gehen, wonach es Erik selbst verlangte. Auch nicht um das, was man ihm vorenthielt. Das erschien sogar jetzt, in dieser verfluchten Fantasie, vollkommen klar zu sein. Es war nicht nur Gewohnheitssex wie mit Dominik. Und auch kein Ficken allein um der Lustbefriedigung willen, wie bei Tom. Es sollte mehr sein. Das, was Berger wollte – selbst wenn der womöglich weiterhin nicht mit der Sprache rausrücken würde.
Im Geiste sah Erik, wie seine Finger erneut die Linie quer über Bergers Brust entlangwanderten. Sie war faszinierend, auf ihre ganz eigene Art und Weise. Nicht weil er sie anziehend fand, auf Schmerzen stand oder diese gar jemandem zufügen wollte. Aber sie machte Berger einzigartig – auf so unterschiedlichen Leveln. Eine Vergangenheit, die Erik gern ergründen wollte
Der Mensch in der Gegenwart, der so viele verschiedene Gesichter zu haben schien. Und die Vorstellung aus seinem Aufsatz von einem Partner, der nicht einfach nur jederzeit willig war, sondern bei dem Erik sich keine Gedanken darum machen musste, ob er gerade etwas Falsches sagte, tat oder dachte. Weil dieser Mensch ihn so oder so akzeptierte. In seinem Bett, wie auch im übrigen Leben.
Also würde Erik sich nicht einfach nehmen, was er wollte. Keine reine Lustbefriedigung. Stattdessen würde er sich vorbeugen, einen Kuss stehlen – vielleicht auch zwei. Und sich von dort abwärts vorarbeiten. Ein Biss in die Schulter, um endlich jedem, der es wagte, das verfluchte Hemd zu öffnen, klar vor Augen zu führen, dass dieser Mann bereits vergeben war. Besetztes Territorium, das niemand anzufassen hatte. Nicht einmal darüber nachdenken sollten diese Wichser.
Aber das wäre in diesem Moment egal, denn Eriks Lippen würden zunächst an der breiten, gezackten Spur entlangwandern, bevor sie sich etwa auf Höhe des Brustbeines davon wegbewegten. Stattdessen würde er einer geraden Linie nach unten folgen. Eine kurze Stippvisite beim Bauchnabel, von dem Erik sich schließlich ebenfalls verabschieden würden.
Berger hatte schwarze Haare. Die Brust war unbehaart gewesen – wobei die Narbe einen nicht unerheblichen Ablenkungsfaktor dargestellt hatte. Nichtsdestotrotz zog sich in Eriks Vorstellung vom Bauchnabel eine zunächst schmale, danach breiter werdende Linie an kleinen Härchen bis zum Schritt hinunter. Die Entscheidung, was sich daran anschloss, konnte Eriks Geist weiterhin nicht treffen, denn kaum war er an dieser Stelle angelangt, musste er zunächst ein weiteres Ächzen im Kissen vergraben.
In dem mentalen Porno, der gerade vor seinen Augen ablief, war jetzt eher der Zeitpunkt, an dem jemand anderes stöhnte und keuchte. In der Realität leckte Erik sich über die Lippen, während er seine Zunge in der Fantasie lieber über eine sich ihm erwartungsvoll entgegenstreckende Eichel gleiten ließ.
Es fühlte sich an, als hätte er seit Monaten keinen Sex gehabt, dabei traf das nun wahrlich nicht zu. Trotzdem war da neben dem körperlichen noch ein ganz anderes Verlangen. Eines, das stetig stärker zu werden schien. Berger sollte bitten, drängeln, flehen, weil er es wollte – weil er Erik brauchte.
Ein Knurren entkam ihm, das erneut im Kissen erstickt wurde. Erik brauchte auch so einiges. Mentale Blowjobs zu verteilen konnte leider nur sehr wenig davon wirklich befriedigen. Vielleicht verschob sich deshalb das Bild erneut, sodass Berger unter ihm mit einem Mal anders herum lag und sich in Eriks Geist endlich auch um seine Errektion ein Paar Lippen schloss.
„Fuck, ja“, krächzte Erik atemlos, während er nicht nur mental die Hüften nach vorn streckte.
