Am nächsten Morgen saß Mathieu mit versteinertem Gesicht am Frühstückstisch. Sein Vater hatte wegen dem Ausbruch am gestrigen Abend nichts mehr gesagt und der Jugendliche war sich ziemlich sicher, dass es seinen Papa auch nicht weiter interessierte, wie unglücklich und zurückgesetzt sein Sohn sich fühlte.
Annette Grantaine versuchte einige Male, ihm ein Lächeln zuzuwerfen, doch der Blonde reagierte nicht drauf. Er wollte nicht, dass sie dachte, er hätte ihnen bereits verziehen und alles wäre wieder gut. Denn das war es nicht.
Nach dem Telefonat mit Lucien, was danach noch ziemlich lange über alles mögliche weitergeplätschert und wirklich angenehm und lustig gewesen war, war Mathieu in einen unruhigen Schlaf gefallen, mit Träumen über alle möglichen Katastrophen, die während Celestes dämlicher Party geschehen könnten. Dabei war ein vollgemüllter Pool noch das harmloseste gewesen.
»Oh Maman, können wir heute nach der Schule ein Kleid für mich kaufen gehen? Damit ich auf der Party gut aussehe?«
Der Blonde presste die Lippen zusammen. Nicht nur eine Feier für hunderte Euro, nein, ein Fummel musste es auch noch sein. Wieder noch etwas mehr, das seine Eltern ihr in den ohnehin total verwöhnten Hintern schoben.
»Natürlich können wir. Man wird ja nur einmal Sechzehn«, entgegnete Annette mit einem Lächeln.
Mathieu lehnte sich an und blickte ungläubig in die Runde. »Echt jetzt? Ich bin satt. Ich geh’ in die Schule!« Er schob grob den Stuhl nach hinten und verließ den Essbereich im Salon durch die Küchentür, wo er den Teller in die Spüle stellte und durch die zweite Tür ins Foyer ging. Seine Tasche stand bereits bereit an der Treppe. Missmutig und schlecht gelaunt zog er den Parka an, schulterte den Rucksack und zog die schwere Haustür auf.
Man wurde nur einmal sechzehn!? Lustig, dass seine Eltern das noch nicht wussten, als er im Februar letzten Jahres dieses Alter erreicht hatte. Okay, sie hatten ihm sein Fahrrad geschenkt, das teuer und wirklich gut war und das Mathieu stolz hütete, doch im Gegensatz dazu würde Celeste Zeug in den Arsch geschoben bekommen, das doppelt so viel wert war als das Rad.
Und in seiner Familie bedeutete das etwas, denn seine Eltern wogen ihre Liebe in Geld auf. Je mehr sie ausgaben, umso mehr liebten sie einen. Als würde es nicht reichen, dass Celeste ihr Haus als hippe Partylocation benutzen durfte und die Grantaines hunderte Euro in Essen, Snacks und Getränke investierten, nein, sie bekam auch noch einen teuren Flitterfummel, in dem sie wahrscheinlich wie eine Glitzerkugel aussehen würde und nicht zu vergessen ihren regulären Haufen an überteuerten Geschenken, an denen sie dann doch immer noch etwas auszusetzen fand. Celeste bekam den Hals nicht voll und seine Eltern sahen darin nicht das geringste Problem.
Trübsinnig radelte der Jugendliche durch die Straßen. Keine Minute länger hätte er es ausgehalten, dort am Tisch zu sitzen. Die Wut, die in ihm gärte, war noch nicht abgeklungen und Mathieu hasste es, sich so zu fühlen. Er wollte nicht missgünstig sein, nicht neidisch und auch nicht wütend. Doch das Kind in ihm, der Junge, der er war, wollte die Liebe seiner Eltern und sah doch immer nur, wie er leer ausging. Alles riss und zerrte an ihm und er hatte keinen Schimmer, wie er aus dieser verfahrenen Situation und all diesen Gefühlen herauskommen sollte.
In Gedanken stellte Mathieu sein Rad in den Unterstand und legte die Kette an. Er zuckte zusammen, als eine Schülerin ihn ansprach. »Du, Mathieu? Kann ich dich vielleicht mal sprechen? Ich hab’ da vielleicht ein Problem ...«
»JA, das könnt ihr alle! Bei mir ankommen mit euren Problemen und ich soll sie dann für euch lösen. Typisch!«, fauchte er.
