71 – Letzte Vorbereitungen
Die Befürchtung, dass Berger bereits keifend und brüllend zwischen den Schülern des Kurses stehen würde, stellte sich überraschenderweise als unbegründet heraus. Etwas verwundert eilte Erik dennoch weiter – nur um festzustellen, dass die im Moment herrschende Ruhe ihn nicht wirklich beruhigte. Denn der Anblick, der sich ihm bot, war eher besorgniserregend.
Sofort beschleunigte Erik die Schritte. Mit den Händen in den Hosentaschen wich er einem Mädchen aus, das an ihm vorbei in Richtung Haupthaus hastete. Eriks verräterisches Herz hielt sich im Moment glücklicherweise mit irgendwelchen Aussetzern zurück – genauso wie mit dem Turbomodus. Lange würde das aber nicht anhalten. Jedenfalls nicht, wenn die blöde Kuh Hanna nicht endlich etwas mehr Abstand zwischen sich und Berger brachte!
„Hat denn keiner von Ihnen jemals ein Lagerfeuer gemacht?“, fragte der gerade lachend in die Runde.
Die Tatsache allein, dass Berger es schaffte, zu lachen, nachdem er eben noch Frau Hirvi dermaßen angefahren hatte, drehte Erik den Magen um.
Dieses falsche Spiel war einfach grauenhaft. Wenn Berger sauer und angefressen war, sollte er sich gefälligst die Zeit gönnen, um runterzukommen, anstatt weiterhin allen den netten und lieben Lehrer vorzuspielen.
„Wieso? Sieht doch ganz gut aus“, warf Hanna mit einem zögerlichen Lächeln ein.
Am liebsten hätte Erik ihr ins Gesicht gesagt, dass sich niemand für ihre unqualifizierte Meinung interessierte. Aber erstens wäre das reichlich blöd vor all den anderen rübergekommen. Und zweitens war Eriks eigene Meinung wohl kaum fundierter als ihre.
Wenigstens sah Berger Hanna nicht mal an, während er antwortete: „Also daraus können Sie bei der Stammhöhe vielleicht ein Tipi bauen, aber für ein Lagerfeuer ist das eher kontraproduktiv. Es sei denn, Sie planen hier alles abzufackeln.“
Erik trat neben Berger und betrachtete nun seinerseits die Kreation seiner Mitschüler. Es sah in der Tat reichlich skurril aus. Der Tipivergleich war gar nicht so schlecht, wobei es vermutlich auch als abstrakte Kunst etwas hergemacht hätte. Nicht, dass Erik davon Ahnung gehabt hatte – Kunsterziehung hatte er ja nicht grundlos im Kurssystem abgewählt. Aber die fast zwei Meter langen, eher wie junge Bäume wirkenden Holzstämme, waren ganz sicher nicht für ein einfaches Lagerfeuer geeignet.
„Wer kann da denn etwas aushelfen?“, fragte Berger mit einem Lachen in die Runde – nur um seinen Blick am Ende auf Erik ruhen zu lassen. Prompt schlug dessen Herz ein Stück schneller. Sollte er das etwa machen?
Aus dem Augenwinkel konnte Erik ein zufriedenes Lächeln auf Hannas Lippen sehen. Wenn die glaubte, er würde sich um irgendwelche blöden Holzscheite kümmern, während die hier frei rumlief, hatte Hanna sich aber geschnitten.
„Warum fragen Sie nicht Mirek?“, rief Erik lautstark und sah sich um. Als dessen Kopf mit einem Mal aus einer der Hütten herausschaute und ihn total verwirrt ansah, lächelte Erik Mirek mit dem Charme eines Säbelzahntigers an und rief ihm zu: „Ehrlich. Er ist der absolute Meister, wenn es darum geht, ein Lagerfeuer in Gang zu bekommen.“
„Alter! Was soll der Scheiß?“, maulte Mirek mit gerunzelter Stirn und wenig Begeisterung zurück.
Erik drehte den Kopf zu Berger und rang sich ein Lächeln ab: „Ich glaube, ich spiele lieber mit anderen Feuern.“
„Hey!“, rief es erneut aus Mireks Richtung, der sich jetzt doch aus der Hütte bequemte und beleidigt weiter herummaulte, während er auf Erik und Berger zu stapfte: „Ich hab schon beim Aufbau der Grills geholfen. Mach das scheiß Feuer doch selbst.“
„Du hast zwei klapprige Metallgestelle von irgendwo geholt und hingestellt. Ich hab die blöden Getränkekisten hier raufgeschleppt“, fauchte Erik seinerseits gereizt zurück.
