79 – Verzögerte Abfahrt
Unruhige wippte Erik vor dem Bus auf und ab. Wenn er wenigstens einsteigen dürfte, würde das kindische Herumzappeln vielleicht nicht dermaßen auffallen. Andererseits konnte er von dort drinnen ebenfalls nur zuschauen – was noch weniger zu sein schien, als hier draußen zu stehen und zu warten. Denn genau das tat Erik seit geschlagenen fünfzehn Minuten. Dabei war es inzwischen zehn Uhr. Aber natürlich standen sie noch immer hier und waren nicht auf dem Weg zurück nach Hause.
‚Hat irgendjemand was anderes erwartet?‘
Erik grinste schief, unterbrach dabei sogar das unruhige Zappeln. Vielleicht hätte er nach dem missglücklichten Gespräch mit Berger bei der Hütte auf weitere vier Tassen Kaffee verzichten sollen. Aber nachdem Erik diesen Aussetzer seinerseits sehr vehement der Müdigkeit und damit einhergehenden fehlenden Selbstkontrolle zugeschrieben hatte, war ‚mehr Kaffee‘ geradezu ein Muss gewesen.
Schließlich würde er die nächsten Stunden neben Berger hocken. Und das auch noch unter den wachsamen Augen von Frau Farin und diverser anderer weiblicher Wesen. Jedes einzelne davon würde ihn vermutlich nur zu gern kastrieren, wenn sie wüssten, was in Eriks Kopf in Bezug auf Berger vorging. Von dem, was er getan hatte ganz abgesehen.
Vorerst führte der Kaffee jedoch lediglich dazu, dass sich zu den anhaltenden Kopfschmerzen und der komischen Watte in Eriks Hirn nun auch noch eine spürbare Übelkeit gesellte. Nicht zu vergessen die Zappeligkeit.
‚Wann geht es endlich los?!‘
Offensichtlich nicht in naher Zukunft, denn außer Erik stand maximal die Hälfte des Kurses hier genauso dämlich herum und wartete. Und zwar auf die anderen, die sich weiterhin in den Schülerunterkünften herumtrieben, Koffer packten, Zähne putzten, überhaupt erst einmal aus dem Bett geholt wurden. Von einer ausgesprochen genervt klingenden Stimme wohlgemerkt.
Nun ja, mit Sicherheit hatte tatsächlich niemand damit gerechnet, dass sie wirklich pünktlich aufbrechen würden. Der inzwischen zu erwartende Umfang dieser Verzögerung war aber vermutlich nicht in der Planung einkalkuliert gewesen.
Erik sah zu den beiden Busfahrern, die mit jeweils einer Zigarette im Mund entspannt ein paar Meter entfernt vor dem Bus standen. Die machten jedenfalls nicht den Eindruck, als hätten sie damit gerechnet, um zehn hier loszufahren.
Je länger Erik zu den beiden Männern blickte, desto mehr erinnerte ihn der Anblick daran, dass da noch gut ein dritter in die Runde passen würde. Ein ganz gewisser Jemand, der im Augenblick nicht hier war. Wobei ‚hier‘ sich tatsächlich auf den Parkplatz bezog. Denn obwohl man Berger nicht sehen konnte, zu hören war er weiterhin mehr als deutlich.
„Jetzt kommen Sie endlich in die Gänge!“, brüllte eben dieser gerade. „Andernfalls können Sie herausfinden, ob Sie es schaffen, bis morgen zur Zeugnisübergabe zu Fuß bis nach Hause zu kommen.“
Das kam eindeutig aus Richtung der Hütten, in denen die Schüler untergebracht waren. Zu sehen war Berger aber nicht. Was Erik ehrlich gesagt im Moment gar nicht so schlimm fand. Denn für die miese Laune von dem Mann war garantiert nicht nur die Unpünktlichkeit diverser Schülerinnen und Schüler verantwortlich. Oder Frau Farin. Erik schloss die Augen und atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
‚Berger hat zumindest nach dem Vorfall vorhin nichts gesagt‘, versuchte Erik sich ein ums andere Mal einzureden, während er weiter zappelnd neben dem Bus stand.
Um seinem Bewegungsdrang wenigstens irgendwie nachzukommen, trat Erik ein paar Schritte auf die Seite. Vielleicht würde es nicht ganz so dämlich aussehen, wenn er stattdessen auf und ab ging.