Das Mädchen zuckte zusammen und sah erschrocken aus, während Lucien und Etienne, die gerade ihre übliche Bank beim Unterstand in Beschlag nahmen, es mitbekamen, sich ansahen und leise lachten.
Mathieu schloss die Augen und atmete tief durch. »Es tut mir leid«, sagte er zu der Schülerin, »Ich hab’ nicht gut geschlafen. Wenn du nachher in der Pause ins Schülervertretungszimmer kommst, können wir reden, okay?«
Sie nickte, lächelte leicht und ging davon, während Lucien und Etienne noch immer feixten und kicherten.
»Mit dem falschen Fuß aus dem Bett gefallen, Grantaine?«
»Eher beim Frühstück gegen eine Wand gelaufen. Geh’ mir nicht auf den Sack, Lucien«, fauchte Mathieu erneut, packte seinen Rucksack und betrat die Schule. Er hoffte, der Rothaarige würde ihm nachkommen.
Lucien rauchte mit wenigen Zügen seine Zigarette auf und schnippte sie dann weg.
»Du solltest mal ...«, setzte sein Freund an.
»Was?«
»Ach, komm’ schon, Alter. Ich sehe doch, dass du eigentlich hinterher gehen willst. Mach’ schon. Wir sehen uns dann in Mathe ... ugh, shit, wir hatten Hausaufgaben, oder?« Etienne kramte in seiner Tasche und Lucien musterte ihn. Dieser Arsch hatte ihn wahrscheinlich längst durchschaut.
»Okay, bis nachher dann. Mal sehen, was der Lahmarsch hat.«
Der Aschblonde lächelte milde, nickte und schlug seinen Hefter auf, um wenigstens noch etwas von den vergessenen Schularbeiten zu retten.
Der Rothaarige nahm seinen Rucksack, schlug den Kragen seiner Jacke hoch und ging in die Schule. Nach und nach trudelten die Schüler ein und versammelten sich an ihren Spinden oder in Grüppchen, sodass der Jugendliche im Slalom um sie herumgehen musste, um das Schulsprecherzimmer zu erreichen. Er klopfte einmal und trat dann ein, um Mathieu allein vorzufinden, die Hände auf den Tisch gestemmt und den Kopf gesenkt.
»Alles okay?«
»Schließ’ ab, bitte«, hauchte der Schulsprecher und drehte sich erst um, als er das Klicken im Schloss hörte. »Nein, es ist nicht alles gut«, presste er hervor. Seine Augen waren gerötet und seine Nase glänzte.
Lucien machte ein bedauerndes Gesicht, ließ den Rucksack fallen und ging zu ihm, wo Mathieu die Stirn auf seine Schulter legte.
»Was war es dieses Mal?«, flüsterte der Rothaarige und ergriff die Hände des Blonden.
»Einfach alles. Und ich hasse es, dass mich das so mitnimmt. Ich sollte es doch gewöhnt sein, dass Celeste einfach immer alles bekommt und mir das auch noch bei jeder Gelegenheit unter die Nase reibt, aber ich halte das einfach nicht mehr aus.«
»Irgendwann ist jedermanns Maß voll, schätze ich.«
»Am liebsten würde ich abhauen und nie mehr zurückkommen, diese Familie hinter mir lassen, die mich nur kaputt macht.«
»Sind alle deine Verwandten so scheiße?«
»Nein. Mein Großvater ist nicht so. Doch der wohnt einhundert Kilometer weit weg und ich hatte schon Anstrengungen genug, ihn in den Herbstferien überhaupt besuchen zu dürfen.«
Lucien machte einen Schritt nach hinten und zog Mathieus Hände an seine Lippen. »Schau, wir haben Mitte November. Noch ein Vierteljahr, dann wirst du achtzehn, ist doch so, nicht? Dann kannst du machen, was du willst. Sogar ausziehen. Deine Alten müssen dir das bezahlen, wenn es nicht mehr zuzumuten ist, dass du bei ihnen lebst.«
Mathieu senkte den Blick. »Ist es dumm von mir, mir zu wünschen, meine Eltern würden mich genauso lieben wie meine Schwester?«
Lächelnd strich der Rothaarige über die Finger des Anderen. »Nein. Das ist menschlich. Ich bin echt froh, dass ich keinen nervigen Geschwisterdrachen habe.«
»Drillen dich deine Eltern auf Perfektion?«
»Nee? Die wissen, dass da nichts zu machen ist.«
»Dann würde dein Geschwisterkind bestimmt nicht so werden wie Celeste. Selbst wenn sie eine Tochter ein bisschen mehr verwöhnen würden.«
»Okay ist es trotzdem nicht. Und alles auf dich abzuwälzen, erst recht nicht. Sie ist ihr Blag, nicht deins.«
»Hmhmhm«, nuschelte Mathieu, trat wieder an Lucien heran und drückte sein Gesicht an dessen Hals. Der Rothaarige legte die Arme um ihn, denn er merkte, dass es genau das war, was dem Blonden fehlte und was er nie von den Menschen bekam, die ihm angeblich am nächsten waren. Blut war im Falle von Mathieu nicht dicker als Wasser.