Ganz sicher würde er sich nicht von Bergers Seite verabschieden. Und schon gleich gar nicht für ein dämliches Feuer, das frühestens in zwei Stunden einigermaßen Stimmung verbreiten würde. Wobei es zugegeben vermutlich ebenso lange dauern würde, bis das Ding richtig in Gang kam – jedenfalls wenn man von der wirren Holzskulptur ausging, die irgendein Trottel da hingestellt hatte.
„Schade. Ein anständiges Lagerfeuer hätte so eine ... nette Stimmung für Ihren letzten Abend hier gebracht“, meinte Berger unbeirrt – und vor allem schon wieder so verflucht sexy lächelnd.
Stand der Kerl auf solche Sachen? War ein Lagerfeuer etwa romantisch oder so einen Kram? Das würde zumindest erklären, warum Typen, die Erik früher ‚Freunde‘ genannt hatte, in den letzten Jahren auf ihren Treffen im Sommer ständig irgendwelche Weiber angeschleppt hatten.
Wie automatisch zuckte Eriks Blick zu Mirek, der sich Bergers Worte offenbar gerade durch den Kopf gehen ließ und unsicher geworden zur Feuerstelle blickte. Beinahe sah sich Erik doch noch zu dem blöden Holz stürzen und es zum besten Lagerfeuer überhaupt aufstapeln. Seine Augen wanderten zurück zu Berger. Da war weiterhin dieses kleine hinterhältige Grinsen, das hinter dem Lächeln hervorzublitzen schien.
‚Der verarscht dich doch!‘
„Vielleicht kann ich ... dir ja helfen, Mirek“, meinte in diesem Moment ein überraschend dünnes Stimmchen hinter Berger. „Ich ... mach das gern.“
Für einen Augenblick war Erik sich nicht sicher, ob Bergers Lächeln tatsächlich eine Spur trauriger wurde. Verwirrt runzelte Erik die Stirn. Bevor er etwas sagen konnte, war Hanna allerdings zu Mirek getreten und zog den am Arm in Richtung Feuer. Die eigenen Augen weiterhin auf Berger gerichtet, versuchte Erik zu erraten, was der darüber dachte. Hatte der Kerl etwa wirklich gewollt, dass Erik das machte?
Blöderweise würde er wohl kaum eine Antwort bekommen, falls er fragte. Aber diesen stechenden Blick aus Bergers Augen hielt Erik nach der mentalen Privatvorstellung vom Nachmittag im Augenblick nicht stand. Also sah er, weiterhin verunsichert, Mirek und Hanna nach – zu denen sich zusätzlich eine plötzlich extrem motiviert erscheinende Sophie gesellte.
„War das mit Absicht?“, murmelte Erik, bevor ihm klar wurde, dass er es laut ausgesprochen und nicht nur gedacht hatte.
„Natürlich“, gab Berger leise zurück. „Irgendjemand muss ja dafür sorgen, dass wir heute Abend ein Feuer haben. Und sei es nur für die Stimmung.“
Für die würde Erik ja lieber irgendwo anders sorgen – definitiv bevorzugt unter vier Augen. Aber das konnte er jetzt natürlich nicht sagen. Dafür standen zu viele Leute in der Nähe, die ihn hätten hören können. Allen voran Sandro, der lachend und gut gelaunt aus einer der Hütten getreten war. Sein Arm lag über Ines Schulter, deren Stimmung aber auf Erik deutlich weniger begeistert wirkte.
„Sie sollten den letzten Abend nutzen“, murmelte Berger mit einem Mal neben Erik.
Der lächelte, während er sich zu Berger drehte und die Hände in die Hosentaschen schob. „Heißt das, Sie haben sich entschieden?“
Wenn er es nicht besser wüsste, hätte Erik Stein und Bein geschworen, dass Berger beschämt aussah, während er langsam den Kopf schüttelte und antwortete: „Sie sollten den Abend nutzen, um diese Fahrt endlich als das zu betrachten, was sie ist.“
Nicht ganz sicher, was Berger damit meinte, runzelte Erik die Stirn: „Und was wäre das?“
„Der Schlussstrich unter Ihre Schulzeit.“
„Genau!“, schallte es mit einem Mal von der Seite. „Nicht, dass irgendjemand uns den Abschluss jetzt noch nehmen könnte.“
„Du kannst doch froh sein, dass du überhaupt bestanden hast, Olli“, rief es prompt aus Richtung einer der Hütten und entfachte damit die nächste – wenn auch von Lachern unterbrochene – Diskussion.
Obwohl sich innerhalb von gefühlten drei Sekunden so ziemlich jeder zu zoffen schien, lachten sie auch alle. Die Stimmung war gut, deutlich besser, als bevor Berger hergekommen war. Trotzdem konnte Erik es nicht nachvollziehen. Worüber freuten sie sich?