„Wo wollen Sie hin, Herr Hoffmann?“, zischte es sofort hinter ihm.
„Nirgendwohin“, gab Erik genervt zurück und starrte über die Schulter in Richtung von Frau Farin. „Aber man wird sich ja wohl die Füße vertreten dürfen. Wir sind nachher lange genug in der Konservendose eingesperrt. Sieht auch nicht so aus, als ob wir in den nächsten zehn Sekunden endlich losfahren würden.“
Ihr Blick wurde nicht gerade freundlicher bei Eriks Worten. Und vermutlich hatte sie sogar jedes Recht, bei seinem eher schroffen Tonfall beleidigt zu sein. War ihm aber inzwischen ziemlich egal. Um genau zu sein, fühlte Erik sich schlichtweg zu müde, um auf die Stimme der Vernunft zu hören. Diejenige, die eindeutig sagte, er sollte die Klappe halten und keinen weiteren Ärger für sich oder Berger provozieren.
„Bei Ihrem Talent zu verschwinden, sollten Sie lieber hierbleiben“, zischte die Farin zurück. „Nicht, dass Herr Berger mal wieder auf die Suche nach Ihnen gehen muss.“
Erik zwang sich ein weiteres, wenig erheitertes Lächeln ab und zuckte mit den Schultern. „Im Moment scheint er genug damit zu tun zu haben, andere zu suchen. Also wieso kümmern Sie sich nicht lieber um die als um mich?“
„Was denken Sie ...“, setzte sie erneut an, das Gesicht vor Wut förmlich verzerrt.
„Mandy? Ah, ich meine Frau Farin“, rief in diesem Moment jedoch Frau Hirvi von der Seite.
Kurz darauf schob sie sich zwischen einer Gruppe von Schülern hindurch und kam auf sie zu. Ob die Unterbrechung Absicht oder reiner Zufall war, hätte Erik nicht sagen können. Machte aber keinen Unterschied. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht trat er auf Frau Farin zu. Deren eben noch so wütender Blick wurde mit einem Schlag unsicher. Unter anderen Umständen hätte sich Erik wohl der Magen umgedreht bei der Tatsache, dass ein freudiges Kribbeln bei diesem Anblick seinen Rücken herunterwanderte. Eines, das nichts mit der Art von Erregung zu tun hatte, die er womöglich bei Berger empfunden hatte. Trotzdem gefiel einem Teil von Erik diese Unsicherheit bei Frau Farin ausgesprochen gut.
„Ihr Typ ist gefragt“, raunte er ihr zu.
Prompt war da ein Zittern, das durch sie lief – und ein weiteres Kribbeln, das Eriks Wirbelsäule entlangwanderte. Als ihre Augen kurzzeitig von seinem Gesicht nach unten zuckten, wurde sein Grinsen nur noch stärker.
„Sie ... bleiben ...“, setzte Frau Farin an.
Sie schaffte es aber offenbar nicht, den Satz zu beenden. Stattdessen wandte Frau Farin sich ab und lief hastig die paar Schritte zu ihrer Kollegin hinüber. Sie räusperte sich zunächst und fragte anschließend, was los sei. Das Gespräch selbst verfolgte Erik nicht, aber die Tatsache, dass die Farin es nicht schaffte, noch einmal zu ihm zu sehen, stachelte das freudige Frohlocken in Eriks Innerem weiter an. Er schloss die Augen und versuchte, es zurückzudrängen. Es musste definitiv an der Müdigkeit liegen, dass es ihm nicht gelang, das Arschloch in seinem Kopf dort festzuhalten, wo es hingehörte.
„Fühlen Sie sich jetzt besser?“, flüsterte mit einem Mal jemand neben ihm.
‚War der Kerl nicht eben noch bei den Hüten gewesen?‘
Erik war einigermaßen stolz auf sich, dass er es geschafft hatte, nicht zusammenzuzucken. Die Worte bohrten sich dennoch in seine Brust. Entsprechend drehte er den Kopf mit einem recht gezwungenen Lächeln zur Seite. Leider lächelte Berger nicht zurück, sah ihn nicht einmal wirklich an. Prompt kam das schlechte Gewissen in Erik hoch.
„Etwas“, presste er dennoch heraus – darum bemüht, die Stimme neutral zu halten.