»Wirst du es aushalten heute oder wollen wir schwänzen?«
Der Schulsprecher lachte leise. »Erstens kann ich das nicht machen. Zweitens würde das zu sehr auffallen, wenn wir beide fehlen würden. Drittens ... ich würde gern, aber ... nein, lieber nicht. In der Schule muss ich ihr Gesicht nicht andauernd sehen.«
»Okay ...«
»Ich nehm’s zurück ...«
»Was genau?«
»Ich dachte immer, du wärst ein Narzisst ohne Empathie. Aber das hier tut gut.«
»Nur für dich, Mathieu«, murmelte Lucien und lachte leise.
»Ich glaube fast, du magst mich.«
Der Rothaarige hob den Kopf des Schulsprechers etwas an und grinste. »Könnte sein. Ist aber nicht schlimm, finde ich.« Er strich dem Anderen mit den Lippen über den Mund. Mathieu schnurrte leise.
»Nix da, Lahmarsch, die Stunde fängt gleich an und wenn du das jetzt anfängst, kommen wir beide zu spät. Stell’ dir das Gerede vor.« Lucien kicherte, schmatzte ihm einen einfachen Kuss auf und ließ ihn los.
»Schade.«
»Später«, lächelte der Rothaarige und nahm seinen Rucksack wieder hoch. »Ich geh’ mal lieber, bevor dein Assistentinnenmäuschen kommt und uns wieder zusammen erwischt. Noch eine Entschuldigungsausrede hast du nicht auf Lager. Zumal der Wisch längst da ist, ne?« Lucien lachte und schloss die Tür wieder auf.
»Ein Wunder, dass ich nicht Wochen hinterherlaufen muss.«
»Ach was, du bist doch jetzt mein besonderer Kumpel.« Der Rothaarige lachte noch lauter und Mathieus Wangen wurden rosa. »Das solltest du beibehalten«, kommentierte Lucien diesen Umstand, »das ist ... süß.« Er presste die Lippen zusammen, lachte etwas verlegen auf und schlüpfte aus der Tür.
Der Schulsprecher seufzte leise und räumte seinen Rucksack aus, um Platz zu machen für die Bücher, die er für die nächsten Stunden brauchen würde, als die Tür erneut klappte. Aus den Augenwinkeln konnte er seine Schwester erkennen, die auf eine Art und Weise da stand, dass sie nur als provozierend zu verstehen war.
»Willst du was?«, knurrte Mathieu und presste die Lippen zusammen. Sie schmeckten noch etwas nach Luciens Kaugummi und das beruhigte den Schulsprecher.