Den Abschluss hatten sie so oder so in der Tasche, der Abend würde in der Tat nichts ändern. Und die meisten von ihnen würden sich nach ihrer Rückkehr nicht wiedersehen. Es sei denn, sie trafen sich an der Uni, im Supermarkt oder sonst irgendwo auf der Straße. Zufällig. Was bei der sechsstelligen Einwohnerzahl ihrer Heimatstadt nicht unbedingt wahrscheinlich war.
Für einen Moment dachte Erik darüber nach, ob die anderen womöglich ebenso froh waren, den Rest der Chaoten nicht mehr sehen zu müssen. Er schielte in Richtung Sandro, der sich inzwischen mit Ines zu einer anderen Gruppe gesellt hatte. Dass Erik den Affenkönig nicht mehr sehen musste, war ein Glücksgriff – und würde sich hoffentlich auch nicht so schnell ändern.
‚Wenn du kein Schüler mehr bist, fällt Bergers dämliche Ausrede weg.‘
Allmählich hob sich auch Eriks Stimmung. So betrachtet könnte der Abend womöglich tatsächlich ein Grund zum Feiern sein. Ein weiteres Mal wagte Erik einen Blick zu seinem bald ehemaligen Lehrer. Der hatte sich inzwischen jedoch abgewandt und sah sich stattdessen näher auf dem Platz zwischen den Hütten um.
„Das Lagerfeuer sollten Sie bei der Gelegenheit auch etwas weiter weg von den Unterkünften aufbauen“, rief Berger der Gruppe um Mirek und Hanna zu. „Sehen Sie zu, dass Sie das Feuer nicht zu groß dimensionieren.“
Als die Gruppe ansetzte, der Aufforderung zu folgen, gesellten sich allmählich weitere von Eriks Mitschülern dazu. Nach und nach zerlegten sie das Pseudokunstwerk und räumten die Holzvorräte ein Stück von den Hütten weg. Dabei kam prompt die nächste Diskussion auf, als Hanna versuchte, die Leitung der Gruppe zu übernehmen und statt mit anzupacken, dazu überging, Anweisungen zu erteilen. Das gefiel den anderen Helfern gar nicht. Die meisten hielten allerdings den Mund.
Ganz im Gegensatz zu Mirek. Der hatte ja aber noch nie Skrupel gehabt, einem Mädchen klar ins Gesicht zu sagen, dass er sie nicht leiden konnte. Ganz offensichtlich zählte Hanna dazu und so war es drei Minuten später Mirek, der die Anweisungen gab und Erik, der die Szene zufrieden grinsend beobachtete.
„Schadenfreude steht Ihnen immer noch nicht, Herr Hoffmann“, murmelte Berger. Trotz der scheinbar harschen Worte glaubte Erik, ein Lächeln herauszuhören.
Also zuckte er weiterhin grinsend mit den Schultern und deutete danach auf die neue Feuerstelle: „Sind Sie sicher, dass das Feuer die Stimmung nicht ... zu sehr aufheizen wird?“
Berger lachte verhalten, hielt sich sogar die Hand vor den Mund, um es weiter zu verstecken. „Ihre Wortspiele waren auch schon besser.“
„Dafür kann ich andere Dinge ganz gut.“
Als Berger den Kopf zu ihm drehte, wurde Eriks Grinsen breiter – ungefähr im gleichen Maße, wie die Augenbrauen über den grünen Pupillen nach oben wanderten. Ja, es war eine saudämliche Idee, hier zwischen all den anderen auf diese Weise mit Berger zu reden, aber wie viele Gelegenheiten würde er denn noch für genau so etwas bekommen?
Erik wusste nur zu gut, dass er nicht einfach voranpreschen durfte, wenn er verhindern wollte, dass Berger die Beine in die Hand nahm und rannte. Im übertragenen wie wörtlichen Sinne. Sich zu sehr zurückzuhalten würde aber auch nicht helfen.
Anstatt Erik direkt zu antworten, trat Berger einige Schritte vor und rief in die Runde: „Und es wäre garantiert sinnvoll, wenn Sie noch ein paar Sicherheitsmaßnahmen bezüglich des Feuers treffen würden.“
Das Grinsen, das er Erik über die Schulter hinweg zuwarf, ließ einen weiteren, ausgesprochen wohligen Schauer seinen Rücken entlanglaufen.
„Nicht, dass die Flammen im Laufe der Nacht überschlagen.“
Erik musste sich ein Grinsen verkneifen, als Berger sich umdrehte, und einige Schritte zurücktrat. Ein kurzer Blick seines Lehrers, danach wandte der sich ganz ab und setzte dazu an, zum Haupthaus zurückzukehren. Verwundert runzelte Erik die Stirn. Wo wollte Berger denn jetzt hin?