„Mhm.“
Der Stein in Eriks Bauch wurde schwerer, zog ihn, genauso wie seine Stimmung, immer weiter nach unten. Nicht, dass da noch sonderlich viel Fallhöhe vorhanden gewesen wäre. Im Grunde lief Erik hier ja schon seit ein paar Stunden auf dem Zahnfleisch, was sein Nervenkostüm anging.
„Tut m...“, setzte er gerade an, sich zu entschuldigen, als Erik mit einem Mal etwas Warmes an seinem Rücken spürte. Diesmal zuckte er durchaus zusammen. Erst recht, nachdem die Hand ihm kurz darauf auch noch aufmunternd auf den Lendenbereich klopfte.
„Vielleicht sollten Sie im Bus zunächst einmal eine Runde schlafen. Das kann Ihr Gemüt hoffentlich weiter besänftigen.“
Erik biss die Zähne zusammen, um nicht reichlich dämlich im Kreis zu grinsen – oder einen blöden Kommentar abzulassen. Einen in der Richtung, dass ein gewisser Lehrer ihn ganz leicht mit nur zwei, drei Worten stimmungstechnisch auf Wolke Sieben versetzen könnte. Aber das wäre unfair, denn allein die Tatsache, dass er Bergers Hand in seinem Rücken spürte, ließ Erik gerade auf ja bereits auf eben dieser schweben.
Leider verschwand das Gefühl viel zu schnell, nachdem Berger sich erneut abwandte und stattdessen zu den beiden Lehrerinnen hinüberging. Kaum bemerkte Frau Farin ihren Kollegen, warf sie prompt auch Erik einen kritischen Blick zu. Um nicht weiterhin nervös auf und ab zu hibbeln, stopfte dieser die Hände in die Hosentasche und trat ein paar Schritte zur Seite. Dass er dabei ebenso ein Stück näher an die drei Lehrer herankam, war reiner Zufall.
Erik grinste. Wem wollte er eigentlich etwas vormachen? Sicher nicht sich selbst – und Berger garantiert genauso wenig. Vorsichtig schielte er zu Frau Farin, die sah zum Glück diesmal nicht zu ihm hinüber. Aber auch bei der würde die Ausrede nicht mehr ziehen. Da momentan keiner der Lehrer zu ihm hinsah, schob sich Erik ein weiteres Stück in ihre Richtung, bis er schließlich die Unterhaltung verstehen konnte.
„Das ist mir durchaus klar“, meinte Frau Farin gerade zischend. „Aber die Herfahrt hat bereits deutlich länger gedauert als geplant. Wenn wir nicht bald loskommen, wird die Rückfahrt nicht besser laufen.“
„Wir werden doch so oder so irgendwo im Stau stehen.“
„Herr Berger ...“, versuchte Frau Hirvi prompt zu beruhigen. Nicht mal der konnte jetzt noch entgehen, dass die Stimmung reichlich angespannt war.
„Was?“, fragte der gereizt zurück. Worum auch immer es im Gespräch vorher ging, es hatte die eben einigermaßen gute Laune von dem Kerl prompt wieder ins Bodenlose zurückstürzen lassen.
„Es sind nur noch ein paar Stunden. Wir müssen vor den Kindern als Gemeinschaft auftreten.“
Berger schnaubte und schüttelte den Kopf.
„Lisa, bitte. Reiß dich zusammen“, ächzte auch Frau Farin.
Berger beachtete sie jedoch nicht weiter und meinte stattdessen zu Frau Hirvi: „Könnten Sie bitte endlich aufhören, sie ständig als ‚Kinder‘ zu bezeichnen. Die sind alle volljährig.“
„In Ihrem Fall, Herr Berger, wäre es besser, wenn Sie diese Schüler etwas mehr als Kinder betrachten würden“, zischte Frau Farin zurück.
„Mandy ...“
Berger schenkte keiner von beiden weitere Aufmerksamkeit und stopfte stattdessen die Hände in die Hosentaschen. „Dort kommen Herr Claasen und seine Freunde. Damit dürften die männlichen Schüler vollständig sein. Wie wäre es, wenn Sie sich um die Übrigen kümmern?“
Der Blick, den Berger Frau Farin zukommen ließ, hätte abfälliger nicht sein können – jedenfalls nach Eriks Meinung. Der, den Berger von ihr dafür zurückbekam, würde unter anderen Umständen allerdings vermutlich zu tödlichen Stichverletzungen führen.
