Eine blasse Sonne strahlte in das Zimmer des Jungen. Murrend zog er sich die Bettdecke über den Kopf, doch sein Wecker schien einen Pakt mit dem Himmelskörper zu haben. Das Ding trillerte los und genervt setzte der Jugendliche sich auf.
»Mann ey«, fauchte er, erhob sich und zog die Jalousien zu. Es war zu hell und das Licht stach schmerzhaft in den Augen. Doch da er eigentlich immer Kopfweh hatte, war er das bereits gewohnt.
Kälte überkam ihn bei der Erinnerung an den gestrigen Abend, nun, da er wusste, woher sein dauerndes Leiden kam. Seufzend setzte er sich auf eine Ecke des Bettes und stützte seinen Kopf in die Hände.
Wenn er doch nur nie seiner Mutter von den Schmerzen erzählt hätte! Dann hätte sie nicht darauf bestanden, zu einem Arzt zu gehen und er würde jetzt nicht wissen, was er wusste.
Es wäre leichter gewesen, es nicht zu wissen.
So begann das neue Schuljahr mit einem Timer über seinem Kopf. Wie diese komische Uhr, die die Menschen in einem Science Fiction-Film an ihrem Arm trugen - war sie abgelaufen, fielen sie einfach tot um.
Der Junge blickte auf den brandneuen Schulkalender, den seine Mutter in das Zimmer gehängt hatte. Der war wie ein Abreißkalender gestaltet, begann jedoch erst im September und sollte Schülern helfen, ihre Hausaufgaben und Klausuren besser zu organisieren. Seine Maman hatte das als einen netten Gag empfunden. Da wusste sie jedoch auch noch nicht, wie ernst es um ihn stand.
Man könnte beinahe von Ironie sprechen, dass seine Schmerzen die Ferien und den gemeinsamen Urlaub unbehelligt verstreichen ließen, bevor sie in seinem Kopf explodiert waren und seine Mutter auf den Plan gerufen hatten.
Spöttisch lachte Lucien auf. Das hätte ihr sicher die Grütze verhagelt, es vorher zu wissen. Das Lachen verging ihm schnell. Es war nicht lustig. Ganz und gar nicht.
Er machte sich wieder auf dem Bett lang. Es war der letzte Tag der Ferien, warum sollte er bereits jetzt aufstehen?
Die Schule ging erst morgen wieder los. Und sonderbarerweise hatte er sich noch nie zuvor so sehr darauf gefreut, dort hin zu gehen. Er wollte unter Leute, er wollte Lärm, er wollte Stress, Leben!
Ruckartig setzte er sich erneut auf und starrte auf den Kalender. Heute begann der erste Tag vom Rest seines Lebens! Das musste er sich erst einmal bewusst werden lassen. Er konnte nicht einfach liegen bleiben und nichts tun.
Ohne Zögern sprang er auf und ging unter die Dusche. Zweifelnd betrachtete er sich anschließend im Spiegel. Sah so jemand aus, der dem Tode geweiht war? Er hätte sich so jemanden spektakulärer vorgestellt. Und vor allem älter.
»Gestern, da warst du noch unendlich, Kumpel«, sprach er zu sich selbst und wischte mit der Hand das Kondenswasser vom Spiegel, das sein Gesicht verzerrte.
Es war ruhig in der Wohnung. Seine Eltern waren nach der Diagnose am vergangenen Vormittag verständlicherweise nicht mehr in der Stimmung gewesen, großartig auszugehen oder etwas zu unternehmen und so hatte jeder den Tag anders verbracht, kaum dass sie aus dem Krankenhaus wieder raus waren.
Lucien war nach seiner Flucht einfach irgendwohin gelaufen. Er hatte nicht darauf geachtet. Er hatte nur weg gewollt von dem Mief, von diesen kalten Fluren und den ganzen Menschen. Den wirklich Kranken. Er war keiner von denen! Er war bereits tot, es sah nur noch niemand.
Seine Mutter hatte sich den ganzen Tag mit Weinen, Schreien und stummem Starren abgewechselt, bis sein Vater ihr schließlich ohne ihr Wissen ein starkes Schlafmittel untergeschoben hatte, damit sie zur Ruhe kommen konnte. Er selbst hatte nur dagesessen und an die Wand gestarrt.