„Und vielleicht sollten Sie auch endlich das Fleisch auf den Rost bekommen – jedenfalls insofern es heute Abend etwas zu Essen geben soll.“
Sofort schnellten einige der eben noch herumlungernden Jungen nach oben und begannen hastig danach zu fragen, warum sich bisher niemand darum gekümmert hatte, die Grills in Gang zu bekommen. Erik selbst knurrte zwar der Magen, ihn interessierte im Moment aber mehr, wohin der Sturkopf von Lehrer unterwegs war. Also setzte er an, dem zu folgen.
Er hatte gerade drei Schritte getan, als Berger sich noch einmal umdrehte, lächelte und den Kopf schüttelte. Überrascht stoppte Erik. Das Lächeln wurde etwas zufriedener. Zumindest versuchte er, sich das einzureden. Womöglich war es – wie so oft – auch nur Einbildung. Spielte aber keine wirkliche Rolle. Berger hatte Erik klar zu verstehen gegeben, dass er nicht folgen sollte. Selbst wenn es ihm widerstrebte und hingegen sogar alles in ihm danach drängte, dem Mann hinterherzurennen – Erik hatte Berger inzwischen mehrmals etwas versprochen und er war nicht gewillt, dieses Versprechen zu brechen.
Erik würde nichts tun, was Berger nicht wollte. Und im Moment hieß das offenbar, dass er diesem nicht folgen würde. Auch wenn Erik sich gern etwas anderes eingeredet hätte.
✑
Die nächste Stunde verbrachte Erik also am Ende damit, Mirek und den anderen bei dem Feuer zu helfen. Obwohl es ihn weiterhin ankotzte, dass Sandro und Konsorten lieber lachend herumsaßen und an einer Flasche Bier nuckelten, als mit anzupacken.
Die Erfahrung der letzten Sommer, in denen Erik mit Mirek und den anderen sie häufiger kleine Feuer in den Hügeln am Rand ihres Wohngebietes gemacht hatten, um dort die Abende zu verbringen, zahlte sich heute aus. Es war dennoch ein merkwürdiges Gefühl, mit Mirek zusammenzuarbeiten, und so war es vermutlich nicht verwunderlich, dass ein Gespräch dabei nicht aufkam. Jedenfalls nicht zwischen ihnen beiden. Die Einzige, die permanent zu reden schien, war Sophie. Bis sie irgendwann merkte, dass es allen unangenehm war und sie endlich die Klappe hielt.
Irgendjemand brachte, von wo auch immer, eine Säge und eine Axt vorbei. Damit beschränkte Erik sich irgendwann darauf, die Minibaumstämme, die jemand aufgestellt hatte, in handlichere Holzscheite zu zerlegen. Dabei sprach ihn wenigstens keiner an und er konnte sich abseits von den übrigen halten. Vor allem aber bemerkte so hoffentlich niemand, dass seine Blicke immer wieder in Richtung Haupthaus wanderten – in der Hoffnung, dass Berger erneut auftauchte.
Der hielt sich aber fern.
Mit jeder weiteren verstreichenden Minute wuchs Eriks Sorge, dass irgendetwas nicht stimmte. Das Gespräch mit Frau Hirvi hatte sehr danach geklungen, als ob die Farin mit etwas ein Problem hatte – und das an Berger ausließ. Hoffentlich hielt die sich für den Rest des Abends zurück und versaute die Stimmung nicht noch mehr. Wenn Berger schlecht gelaunt war, würde dieses ‚Nachdenken‘ über Eriks Frage wegen einer Verabredung vermutlich eher nicht zu seinen Gunsten ausfallen.
„Warum kann die sich nicht um ihren eigenen Kram kümmern?“, murmelte Erik grummelig vor sich hin, während er die letzten Holzscheite auf den Nachlegestapel schichtete. Damit wären sie garantiert für die ganze Nacht versorgt – nicht, dass Erik wirklich plante, so lange zu bleiben.
‚Wenn Berger nicht bald wieder auftaucht, ist der Abend eh beendet.‘
Erik schluckte das Knurren herunter, das ihm entkommen wollte, und sah sich stattdessen erneut um. Inzwischen war es deutlich nach sieben, bald halb acht. Mirek fing eben an, das Feuer in Gang zu bringen. Eigentlich war es zwar etwas zu hell dafür, aber bis es richtig brannte, würde ja ohnehin noch Zeit vergehen. Wenigstens war die Kohle in den beiden Grills allmählich so weit, dass man das Fleisch drauflegen konnte.