Bevor eine der beiden Frauen etwas erwidern konnte, trat Berger einen Schritt zurück und ließ sie einfach stehen. Das verächtliche Schnauben von Frau Farin war nicht zu überhören. Und es entging damit auch nicht den anderen um sie herum stehenden Schülern. Sofort kam Getuschel auf. Wenigstens das schien der Farin allmählich unangenehm zu werden. Oder sie hatte beschlossen, Bergers Worten zu folgen. Jedenfalls stapfte sie mit reichlich verkniffenem Gesicht kurz darauf in Richtung der Hütten.
Erik hingegen sah Berger hinterher. Der achtete scheinbar auf niemanden – auch nicht auf das anhaltende Tuscheln rund um sie herum. Stattdessen lief er zu den beiden Busfahrern hinüber. Fast erwartete Erik, dass der Kerl eine Packung Zigaretten aus der Tasche ziehen und sich eine anzünden würde.
Wie automatisch zuckte Eriks Blick suchend über die anderen Schüler. Schließlich fand er Hanna am Rand stehend. Sie unterhielt sich mit einigen Mädchen, sah weder zu Erik noch zu Berger. Hatte sie tatsächlich endlich kapiert, was für eine Scheiße sie gebaut hatte? Irgendwie konnte er das nicht wirklich glauben. Und damit kam prompt das verfluchte Brennen in Erik wieder hoch.
Wenigstens blieb die Farin ihm vorerst fern. Ihre Stimme schallte zwar zwischen den Hütten hervor, zu sehen war sie aber nicht. Frau Hirvi versuchte derweil, den Rest der Gruppe einigermaßen bei Laune zu halten. Das wurde jedoch zunehmend schwieriger, denn nicht nur Erik war reichlich genervt davon, dass sie inzwischen zwanzig Minuten nach zehn immer noch nicht unterwegs waren.
„Wenn Sie Ihre Sachen verstaut haben, steigen Sie schon einmal ein und suchen Sie sich Ihre Plätze“, schallte mit einem Mal Bergers Stimme über die Gruppe hinweg.
Frau Hirvi trat auf ihn zu, blickte dabei unsicher zwischen den Hütten und Berger hin und her. „Sind Sie ... sicher?“, fragte sie verhalten. „Wird die Unruhe im Bus nicht etwas zu viel werden?“
„Ich hoffe doch mal, dass wir demnächst endlich loskönnen“, gab Berger ungerührt zurück.
Ohne weitere Worte ließ er die eine Kollegin stehen und ging stattdessen mit finsterer Miene zu der anderen hinüber, die in diesem Augenblick zwischen den Hütten auftauschte. Frau Farin sah ungefähr ebenso begeistert aus wie Berger selbst. Trotzdem schienen sie sich irgendwie zusammenzureißen – was wiederum Erik nicht wirklich passte.
Auch wenn er Berger nicht unbedingt wütend und mies gelaunt sehen wollte, dass der Kerl sich nach dem dummen Gelaber von der Farin mit der überhaupt noch abgab, passte ihm trotzdem nicht. Scheinbar war das aber notwendig, denn kaum hatten die beiden einige Worte gewechselt, sorgte Frau Farin dafür, dass die Schüler in den Bus stiegen. Die meisten folgten der Anweisung zügig, erleichtert, dass es endlich losgehen würde.
Erik hingegen sah Berger hinterher. Der war auf dem Weg zum Haupthaus. Da der Kerl von allen aus ihrer Gruppe zweifellos am besten Französisch sprach, war garantiert er ausgewählt worden, dem Herbergsleiter die Schlüssel zu geben und zu klären, ob noch irgendwelche Punkte offen waren.
„Steigen Sie ein, Herr Hoffmann“, forderte Frau Farin Erik mit kühler Stimme auf.
Schlagartig begann die Wut erneut zu schwelen, aber er riss sich zusammen. Auch wenn Erik die Frau zunehmend weniger leiden konnte, wäre es unsinnig und reichlich kindisch gewesen, sich einfach nur aus Prinzip zu widersetzen. Noch einmal sah Erik nach Berger, der war aber inzwischen im Durchgang verschwunden. Also drehte er sich zum Bus um und setzte dazu an, sich dem Rest der Meute beim Einsteigen anzuschließen.