»Ganz schön unhöflich, Herr Schülerratspräsident.«
»Für dich bin ich gar nichts, also was willst du? Wieder jemanden mit Edding bemalt und ich soll das ausbügeln? Noch vor der ersten Stunde das Handy abgenommen bekommen? Frag’ nicht erst, die Antwort ist Nein. Ich helfe dir nicht.«
»Och, eigentlich wollte ich uns nur zu unserer Party am Wochenende beglückwünschen, die wird die Coolste der Schule. Ich sagte ja, du kannst deine langweiligen Freunde - wenn du welche hast - auch einladen. Vielleicht wirst du dann endlich mal gebumst und kommst wieder runter von deinem Egotrip. Du hättest gestern fast alles versaut. Papa war so sauer auf dich, er wollte alles platzen lassen!«
Mathieu zuckte. »Ego ... Egotrip? Ich bin auf einem Egotrip? Entschuldige, ich glaube, mir geht die Definition davon etwas ab. Ich war es nicht, der sich gegen jede Gegenrede durchgesetzt hat. Ich war es auch nicht, der dich dazu verdonnert hat, für mich den Babysitter zu spielen. Du bist es nicht, die für meine Fehler den Kopf hinhalten muss. Und du bist es auch nicht, die für mich die Verantwortung trägt, obwohl du selbst noch ein Teenager bist. Das bin alles ich, während du alles hinterhergeschmissen bekommst und für nichts gerade stehen musst. Also erzähl’ du mir nichts von Egotrips, Schwesterchen. Du kannst keine fünf Minuten an jemand anderen denken als dich selbst und hättest es verdient gehabt, dass Papa einmal nur auf meiner Seite gewesen wäre und dir diesen Rotz verboten hätte!«
»Ha!«, lachte Celeste auf. »Als ob!«
»Ja, als ob. Ich sag’ dir was: Genieß’ es, solange du kannst. Irgendwann kommt auch in deinem Leben der Punkt, an dem dein Wimpernklimpern und Kleinmädchen-Getue nicht mehr zieht. Eines Tages wirst du dir selbst die Finger schmutzig machen müssen, wenn du etwas willst, du wirst arbeiten und du wirst Verantwortung übernehmen. Und wenn nicht, wirst du die Hure eines fetten Unternehmers. Ich würde dir glatt zutrauen, dass du dazu bereit wärst, solange es nur weiter immer nur um Celeste in deinem Leben geht. Du bist nicht cool und du bist auch nicht geil, sondern traurig, denn eines Tages wirst du nichts mehr haben außer die Erinnerung an deine Schulzeit, in der du dachtest, die totale Queen zu sein und du wirst dein Leben lang versuchen, diesen alten Glanz wiederzukriegen, ob durch jüngere Männer, die dich Mommy nennen könnten oder durch plastische Chirurgie. Du bist so hohl, durchsichtig und mit heißer Luft gefüllt wie eine Luftmatratze und wenn du nichts Wichtiges zu sagen hast, verlass’ mein Zimmer!«
»Das sag’ ich Papa!«
»Was? Dass dir mal jemand die Wahrheit über dich gesagt hat? Bitte. Ich hab’ inzwischen so gestrichen die Schnauze voll von der Heuchelei in dieser Familie, dass es mir scheißegal ist, was du ihm erzählst oder auch nicht. Du kannst es für mich nicht schlimmer machen. Der Moment deiner Geburt hat das schon für dich erledigt. Und jetzt bitte, zupf’ ab!«
»Boah, bist du emo. Warum hängst du dich nicht auf, dann hast du deine Ruhe?«
Mathieu lachte und reckte ihr den ausgestreckten Mittelfinger hin. »Nein, Schwesterchen. Im Gegensatz zu dir habe ich eine Zukunft, die nicht daraus besteht, für einen reichen alten Kerl die Beine breit zu machen, damit er mir Geld gibt. Ich werde meinen Weg machen, ganz ohne euch. Das habe ich mir fest vorgenommen und du wirst mir nicht im Weg stehen.«
Celeste schnaubte und warf ihr goldblondes Haar nach hinten. Sie schürzte die Lippen und musterte ihren Bruder. Dass er so mit ihr sprach, war sie nicht gewöhnt, wohl aber von jemand anderem. Offenbar begann Mathieu, sich eine Scheibe von Lucien abzuschneiden, doch es passte ihr nicht. Sie hasste es, wenn man ihr nicht nach dem Mund redete. Ihr Bruder tat dies zwar nicht immer, doch meist ergab er sich zähneknirschend in die Situation. Diesen Eindruck machte er momentan aber so gar nicht und wenn er sich weigerte, die Aufsicht bei der Party zu machen, würde ihr Papa es vielleicht doch noch absagen. Also galt es, heute so viele coole Kids wie möglich einzuladen. Denn wenn die Gästeliste lang genug war, konnte ihr Vater nicht einfach mehr Nein sagen.
»Na, dann viel Spaß bei deiner tollen Spießerzukunft, Emo. Ich kümmere mich solange um Wichtigeres als dich. Zuerst muss ich Lucien finden. Er ist der Ehrengast.«
Mathieu schnaubte. Ja, lad ihn ruhig ein, dachte der Schulsprecher. Als würde der seine Zeit lieber mit Celeste als mit Mathieu verbringen. In seinem Zimmer! Der Jugendliche spürte Wärme in seinen Wangen und war erleichtert, als seine Schwester die Tür hinter sich ins Schloss warf.