Im Grunde fehlten also nur noch Berger und die zwei Lehrerinnen – wobei Erik auf die Damen problemlos verzichten konnte. Er sah erneut auf den Holzstapel, mit dem das Lagerfeuer gefüttert werden sollte. Das würde sicherlich für den restlichen Abend reichen. Zumindest, wenn sie hier kein Inferno entfachen wollten.
‚Berger hatte genug Zeit alleine‘, sagte Erik sich und nahm den Weg zwischen zwei Hütten hindurch in Richtung Parkplatz. Den Mann zu suchen, um ihn zum Essen zu holen, klang nach einer ausreichend guten Ausrede.
Bevor Erik das Haupthaus erreicht hatte, traten ihm jedoch die beiden Lehrerinnen entgegen. Während Frau Hirvi gut gelaunt schien, musterte ihre Kollegin Erik eher kritisch.
„Sind Sie schon wieder alleine unterwegs, Herr Hoffmann?“, fragte sie zischend, während sie die Arme vor der Brust verschränkte.
Was ihm das hätte sagen müssen, blieb Erik schleierhaft – erst recht, wo die dämliche Frage hinführen sollte. War ja nicht so, als ob er auf dem Gelände der Herberge tatsächlich verloren gehen konnte.
„Insofern Sie mich nicht aufs Klo begleiten wollen. Ja, ich bin alleine unterwegs“, gab Erik entsprechend patzig zurück. „Ist das ein Problem?“
Der Konter kam jedoch ebenso prompt und mies gelaunt: „Die Unterkunft Ihrer Mitschüler haben ebenfalls Toiletten.“
Erik verzog den Mund. „Danke, verzichte.“
Ohne weiter auf die beiden Lehrerinnen zu achten, schob er sich an ihnen vorbei und in Richtung des Durchgangs. Hinter sich konnte er ein Schnauben hören. Vermutlich setzte die Farin bereits zu einer weiteren Erwiderung an, als Frau Hirvi plötzlich meinte, dass sie es gut sein lassen sollte. Damit war er wohl entlassen, denn die Farin hielt endlich die Klappe.
Grinsend lief Erik weiter und bog auf der anderen Seite des Durchgangs nach rechts ab in Richtung seiner eigenen Hütte. Aus dem Augenwinkel konnte Erik dabei sehen, dass die beiden Lehrerinnen offenbar ihren Weg ebenfalls fortsetzten. Eine kleine Stimme in seinem Kopf versuchte, ihm zu erklären, dass es eine blöde Idee war, sich ausgerechnet am letzten Tag noch mit der Frau anzulegen. Aber sie war nicht laut genug, als dass Erik der Warnung weitere Beachtung geschenkt hätte.
Stattdessen beschleunigte er seine Schritte und lief um die Hecke herum, die den Bauplatz für die neuen Hütten vom Haupthaus trennte. Schon von Weitem konnte Erik sehen, dass Berger auf den Stufen der Veranda saß. Beim Anblick der Kippe, die eben zum Mund geführt wurde, fragte er sich unwillkürlich, ob der Kerl etwa die ganze Stunde hier so verbracht hatte. Da Berger bisher aber nicht den Eindruck gemacht hatte, als wäre er ein Kettenraucher, war das wohl eher unwahrscheinlich.
Um nicht den Anschein zu erwecken, dass er tatsächlich nur hier war, um nach Berger zu sehen, stopfte Erik die Hände in die Hosentaschen und ging zur Hütte hinüber. Dort angekommen stoppte er vor den Stufen zur Veranda, wusste aber immer noch nicht, was genau er sagen könnte, ohne dass es ‚verdächtig‘ klang. Also verkniff Erik sich das Seufzen, das ihm zu entkommen drohte, und drängelte sich an Berger vorbei in die Hütte. So ganz gelogen war die Ausrede gegenüber Frau Farin schließlich nicht gewesen.
Während Erik kurz darauf nicht nur aus dem Bad, sondern auch aus der Hütte trat, saß Berger wie gehabt auf den Stufen. Die Kippe hing sogar noch immer zwischen seinen Fingern, sah nicht wirklich kürzer aus. Vielleicht war es ja aber auch schon die nächste.
„Das erste Fleisch ist fertig, Sie sollten langsam zum Essen kommen“, murmelte Erik verhalten. Das klang in seinen Ohren nach einer weiteren guten Ausrede – die würden ihm aber demnächst ausgehen, wenn Berger nicht darauf einging.
„Hab keinen Hunger.“
Erik biss sich auf das Innere seiner Wange, um das Wort ‚Mistkerl‘, das in ihm aufstieg, nicht laut auszusprechen. Schlimm genug, dass es sich mal wieder in seine Gedanken schob. Schließlich gab es da schon lange andere Worte, die ihm bei Berger in den Sinn kamen. Ganz zu schweigen von den Bildern, die Eriks mentaler Quälgeist bei diesen Gelegenheiten gern in die Runde warf. Im Moment hielt der sich aber glücklicherweise zurück.