Leider was das Gefühl der eigenen Hand nicht einmal ansatzweise ein Vergleich dazu, wie es sich in seiner Vorstellung anfühlte, wenn Berger das freche Mundwerk endlich auf angenehmere Art und Weise einsetzte. Erik drehte sich erneut auf den Rücken. Die Bewegungen seiner Linken wurden hastiger.
„Erik? Sind Sie so weit?“
‚Definitiv!‘
Er keuchte. Wie konnte der Kerl eigentlich reden, wenn sein Mund gerade mit ganz anderen Dingen beschäftigt sein müsste? War letztendlich aber egal, es gab genug angenehme Erinnerungen aus Eriks Zeit mit Dominik und Tom, die sein Verstand in diesem Moment heranziehen konnte. Nicht mehr lange. Gleich.
„Kommen Sie?“
„Ja!“
‚Oh, verdammt!‘
Das Herz schlug Erik sprichwörtlich bis zum Hals, während er entsetzt die Augen aufriss. Um genau zu sein, fühlte es sich an, als wollte es ihm gerade aus der Brust springen. Hatte er das laut gerufen?! Und was noch viel wichtiger war: Hatte Berger vorher mit ihm gesprochen?
„Alles ... okay bei Ihnen, Erik?“
‚Scheiße!‘
Obwohl es im Grunde unmöglich erschien, beschleunigte sich Eriks Puls weiter. Mit bebender Brust starrte er auf seine klebrige Linke sowie das eingesaute T-Shirt und beschloss, dass es doch besser war, die Augen wieder zuzumachen. Womöglich konnte er ja einfach so tun, als wäre diese Peinlichkeit nicht passiert.
„Erik?“
„Ja. Alles okay!“, rief er nach Atem ringend zurück.
„Es ist Zeit für das Lagerfeuer“, meinte der fiese Kerl vor der Tür. Erik konnte das Grinsen förmlich hören.
„Ich brauche noch ein paar Minuten.“
Kurzes Schweigen, bevor Berger antwortete: „Ich kann auch warten.“
Diesmal bildete Erik sich das hinterhältige Grinsen in der Stimme garantiert nicht ein. Grummelnd richtete er sich auf und prüfte kurz, ob außer dem T-Shirt auch das Bett etwas abbekommen hatte. Nicht, dass es ihn wirklich interessieren würde, was die Reinigungskräfte der Herberge davon hielten. Wenn die hier reinkamen, wäre Erik schließlich schon lange unterwegs zurück nach Deutschland.
Mit einem leisen Seufzen schloss er kurz die Augen und atmete tief durch, bevor Erik Berger endlich antwortete: „Gehen Sie ruhig vor, ich ko... bin gleich da.“
Erik konnte es selbst kaum fassen, dass er die Worte aussprach. Schon hatte er die linke Hand gehoben, um sich damit über den Nacken zu fahren, als er gerade noch rechtzeitig innehielt. Wahrscheinlich hielt ihn Berger jetzt erst recht für ein pubertierendes Hormonbündel.
‚Der wichst garantiert auch oft genug‘, warf eine geradezu trotzig klingende Stimme in Eriks Kopf ein.
Leider machte es das nicht wirklich besser. Aber daran ließ sich im Augenblick nichts ändern. Also wischte Erik sich die Hand am T-Shirt ab und rappelte sich aus dem Bett auf. Die Hose samt Unterhose auf dem Boden ignorierte er, zog sich stattdessen etwas umständlich das Shirt über den Kopf, in der Hoffnung, dass er sich dabei die allmählich trocknende Sauerei nicht auch noch die Haare schmierte.
„Der Schlüssel steckt in der Eingangstür“, rief Berger derweil aus dem Flur. Wenigstens klang er dabei nicht mehr so, als würde er sich gerade vor Schadenfreude einen ablachen.
„Ja“, gab Erik murrend zurück, während er das T-Shirt auf seine Reisetasche schmiss. Damit war die Menge der noch zur Verfügung stehenden Klamotten auf ein klägliches Maß zusammengeschrumpft. Einen Moment lang überlegte Erik, das letzte verbleibende, saubere T-Shirt anzuziehen, aber das erschien ihm für diesen Abend eher als Verschwendung. Woanders als im eigenen Bett würde die Nacht ja eh nicht enden.