„Es wäre sicherlich angebracht, wenn Sie sich für die Rückfahrt einen Platz bei Ihren Mitschülern aussuchen“, flüsterte Frau Farin Erik jedoch zischend zu, während er an ihr vorbeikam.
Ein weiteres Brennen, diesmal in der Brust, ließ Erik die Zähne zusammenbeißen. Was dachte die blöde Kuh sich eigentlich? War ja nicht so, als ob er den Platz neben Berger ursprünglich vollkommen freiwillig gewählt hatte. Erik sah mit finsterem Blick zu seinen Mitschülern. Da würde es nicht viele Veränderungen in der Sitzverteilung gegenüber der Herfahrt geben. Selbst wenn dem so wäre, interessierte es Erik nicht. Ganz sicher würde er sich keinen anderen Platz suchen. Und erst recht würde er nicht riskieren, am Ende womöglich sogar in der Nähe vom Affenkönig zu landen.
„Oh, tut mir leid“, gab Erik deshalb scheinheilig zurück. „Sie sitzen ja direkt vor mir, nicht wahr? Habe ich Sie irgendwie gestört in den letzten Tagen?“
„Sie wissen genau, was ich meine.“
Erik verzog den Mund zu einem reichlich falschen Grinsen. Im Grunde genommen wollte er nicht einmal wissen, was im Kopf dieser Frau vorging. Aber vermutlich bewegte es sich in eine ähnliche Richtung wie die, in der Eriks mentalem Arschloch so oft gedacht hatte.
„Es tut mir wirklich leid, Frau Farin“, gab er ruhig und weiterhin lächelnd zurück. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden.“
Um jeder weiteren Diskussion aus dem Weg zu gehen, lief Erik um sie herum und drängelte sich auch noch an einigen Mitschülern vorbei in den Bus. Erst als er auf seinem üblichen Platz in der zweiten Reihe am Fenster saß, wurde Erik bewusst, wie heftig sein Puls in die Höhe geschossen war. Als er nach draußen sah, stand dort noch immer Frau Farin und drängte die verbliebenen Schüler, sich wenigstens beim Einsteigen zu beeilen.
‚Es ist dämlich, sie zu provozieren‘, wies Erik sich selbst zurecht.
Trotzdem kam er nicht umhin, eine gewisse Zufriedenheit zu verspüren. Ja, vermutlich war es dämlich. Und kindisch und albern gleich noch dazu. Aber es fühlte sich so verdammt gut an, dass es Erik egal war. Deutlich interessanter war ohnehin Berger, der einige Minuten später wieder auftauchte, nachdem alle Schüler längst im Bus waren.
Frau Farin stand noch immer draußen, verzichtete diesmal jedoch darauf, Berger erneut abzufangen. Stattdessen stiegen sie zusammen sein. Eigentlich erwartete Erik, dass ihn ein wütender oder zumindest kritischer Blick von Frau Farin treffen würde, während die sich auf ihren Platz vor ihm begab. Tatsächlich ignorierte sie Erik jedoch. Etwas verwundert sah er deshalb zu Berger. Der achtete allerdings genauso wenig auf ihn, ließ stattdessen einen prüfenden Blick durch den Bus wandern – vermutlich um die Schüler zu zählen, damit sie am Ende nicht doch noch jemanden vergaßen.
„Alle da“, meinte Berger in Richtung seiner beiden Kolleginnen. Er drehte sich zum Fahrer um und rief dem zu, dass sie endlich loskonnten, bevor er sich auf seinen Platz neben Erik setzte.
Das erleichterte Seufzen Bergers war kaum zu überhören, trotzdem wartete Erik, bis sie auf der Autobahn waren und der Lärmpegel im Bus entsprechend angewachsen war, bevor er Berger ansprach.
„Alles in Ordnung?“, fragte er leise.
„Sicher.“
Irgendwie klang das nicht sonderlich überzeugend. Prompt wanderte Eriks Blick zum Sitz vor ihm. Wenn er die Knie hob und dagegen drückte, würde die Fahrt sicherlich deutlich unbequemer für Frau Farin werden. Aber das wäre natürlich wieder reichlich kindisch – und das wollte Erik ja nicht sein.
„Tut mir leid“, flüsterte er stattdessen.
Das Gequatsche um sie herum und die aus den Lautsprechern dudelnde Musik dürften hoffentlich laut genug sein, damit die Damen vor ihnen das Gespräch nicht mitbekamen.