Bemüht, sich das anbahnende Chaos im Kopf nicht anmerken zu lassen, antwortete Erik nach einem kurzen Räuspern: „Sie sollten trotzdem etwas essen.“
„Sind die ... anderen alle da?“
Es dauerte zwei, drei Sekunden, bis Erik klar wurde, dass Berger vermutlich auf die beiden Lehrerinnen anspielte. Und sicherlich fünf bis zehn weitere, bis es allmählich dämmerte, dass der Kerl sich von dem Abschlussabend bisher ferngehalten hatte, um mindestens einer davon nicht über den Weg zu laufen.
Anstatt zu antworten, ließ Erik sich zunächst neben Berger auf den Stufen nieder. Der versuchte prompt ein Stück weiter an den Rand zu rutschen. Es blieb trotz aller Versuche jedoch dabei, dass der Platz auf den Stufen schlichtweg zu eng war, als dass sie beide bequem dort hätten sitzen können. Jedenfalls nicht, ohne dass sie sich berührten.
Eigentlich erst recht ein Grund hier zu bleiben, anstatt zu den anderen zurückzukehren. Aber darauf würde Berger ganz sicher nicht anspringen. Deshalb verkniff Erik sich den entsprechenden Kommentar und log stattdessen: „Weiß nicht. Mir ist nur aufgefallen, dass Sie noch fehlen.“
Ein kaum hörbares Schnauben und ein ebenso dezentes Kopfschütteln waren zunächst die einzige Antwort, die Erik bekam. Diesmal blieb er allerdings geduldig. Ohne Berger würde er jedenfalls nicht zurückgehen. Ein leichtes Grummeln in seinem Magen machte Erik den Entschluss nicht unbedingt einfacher.
Etwas zu essen für sie beide würde er vielleicht holen – und zwei, drei Bierflaschen, bevor die alle waren. Die Idioten, mit denen Erik beim Einkaufen gewesen war, hatten sich ja eher an den Wein als an vernünftige Getränke gehalten.
Ob Berger den Wein bevorzugen würde, fragte Erik allerdings nicht nach. Als er endlich den Mund aufbekam, war es etwas ganz anderes, was ihn interessierte: „Wem versuchen Sie aus dem Weg zu gehen? Hanna oder Frau Farin?“
Diesmal war das Schnauben nicht mehr so leise und anstatt zu antworten, hob Berger die Kippe zum Mund, um endlich daran zu ziehen. Zumindest in den letzten Minuten hatte die ja offenbar eher als Deko hergehalten.
„Was ist passiert?“, hakte Erik weiter nach, als Berger weiterhin keine Anstalten machte, endlich etwas zu sagen.
Ein verhaltenes Seufzen und ein weiterer Zug an der Zigarette. Schon war Erik versucht, ein drittes Mal nachzuhaken, da bekam der Kerl doch endlich den Mund auf – und diesmal nicht nur, um den nächsten Zug zu nehmen.
„Frau Farin hat mich mit Hanna reden sehen“, gab Berger schließlich zu.
Acht simple Worte und jedes einzelne davon stellte einen Pfeil in Eriks Eingeweide dar. Vielleicht wäre das der Moment gewesen, selbst die Klappe zu halten und sich zurück zur Party zu verziehen. Die machte mit einem Mal einen deutlich interessanteren Eindruck.
„Kann sie verstehen, wenn ihr das nicht passt“, knurrte Erik stattdessen. Und als ob das nicht schon unangemessen genug wäre, konnte er ebenfalls nicht verhindern, dass er noch mehr hinterher schob: „Sind Sie eigentlich Masochist oder so was?“
Berger lachte leise auf, drehte den Kopf und grinste Erik mit einem Blitzen in den Augen an, das ihm nicht ins Herz, sondern eher in den Schritt fuhr. Wie schaffte der Kerl es nur, derartig anziehend auszusehen, während man ihm eigentlich eine verpassen wollte?
„Würde ich Sie damit abschrecken?“
Für einen Augenblick war Erik sich nicht sicher, was hier die richtige Antwort wäre. Seine Chancen konnten nicht so schlecht stehen, wenn er bisher keine Abfuhr bekommen hatte. Ganz sicher, wollte er sie nicht auf den letzten Metern versauen. Sich irgendeine Blöße zu geben, kam aber ebenso nicht infrage.
„Ich bin lernfähig“, murmelte Erik deshalb ausweichend.