Das Grinsen kam von alleine auf Eriks Lippen. Andererseits konnte niemand vorhersagen, ob da nicht womöglich doch noch ein anderer warmer Körper neben ihm dort landen würde.
‚Dann solltest du besser zusehen, dass Hanna dir nicht zuvorkommt.‘
Scheiße! Bei der blöden Pute wusste er ja weiterhin nicht, ob die jetzt endlich kapiert hatte, dass sie ihre kranken Griffel von Berger zu lassen hatte. Der Gedanke spornte Erik an, sich möglichst schnell in Richtung Lagerfeuer zu begeben. Genau dahin war der naive Dickkopf von Lehrer schließlich derzeit alleine unterwegs.
Den Besuch im Bad tatsächlich als ‚Dusche‘ zu bezeichnen war eine ausgesprochen freie Interpretation dieses Wortes. Trotzdem fühlte Erik sich hinterher sauberer. Mochte aber eher daran liegen, dass seine Gedanken bezüglich Berger inzwischen aus der Gosse raus und dafür wieder deutlicher im Spektrum der Sorge angesiedelt waren.
Da es stetig auf den Abend zuging, entschied Erik sich kurzerhand für die Jeans anstatt der kurzen Hose. Sein letztes frisches Shirt hatte er ja bereits ausgeschlossen, das vom heutigen Tag war aber auch nicht mehr zu gebrauchen. Die inzwischen eingetrockneten Flecken würde er ganz sicher nicht öffentlich herumtragen. Deshalb kramte Erik kurz in der Reisetasche und zog schließlich ein sauber aussehendes Shirt aus der Tasche. Nach einem vorsichtigen Riechtest ging es als ‚akzeptabel‘ durch und war wenige Sekunden später übergestreift.
Noch einmal blickte Erik sich im Zimmer um, aber für heute würde er nichts von den Sachen brauchen. An jedem anderen Abend hätte er zumindest Kondom und Gleitgel eingesteckt, aber das würde er heute mit Sicherheit nicht mehr einsetzen können – jedenfalls nicht bei dem einzigen Mann, der ihn interessierte.
‚Es sei denn, Berger schüttet sich selbst freiwillig zu.‘
Nun ja, die Chance dafür tendierte weiterhin gegen null. Aber da Erik inzwischen bei dem Sturkopf bereit war, jede noch so kleine Möglichkeit ins Auge zu fassen, würde er sich diese hier ganz sicher nicht entgehen lassen. Zumal Erik schließlich auch darauf zu achten hatte, dass Hanna nicht schon wieder Probleme machte.
„Nicht trödeln“, ermahnte er sich laut und packte noch das Handy ein, bevor er sich endgültig auf den Weg machte.
✑
Draußen schien weiterhin die Sonne. Zu dieser Jahreszeit würde es auch für eine Weile so bleiben. Nicht gerade ideal für ein Lagerfeuer, aber bei den Chaoten in seinem Kurs rechnete Erik nicht damit, dass da bis zum Sonnenuntergang auch tatsächlich irgendetwas anderes als die Luft zwischen diversen Leuten brennen würde.
Nachdem Erik die Tür der Hütte verschlossen hatte, machte er sich auf den Weg zu den übrigen Schülern. Schon während er um die Hecke kam, konnte er Lachen und laute Stimmen von der anderen Seite des Haupthauses hören. Erik lief weiter und trat schließlich aus dem Durchgang hinaus auf den Parkplatz.
Nachdem er dort endlich stand, wäre Erik allerdings für einen Moment lieber umgekehrt. Die lauten Stimmen, von denen er zunächst angenommen hatte, dass sie gute Laune verbreiteten, waren tatsächlich ein offenbar recht ausgewachsener Disput zwischen einer ganzen Reihe von Leuten. Wer genau welche Meinung vertrat, konnte Erik nicht sofort ausmachen. Aber offensichtlich ging es darum, dass ein Teil des Kurses sich konsequent vor der notwendigen Arbeit drückte, während der Rest schlichtweg keinen Bock mehr hatte, diese zu erledigen.