Selbst als Lucien nach Stunden wieder nach Hause gekommen war, hatten sie nicht miteinander gesprochen. Was hätten sie auch sagen sollen?
Dass alles wieder gut werden würde? Das würde es nicht. Der Arzt hatte unmissverständlich klar gemacht, dass weder eine Operation noch eine Therapie Aussicht auf Erfolg hatte.
Das eine würde ihn sofort töten und das andere würde ihm den Rest seines Lebens mit stärkeren Qualen ruinieren, als er sie ohnehin bereits erlitt.
So hatte sein Vater ihn nur auf das Bündel mit Schmerzmitteln aufmerksam gemacht, die der Arzt ihnen mitgegeben hatte. Lucien war zu diesem Zeitpunkt bereits wieder aus dem Zimmer heraus gewesen.
Diese Medikamente sollte er nehmen, wenn die Kopfschmerzen zu schlimm werden sollten. Sie würden sein Schicksal nicht ändern, aber ihm das Leid nehmen. Das Bündel lag noch so da, wie Lucien es am Abend auf die Kommode gelegt hatte, und wartete darauf, dass er sich volldröhnte. Doch er ließ sie unbeachtet.
Monatelang war er nun schon mit diesen Schmerzen herumgelaufen. Er hatte sich daran gewöhnt und an manchen Tagen spürte er sie kaum.
Er konnte sich bereits vorstellen, was seine Mutter sagen würde, wenn sie sich wieder etwas gefangen hatte: »Warum hast du uns nicht früher gesagt, dass du so schlimmes Kopfweh hast? Wenn man das früher bemerkt hätte, hätte man dich behandeln können.«
Während er in frische Klamotten stieg, grübelte der Jugendliche darüber nach.
Er hätte eventuell eher etwas gesagt, wenn es in seiner Familie nicht genetisch wäre, mit Migräne geboren zu werden. Er hatte sein Leben lang gesehen, wie seine Mutter darunter gelitten hatte, ebenso wie seine Großmutter und sein Onkel.
Als er das erste Mal Kopfschmerzen bekommen hatte, dachte er, er hätte das chronische Leiden auch geerbt. Wie hätte er wissen sollen, dass es etwas anderes war? Seine Eltern hätten vermutlich auch nur gesagt, dass es nichts Ernstes sei und er die Tabletten seiner Mutter ausprobieren solle.
Sie wären auch gestern niemals mit ihm in die Notaufnahme gefahren, wenn nicht zuvor seine Nase und sein Ohr zu bluten begonnen und er sich nicht unerwartet heftig auf den Küchenfußboden erbrochen hätte. Dabei hatte er gar nicht ins Krankenhaus gewollt. Lucien hasste Ärzte und Spritzen und den Geruch dort. So etwas brachte nur Unglück. Und es hatte sich ja auch bestätigt.
Er war als Typ mit Kopfschmerzen hinein gegangen und verließ es wieder als Todgeweihter. Er war siebzehn und hatte vielleicht noch achtzehn Monate zu leben. Grandios!
Verbissen riss er an den Schnürsenkeln seiner Chucks, als er sie zuband. Er konnte das leise Atmen seiner Eltern aus dem Schlafzimmer hören, als er auf leisen Sohlen durch den Flur schlich. Sie hatten garantiert eine schlaflose Nacht hinter sich und er wollte sie unter keinen Umständen wecken.
Er befürchtete, wenn seine Mutter ihn jetzt antraf, würde sie ihn nicht gehen lassen. Sie würde ihn nun sicher an sich binden wollen. Doch das wollte er nicht. Es war schlimm genug, dass er gehen und sie ihr eigenes Kind vermutlich um viele Jahre überleben würden. Das würde sie schon genug belasten.
Doch nicht nur sie verloren etwas. Es war immerhin sein Leben, sein letztes Jahr. Und er war ein Teenager.
Leise zog er die Wohnungstür hinter sich ins Schloss und ging die Treppe hinunter in den Hinterhof, wo der Zwinger stand. Sasha, sein Rottweiler, lag auf seiner Hütte und döste in der kühlen Morgensonne, als Lucien die Haustür schloss.