„Hören Sie endlich auf, sich ständig zu entschuldigen“, gab Berger zurück – leise genug, dass es selbst Erik kaum verstand.
Prompt blubberte es schon wieder in ihm. Diesmal war es jedoch keine Wut, die da gärte, sondern dieses ominöse Kribbeln im Bauch. Die Seifenblasen, die zerplatzten und mit jedem weiteren ‚Plopp‘ einen Schauer über seinen Rücken jagten. Er konnte nicht anders, als nickend zu lächeln.
Langsam drehte Erik den Kopf wieder in Richtung Fenster. Die stets gleiche, vorbeiziehende Landschaft wirkte zusätzlich beruhigend. Um ihn herum schienen die Stimmen leiser zu werden, dafür die Musik lauter. Erik schloss die Augen und versuchte, sich auf den Text zu konzentrieren. Aber seine Gedanken glitten immer wieder davon, wanderten ins Nirwana, wo sie keinen Halt mehr fanden.
Und irgendwann wurde es dunkel.
✑
„Gibt’s hier nicht irgendwo Mäckes oder was in der Richtung?“
Ruckartig zuckte Eriks Kopf nach oben. Sofort bereute er die Bewegung und verzog vor Schmerz das Gesicht. Warum zum Geier tat ihm der Nacken dermaßen weh?
Verschlafen gähnte er und versuchte, sich zu orientieren. Es dauerte trotzdem einen Moment, bis Erik klar wurde, dass er noch immer in einem viel zu kleinen Sitz mit deutlich zu lauten Mitschülern saß. Und offensichtlich hatte er es dennoch geschafft, mehrere Stunden zu verschlafen. Zumindest nahm Erik an, dass seit ihrem Aufbruch einige Zeit vergangen sein musste, denn der Bus fuhr soeben die Abfahrt zu einem Rastplatz hinunter.
„Du wirst schon irgendwas zu essen finden, Olli. Jetzt stell dich nicht so an.“
Weiterhin nicht ganz klar im Kopf rieb Erik sich über den Bauch und versuchte, die Beine auszustrecken. Leider waren die Abstände zwischen den Sitzen dafür zu klein. So endete der Versuch lediglich in einem genervten Stöhnen seinerseits.
„Die Baustelle hat uns schon genug Zeit gekostet. Wir werden sicherlich nicht noch länger warten, bis es etwas zu essen gibt.“
Irritiert sah Erik sich um. Es fühlte sich an, als müsste jeder Gedanke erst einmal durch einen Schlammsumpf kriechen, bevor er es bis in sein Bewusstsein schaffte. Die Worte um Erik herum klangen nicht danach, als ob sie sonderlich vorwärtsgekommen waren. Vorsorglich suchte er nach der Uhr im vorderen Bereich des Busses. Tatsächlich behauptete die Digitalanzeige, dass sie bereits vier Stunden unterwegs waren.
Erik räusperte sich und fragte heiser krächzend: „Wo sind wir?“
„Weiterhin in Frankreich“, kam prompt die Antwort von seinem Sitznachbarn.
Blinzelnd blickte Erik nach links. Berger sah ihn nicht an, wirkte allerdings deutlich wacher als Erik selbst. Was aber womöglich nicht verwunderlich war, schließlich hatte der Kerl letzte Nacht zumindest ein paar Stunden Schlaf bekommen. Während er selbst diese ja lieber damit zugebracht hatte, Berger anzustarren. Ein kurzes Grinsen huschte über seine Lippen.
‚Gibt schlechtere Arten, die Zeit totzuschlagen.‘
Die nächsten Minuten würden sie jedenfalls zunächst einmal auf dem Rastplatz zubringen. Denn obwohl sie ohnehin die Plätze tauschen würden, bestanden die Fahrer auf ihre Ruhezeit, bevor sie sich auf das nächste Stück des Weges machen würden. Als Erik auf dem Handy ihre aktuelle Position und die zu erwartende restliche Fahrzeit prüfte, war ihm klar warum. Sonderlich pünktlich würden sie garantiert nicht ankommen.