Da Erik sich hochoffiziell zu beiden Gruppen zählte, für ihn kein Diskussionsthema, an dem er beteiligt sein wollte. Deshalb blickte er sich lediglich suchend um, in der Hoffnung einen gewissen schwarzen Haarschopf irgendwo zu entdecken. Die einzigen einigermaßen passenden Köpfe gehörten jedoch zu seinen Mitschülern.
‚Wo zum Teufel ist Berger?‘
Schon stieg die Magensäure Eriks Speiseröhre hinauf, da entdeckte er Hanna zwischen den anderen. Wenigstens um die brauchte er sich vorerst keine Sorgen zu machen. Blieb allerdings die Frage, warum Berger nicht hier war. Zwar hatte Erik null Ahnung, wie lange er wirklich zum Duschen und Umziehen gebraucht hatte, viel mehr als fünfzehn Minuten konnten es aber nicht gewesen sein.
Zögerlich trat Erik einige Schritte vor und damit auf die Hütten zu. Vielleicht stand der Kerl einfach nur irgendwo zwischen den Dingern, außerhalb von Eriks Sichtfeld. Von dem Lagerfeuer war schließlich auch noch nichts zu sehen. Wenigstens hatte irgendjemand die Kisten, die er den Berg raufgeschleppt hatte, aus dem Weg geräumt.
Um den weiterhin streitenden Mitschülern nicht über den Weg zu laufen, entschied sich Erik für einen größeren Bogen, außen um die Hütten herum. Immer wieder trat er dabei weiter vor und versuchte, einen Blick auf das Treiben im Inneren des Hüttenkreises zu erhaschen. Das gelang ihm zwar, Berger konnte er dort aber trotzdem nicht entdecken. Nachdem Erik einmal um alle Hütten herumgelaufen war, befand er sich somit buchstäblich wie übertragen da, wo er angefangen hatte. Abgesehen davon, dass Erik inzwischen deutlich besorgter war.
Die Diskussion war abgeebbt, offenbar hatte man sich darauf geeinigt, dass doch jeder etwas zum Abend beitragen würde – auf die eine oder andere Art und Weise. Wer noch nicht geholfen hatte, wurde also dazu verdonnert, sich entweder eine Aufgabe am Feuer beziehungsweise am Grill zu suchen oder als Teil der Abendunterhaltung herzuhalten.
Erik jedenfalls hatte weiterhin keine Lust, sich daran zu beteiligen, solange er nicht wusste, wo sich Sturkopf Berger herumtrieb. Also wandte er sich wieder ab und ging zurück in Richtung Haupthaus. So viele Möglichkeiten gab es ja nicht. Jedenfalls insofern sich Berger noch immer in der Herberge aufhielt.
‚Vielleicht ist er Kippen kaufen gegangen.‘ Eine realistische Möglichkeit. Wobei Erik auffiel, dass er Berger heute noch gar nicht beim Rauchen gesehen hatte. ‚Heißt ja nichts.‘
Zumindest versuchte Erik sich das in den folgenden zehn Minuten einzureden, in denen er sich auf dem Parkplatz und beim Speisesaal nach Berger umsah. Der blieb aber verschwunden. Allmählich brodelte es immer stärker in Eriks Bauch. Irgendwas ging doch hier vor. Da ihm langsam, aber sicher die Ideen ausgingen, versuchte er es noch einmal bei der Hütte, die er sich mit Berger teilte. Zwar wäre es vollkommen hirnrissig, dass der Kerl ausgerechnet dort rumhängen würde, da Erik ja den Schlüssel hatte, aber vielleicht hatte er sich ja am Ende doch nur ein ruhiges Plätzchen zum Rauchen gesucht.
Die Hoffnung war in der Tat vergebens. Deshalb stapfte Erik – allmählich nicht nur besorgt, sondern schlichtweg sauer – zurück zu den Unterkünften des restlichen Kurses. Den anderen Touristen, die reichlich genervt murmelnd dabei an ihm vorbei kamen, ignorierte Erik.
Nur gut, dass sie am nächsten Tag abreisen würden. Mit der zu erwartenden Lautstärke würden sie sich bei den übrigen Gästen nicht beliebt machen.
Im Augenblick interessierte es Erik aber wesentlich mehr, ob Hanna schon wieder versuchen würde, sich bei einem gewissen Deutschlehrer beliebter zu machen. Die sollte bloß nicht auf die Idee kommen, irgendeinen Scheiß abziehen zu wollen!