Bergers Grinsen wurde breiter, als er antwortete: „Manchmal machen Sie in der Tat diesen Eindruck.“
„Ach ja?“ Ein kurzes Schulterzucken war diesmal die einzige Antwort, während Bergers Blick wieder nach vorn wanderte. Als das Schweigen anhielt, war es Erik, der es erneut unterbrach: „Verkriechen Sie sich jetzt wegen Hanna oder Frau Farin? Oder wegen mir?“
Es war von der Seite her schwer zu sagen, Erik meinte jedoch, ein kurzes Lächeln an Bergers Mundwinkeln ziehen zu sehen. Sonderlich fröhlich sah das aber nicht aus – eher bedrückt. Offensichtlich machte die Farin tatsächlich Schwierigkeiten – genau wie Hanna. Allmählich fingen die Frauen an zu nerven. Aber kaum war der Gedanke gekommen, drängte Erik ihn zurück. Vermutlich dachte Hanna das Gleiche über ihn. Zog man in Betracht, dass Berger eigentlich jeden von sich fernzuhalten schien, war der Kerl reichlich beliebt – ein bisschen zu viel nach Eriks Geschmack.
„Frau Farin meint, es würde allmählich ... unangemessen wirken.“
„Die Gespräche mit Hanna?“
Die stechenden grünen Augen, die sich ihm schon wieder zuwandten, stachen Erik mitten in die Brust, sodass er kurz davor war, sich wie so oft abzuwenden, um ihm auszuweichen. Dabei hatte Erik gedacht, dass er bei Berger allmählich über diesen Zustand hinaus war. Jedenfalls, wenn man bedachte, dass er den meisten Menschen überhaupt nicht in die Augen sehen konnte, ohne sich sofort abwenden zu müssen.
„Ist das hier unangemessen?“, fragte Erik, nachdem erneut keine Antwort kam.
„Vermutlich.“
Er schluckte. „Aber?“
Mit einem schnaubenden, leisen Lachen schnippte Berger den Rest der Zigarette weg und erhob sich. Anscheinend überlegte er es sich dann aber doch wieder anders, trat zu dem Stummel hinüber, hob ihn auf und steckte ihn stattdessen in eine leere Zigarettenpackung, die er aus der Hosentasche zog.
„Es wird Zeit. Wahrscheinlich wird man Sie bereits suchen.“
Da musste Erik lachen. Als ob irgendjemand von den Idioten ihn tatsächlich vermissen würde. Berger vielleicht. Womöglich sogar die Farin. Aber nur weil die eh schon angepisst war. Ansonsten interessierte sich sicherlich niemand für Erik. Selbst Sophie dürfte für diesen Abend andere Prioritäten haben. Jedenfalls wenn die Blicke, die sie und Mirek während der Arbeit am Lagerfeuer ausgetauscht hatten, irgendetwas zu bedeuten hatten. Allein aufgrund der Tatsache, dass Erik sie überhaupt bemerkt hatte, bedeuteten sie garantiert etwas.
Um seine Gedanken von Mirek und seiner neuen Flamme abzulenken, stand Erik ebenfalls auf und lief Berger folgsam hinterher. Während sie um die Hecke herum zum Haupthaus traten, konnte er sich dann aber doch nicht mehr zurückhalten.
„Geben Sie’s zu. Sie haben Hunger und keinen Bock, dort alleine aufzuschlagen. Sonst hängt Hanna Ihnen wieder am Hosenbein und die Farin bekommt Wutpickel. Nicht, dass mich eins von beiden stören würde ...“
Ein weiteres leises Schnauben, das Erik als Lachen interpretierte, bevor Berger antwortete: „Ich kann ja schließlich nicht zulassen, dass Sie schon wieder das Abendessen verpassen. Bei Ihrer Größe kippen Sie mir am Ende sonst noch vor Hunger um.“
„Ich hab Reserven. Sie nicht.“
Diesmal drehte Berger sich zu Erik nach hinten. Der Blick, der einmal von Kopf bis Fuß über seinen Körper wanderte, jagte nicht nur einen Schauer über Eriks Rücken. Das waren eher fünf oder sechs – womöglich mehr. Und sie alle fühlten sich so verdammt gut an, dass Erik sich am liebsten stehen geblieben wäre.
Das Lächeln, das Berger zeigte, verstärkte das Kribbeln nur noch mehr, drängte es weiter. An einen Ort, der angesichts der Tatsache, wohin sie unterwegs waren, eher als ‚unpassend‘ bezeichnet werden musste.
„Sie sind fies“, murrte Erik leise.
„Wieso?“
Missmutig stopfte Erik die Hände in die Hosentasche und versuchte Berger genauso herausfordernd anzusehen, wie der das eben mit ihm machte. Vermutlich gelang das mal wieder überhaupt nicht und er sah eher aus wie ein trotziger Fünfjähriger. Aber das ließ sich im Augenblick nicht ändern.