Dröhnend erklang das Geheul des gewaltigen Hundes, als er sein Herrchen erblickte. Das Tier sprang von der Hütte und benahm sich wie ein verspielter Welpe, als der Jugendliche die Tür öffnete und ihn herausließ.
»Komm, Dicker, wir gehen an den Strand«, lachte Lucien, als der große Hund an ihm hochstieg und ihm fast über das Gesicht leckte. Sasha sah ihn nicht wie einen Geist an. So wie seine Mutter es gestern Abend tat, bevor sie wieder zu weinen begonnen hatte.
Der Junge seufzte, als er mit dem Hund auf die Straße trat. Biarritz schlief noch. Natürlich, immerhin war Sonntag und es war erst acht Uhr.
Spöttisch grinsend bewegte sich Lucien schnurstracks auf seinen liebsten Ort in der Stadt zu, die Strandpromenade am Grande Plage, dem großen Strand. Sasha sprang begeistert um ihn herum, aber er war so gut erzogen, dass er sich keinen Meter von seinem Herrchen wegbewegte.
Der Morgen war trotz des Spätsommers kühl und das Sonnenlicht wirkte hart auf den blassen Straßen. Die Farbe des Himmels ließ jedoch einen heißen Tag erwarten. Sie waren zu nah an Spanien und den dort herrschenden milden Temperaturen dran und der Golf von Biskaya war auch ein vergleichsweise warmes Gewässer.
Dem Hund machte die morgendliche Kühle jedoch nichts aus, während Lucien den dünnen Schal etwas enger an seinen Hals zog. Er genoß die Ruhe, die sonst nie zu hören war. Irgendwo war immer Lärm. Selbst in einer Stadt, die laut der letzten Zählung nicht einmal 25.000 Einwohner hatte. Irgendwo raste immer ein Auto, ging immer eine Hupe, wurde ein Tor zugeschlagen, brüllte jemand herum.
Trubel, den der Junge normalerweise gar nicht bewusst mitbekam. Doch nun bemerkte er, dass eben nichts dergleichen zu hören war. Und das stimmte ihn friedlich.
Mit lautem Gebell stürmte Sasha auf den menschenleeren Strand und war in den kühlen Wellen verschwunden, bevor sein Herrchen überhaupt die Flutlinie erreicht hatte. Freudig jaulend und mit dem Schwanz Wasser herumschleudernd tollte der Hund durch die Gischt und folgte dabei beharrlich den Schritten des Jungen.
Dieser fühlte sich klein beim Blick auf den weiten Golf, auf das dunkle, stahlgraue Wasser, das bei hellem Sonnenschein fast türkis aussah, und ein unangenehmer Druck bildete sich in Luciens Kehle. Es würde dem Ozean nicht auffallen, wenn er eine Träne in ihn vergießen würde für das Leben, das er nicht mehr leben konnte. Und tatsächlich stahl sich ein einzelner salziger Tropfen aus seinem Augenwinkel heraus und verlief sich in seinem Schal.
Er würde sich jedoch nicht gestatten, zu weinen, denn er war keine Heulsuse. Er hatte sich niemals für etwas selbst bemitleidet und würde jetzt garantiert nicht damit anfangen!
Es war Sasha, der die Aufmerksamkeit des Jungen von der Grübelei ablenkte und auf sich zog, als er mit einer ziemlichen Geschwindigkeit an ihm vorbei zischte, vom Wasser weg, auf etwas zu, das hinter Lucien zu liegen schien.
Besorgt, er könnte einer Katze hinterher rennen, wandte sich der Jugendliche dem Hund hinterher. Was er sah, ließ ihn auflachen. Im Gehen wischte er sich die Augen trocken.
»Traust du dich mit dieser Taschenratte tatsächlich nach draußen, Grantaine?«, feixte er und pfiff seinen Rottweiler zurück, der gerade mit Begeisterung an einem Pommeraner herumschnupperte. Es musste ein Weibchen sein, denn Sasha benahm sich wie ein Idiot.
Der Junge, der Lucien gegenüber stand, strich sich die durch den Wind zerzausten, blonden Haare aus den Augen und funkelte ihn an.