Wutschnaubend stiefelte Eri kein weiteres Mal an diesem Abend um die Hecke herum, die seine Hütte vom Haupthaus trennte. Mit einem Mal verlangsamte er jedoch seine Schritte. Stimmen waren zu hören. Diesmal allerdings wesentlich näher, vor allem waren es nicht die Chaoten aus seinem Kurs.
„Mir reicht’s!“ Das war eindeutig Bergers Stimme und er klang nicht sonderlich begeistert.
„Bitte warten Sie doch“, rief eine zweite Person und ließ Erik stocken.
„Irgendjemand muss nach den Schülerinnen und Schülern sehen. Und Sie beide halten sich da ja offenbar lieber raus und machen Urlaub.“
Da war aber jemand sauer – und das definitiv nicht auf Hanna, wie Erik es sich gewünscht hätte. Nein, die zweite Stimme, die Berger soeben angemault hatte, war Frau Hirvi gewesen. Nicht sicher, ob er sich einmischen oder lieber davonlaufen sollte, entschied sich Erik für den goldenen Mittelweg – und blieb schlichtweg stehen.
„Herr Berger, bitte! Es ist doch auch in Ihrem Interesse“, versuchte es Frau Hirvi noch einmal, in ihrer üblichen, eher für die Unterstufe geeigneten Tonlage.
Ein merkwürdig schleifendes Geräusch war zu hören, das Erik zunächst nicht einordnen konnte. Nachdem er vorsichtig um die Biegung des Haupthauses herum gesehen hatte, bemerkte Erik, dass Berger mit dem Rücken zu ihm kurz vor dem Durchgang stand. Wahrscheinlich hatte er sich eben auf dem Absatz umgedreht.
Frau Hirvi war nicht zu sehen, aber sie musste direkt vor Berger stehen. Ihre Stimme klang zu nah, während sie fortfuhr: „Mandy ist lediglich ... besorgt.“
„Dann sollte Frau Farin sich vielleicht aus Ihrem Zimmer begeben und sich endlich um den Kurs kümmern, anstatt sich irgendwelche Hirngespinste zusammenzureimen“, zischte Berger gereizt zurück.
Verwundert runzelte Erik die Stirn. Was für eine Laus war dem denn über die Leber gelaufen? Es klang jedenfalls nicht gut für den weiteren Verlauf des Abends. Wenn Berger schon mies gelaunt war, bevor er überhaupt auf Hanna oder Erik traf, war es vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis der Mann explodierte.
Da erinnerte Erik sich mit einem Mal daran, dass Berger während der Wanderung bereits mies gelaunt gewesen war, nachdem die Farin offenbar versucht hatte, ihn bei der stellvertretenden Direktorin wegen Hanna anzuschwärzen. Unsicher zog Erik den Kopf zurück und lehnte sich an die Hauswand, damit man ihn vom Durchgang aus auch ganz sicher nicht sehen würde.
‚Versucht die Farin etwa, Berger schon wieder wegen irgendwas ans Bein zu pissen?‘
„Ich gehe jetzt zu den anderen. Wenn Sie beide es endlich geschafft haben, Ihre Gedanken aus der Gosse zu ziehen, sollten Sie das ebenfalls tun. Wir sind hier nicht auf Urlaub, sondern zum Arbeiten!“
Schritte knirschten auf dem ausgetretenen und staubigen Weg – vermutlich hatte Berger sich erneut umgedreht und Frau Hirvi stehen lassen.
Die seufzte lautstark. „Mit der 7b wäre mir dieser Mist nicht passiert“, wimmerte sie, bevor auch ihre Schritte sich entfernten.
Vorsichtig lugte Erik erneut um die Biegung des Haupthauses herum. Die beiden waren verschwunden. Was auch immer da vorging, es versprach nichts Positives für den Abend. Dabei war ein schlecht gelaunter Berger etwas, was Erik gar nicht brauchen konnte.
„Das sieht nicht gut aus!“, zischte er und hastete los, zurück in Richtung der Schülerunterkünfte. Hoffentlich hatten die Chaoten dort sich allmählich beruhigt und alles halbwegs organisiert. Ansonsten drohte das hier ein verflucht mieser Abschlussabend werden.