„Das wissen Sie genau.“
Berger zuckte mit den Schultern und drehte sich wieder weg. Irgendwie wirkten seine Schritte aber beschwingter. Jedenfalls bildete Erik sich das ein. Und in letzter Zeit schien er sich, was Berger anging, verflucht viel einzubilden. Allen voran, dass er auf einem guten Weg war, was die erhoffte Verabredung betraf. Jedenfalls, wenn der Mann endlich aufhörte, ihn nur als Kind zu betrachten.
‚Nicht aufregen!‘, ermahnte Erik sich selbst – half aber, wie so oft, nicht viel.
Sie hatten den Durchgang fast erreicht, als das miese Gefühl in Eriks Bauch zu stark wurde. Seine Hand schoss hervor und griff nach Bergers Arm. Verwundert drehte der den Kopf herum und sah zunächst zu Erik selbst, danach zu dessen Hand an seinem Arm.
„Ich mag es nicht, wenn Sie alleine mit Hanna reden“, presste er schließlich hervor – weil ihm die Sache einfach keine Ruhe ließ.
„Ich weiß.“
Beinahe hätte Erik den Kampf darum, den Blickkontakt zu halten, doch noch verloren. Am liebsten würde er sich selbst eine dafür runterhauen, dass da weiterhin so eine Unsicherheit in ihm war. Aber kaum dass diese stechenden grünen Augen in seinen Fokus gerieten, wurde der Druck in Eriks Inneren zu stark und sein Blick zuckte kurzzeitig zur Seite. Er fing sich aber recht schnell und sah ernst zu Berger.
„Dann machen Sie es nicht“, gab Erik etwas heiser zurück.
„Sie ... wollte sich entschuldigen. Wegen gestern. Und hat nachgefragt, ob alles in Ordnung ist.“
Erik schnaubte. Das war ja wohl auch das Mindeste, was man als anständiger Mensch tun sollte. Allerdings gefiel ihm die Tatsache, dass Hanna überhaupt mit Berger sprach, trotzdem nicht. Schon gar nicht, wenn das irgendwo unter vier Augen stattfand.
„Scheinbar hat sie endlich verstanden, dass ihre ... Ambitionen keinen Erfolg haben werden“, fuhr Berger schließlich fort. „Zumindest meinte Hanna, dass sie ihre Lektion gelernt hätte.“
Der stechende Blick Bergers war schon wieder fast zu viel und Erik kurz davor, die eigenen Augen abzuwenden. „Verdammt“, murmelte er verhalten.
Berger runzelte daraufhin die Stirn. „Ich denke, es ist fair, wenn ich Hannas Versicherung genauso behandele wie Ihre.“
Missmutig verzog Erik das Gesicht. Weniger, weil der Sturkopf Hanna schon wieder in Schutz nahm, als vielmehr, da er selbst seinen verbalen Ausbruch kurz zuvor gar nicht auf Bergers Worte bezogen hatte.
„Es ist Zeit, zu den anderen zu gehen, Erik.“
Erst als etwas an seiner Hand zog, wurde Erik bewusst, dass er Berger noch immer am Arm festgehalten hatte. Hastig ließ er ihn los und stopfte die Hand zurück in die Hosentasche. Berger sah trotzdem weiterhin eher misstrauisch und kritisch aus.
„Es dürfte klar sein, warum ich ein Problem damit habe, wenn Sie alleine mit Hanna sprechen ... Aber was geht das Frau Farin an?“
Mit jeder verstreichenden Sekunde, in der Berger nicht antwortete, begann Eriks Puls erneut zu rasen. Immer wieder zuckten seine Augen zu dem Sturkopf von Lehrer, der starrte jedoch nur ungerührt zurück, fast so, als würde er auf etwas warten. Dummerweise war es Erik ein Rätsel, was das sein konnte. Die Farin hatte Berger doch schon einmal wegen Hanna blöd angemacht, sogar Frau Fink angerufen. Und jetzt kam sie wieder an. Wieso mischte sie sich ein? Berger war schließlich erwachsen und wusste offenbar, wie man sich wehren konnte – auch wenn er es nach Eriks Geschmack nicht oft genug tat. Zumal der Kerl zwar ein verdammter Sturkopf war, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht auf Frauen stand.
Erik keuchte. Automatisch kam seine rechte Hand hoch vor den Mund – in dem sinnlosen Versuch, das Geräusch zu dämpfen.
„Darum ging es nicht“, beantwortete Erik seine Frage schließlich selbst.
Wieder kam zunächst keine Antwort – und erneut wurde es mit jeder verstreichenden Sekunde schwerer, den Blick zu halten.
„Sie hat nicht wegen Hanna mit Ihnen gesprochen, oder?“
„Nein.“