»Ach, und dein Schlachtross ist besser? Der Hund gehört meiner Mutter und ich bin dran mit Gassi gehen.«
Lucien kräuselte seine Lippen. »Deiner Mutter, so so. Sieht eher aus, als wäre es deiner. Der passt zu dir. So einen wie Sasha könnte so ein halbes Hemd wie du gar nicht halten.«
»Was soll das jetzt? Machst du gerade einen Schwanzvergleich mit den Hunden? Findest du das nicht ein bisschen peinlich?« Der blonde Junge hob den zuckersüßen Zwergspitz mit den puscheligen Ohren vom Boden auf, damit Sasha aufhörte, an ihm herumzulecken. Lucien betrachtete das kleine Tier und schmunzelte leicht.
»Den würde ich gewinnen, wenn du mich fragst.«
»Ich frag' dich aber nicht.«
»Spaßbremse.«
»Wenn du meinst.« Ohne Lucien oder Sasha eines weiteren Blickes zu würdigen, wandte der Blonde sich wieder ab und trabte auf die Promenade zurück. Es fiel ihm schwer, auf dem feuchten Sand zu laufen.
»Hey Mathieu!«
»Was?«
»Komm’ nicht zu spät morgen.«
Der blonde Mathieu blickte zu Lucien herüber. Sein Gesicht war einen Moment lang ausdruckslos, doch dann lächelte er schief und nickte.
»Halt’ du dich lieber dran. Salut!«
Lucien hob die Hand zum Gruß und sah dem Jungen nach, den er bereits seit dem Kindergarten kannte. Sie waren mal Freunde gewesen. Aber wie so viele andere hatten sie sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt und mittlerweile konnten sie kaum mehr miteinander reden, ohne dass Lucien ihn foppen musste. Es war wie ein Zwang.
Mathieu hatte einfach etwas an sich, was ihn reizte. Nichts, was Lucien wütend machte. Aber etwas, was ihn förmlich drängte, den Blonden aufzuziehen und sich lustig zu machen. Mathieu war so verdammt brav und ordentlich. So hatte der Jugendliche ihn als Kind nicht kennengelernt. Damals war er anders gewesen.
Heute konnte Lucien nicht einmal mehr sagen, was Mathieu für ein Mensch war. Er wusste nichts mehr über ihn. Sie gingen in einen Jahrgang, besuchten beide das Lycée, aber das war es auch schon.
Und viel Zeit, um etwas daran zu ändern, hatte Lucien nicht mehr.
Er schnaubte, wandte sich wieder dem Meer zu und pfiff Sasha zu sich. Warum sollte er auch seine wenige verbleibende Zeit aufwenden, um ausgerechnet Mathieu kennen- oder besser, neu kennenzulernen? Wenn es noch so viel anderes gab, was er erleben wollte, bevor er starb. Er konnte zum Beispiel unmöglich als Jungfrau sterben!
Lucien lachte leise über sich selbst und schlenderte weiter am Wasser entlang. Auf was für dumme Gedanken man kam, wenn man Zeit hatte, um nachzudenken.
Drei Stunden waren vergangen, als Lucien zu Hause die Wohnungstür aufschloss und das Aufschreien seiner Mutter bereits im Flur hören konnte. Mit zerzausten Haaren und geschwollenen Augen kam sie aus dem Wohnzimmer und starrte ihn an.
»Wo warst du?« Sie kreischte fast.
»Mit Sasha Gassi? Ich war am Strand und an den Klippen ...«
»Hättest du nicht Bescheid sagen können?«
»Wozu? Ich sterbe bereits. Was soll mir jetzt noch passieren?«
»Lucien!«
»Was? Ist doch so! Schlimmer kann man's jetzt auch nich' mehr machen. Wollt ihr mich einsperren?« Der Junge schob seine Schuhe unter die Flurkommode und hängte seine Jacke auf.
»Lucien, versteh doch ...«
»Es gibt nichts zu verstehen. Ich habe eine Bombe in meinem Kopf und sie wird hochgehen. Unweigerlich. Also lass' mich verdammt noch mal in Ruhe!« Er erhob die Stimme, denn er wollte nicht mehr darüber nachdenken.
Er traute seinen eigenen Nerven nicht und er wollte nicht etwas tun oder sagen, was seine Eltern zusätzlich belastete. Er atmete zittrig ein.
»Tut mir leid. Ich geh' auf mein Zimmer.« Er ließ seine Mutter stehen und kam für den Rest des Tages nicht mehr heraus.