Kaum hatte der Bus auf dem Parkplatz gehalten, stürmten auch schon die Ersten hinaus. Frau Hirvi schaffte es gerade noch, ihnen hinterherzurufen, dass sie pünktlich in einer Stunde wieder hier zu sein hatten. Erik grinste, weil es vermutlich nur eine Person in ihrer Reisegruppe gab, die tatsächlich daran glaubte, dass das passieren könnte. Zumindest sollten die Leute an einer Autobahnraststätte diese Art von Ansturm gewöhnt sein. Trotzdem erschien es angesichts der Erfahrungen in den letzten Tagen illusorisch, dass sie in einer Stunde mit dem Essen fertig sein würden.
Der Gedanke machte Erik bewusst, dass er selbst nicht wirklich Hunger hatte. Bis zur nächsten Rast würden aber vermutlich weitere vier Stunden vergehen – jedenfalls insofern die Fahrer diese Reise einigermaßen pünktlich durchziehen wollten, um nicht allzu spät daheim anzukommen.
„Alle raus“, rief in diesem Moment einer eben dieser Fahrer. „Wir schließen ab und sind ebenso beim Essen.“
Genervt stöhnte Erik. Trotzdem erhob er sich und verließ hinter Berger schließlich als Letzter den Bus. Der schien genauso viel Lust auf das Restaurant zu haben wie Erik – nämlich gar keine. Ein Besuch der Toilette im Rasthof klang allerdings erbaulicher als die Aussicht, sich in spätestens zwei, drei Stunden auf das Klo im Bus zwängen zu müssen. Andererseits wäre jetzt die Gelegenheit, noch einmal mit Berger alleine zu reden. Ohne störende Mitschüler oder Frau Farin, die sich gleich wieder irgendetwas daraufhin zusammenspinnen würde.
„Sie sollten ebenfalls etwas essen“, meinte Berger gelassen und deutete zum Restaurant. „Es sieht so aus, als ob wir noch eine Weile unterwegs sein werden.“
„Sie hatten auch nicht gerade ein reichhaltiges Frühstück“, gab Erik ungerührt zurück.
Trotzdem setzte er sich in Richtung des Restaurants in Bewegung – und tatsächlich folgte Berger. Die Hände in den Hosentaschen, mit verkniffenem Gesicht, sah der Mann allerdings alles andere als begeistert aus. Das verfluchte Rumoren in Eriks Bauch setzte daraufhin schon wieder ein. Leider kein Hunger. Vielmehr verdarb es ihm endgültig den letzten Appetit. Wäre da nicht weiterhin die Sache mit der Toilette, hätte Erik am liebsten auf der Stelle umgedreht. Wo er wartete, war schließlich egal.
„Es ist besser, wenn Sie bei der Gruppe bleiben“, meinte Berger verhalten, als hätte er Eriks Gedanken gelesen.
Bevor er sich stoppen konnte, hatte er bereits zurückgefragt: „Für wen?“
Zunächst kam keine Antwort. Aber während Erik zu Berger hinübersah, war dessen Gesichtsausdruck nicht mehr so verkniffen, als er schließlich antwortete: „Ich schätze ... für alle.“
„Damit Sie mich nicht wieder suchen müssen?“
Achselzuckend drehte Berger den Kopf zu ihm und meinte: „Ich hab Sie nie gesucht.“
Mit einem Mal war da ein Lächeln auf Bergers Lippen. Zaghaft, schüchtern – diese ungewohnte Seite, die so gar nicht zu dem selbstbewussten Lehrer oder dem sexy Badboy passten. Und trotzdem brachte gerade sie Eriks Herz zum Rasen – und die Seifenblasen im Bauch zum Platzen.
„Mitunter suchen wir Dinge, die wir niemals finden können. Dafür finden allerdings teilweise etwas anderes, obwohl wir es nie gesucht haben.“
Erik runzelte die Stirn, nicht sicher, was er davon halten sollte. Vielleicht war er auch schlichtweg zu müde. Irgendwie kam er trotzdem nicht umhin, darauf zu hoffen, dass er selbst hier dieses ‚etwas‘ war, das Berger zwar nicht gesucht, aber dennoch gefunden hatte. Und so war seine nächste Frage heraus, bevor Erik wusste, dass er sie überhaupt gedacht hatte.
„Ist das etwas Gutes?“
Wieder hoben sich Bergers Schultern – diesmal dauerte es allerdings länger, bis sie sich erneut senkten. Scheinbar war diese Entscheidung nicht ganz schnell zu treffen.
„Ich weiß es nicht“, meinte Berger schließlich. „Aber ich würde hoffen, dass es nichts Schlechtes ist.“