Lucien machte einen Satz, als hätte ihn etwas gestochen und Mathieu schlug sich verlegen die Hände vor das Gesicht, während Muriel Walace einen Moment brauchte, um zu registrieren, was sie gerade gesehen hatte.
»Raus hier, Mum!«, schrie der Rothaarige und seine Mutter zog die Tür laut hinter sich ins Schloss. Sie blieb verwundert, irritiert und vor allem verlegen davor stehen und blinzelte.
Mathieu setzte sich auf und spürte, dass er am ganzen Körper zitterte, ihm war plötzlich furchtbar schlecht.
»Oh Gott«, hauchte er, er traute seiner Stimme nicht und sein Herz schlug so heftig, dass er einen Moment die Augen schloss.
»Das tut mir leid ... ich hab’ sie nicht gehört.« Zerknirscht setzte sich der Rothaarige auf die Bettkante und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Seine Hochstimmung war einem eiskalten Schreck gewichen. So hatte er sich nicht vorgestellt, seinen Eltern von sich und Mathieu zu erzählen.
»Meinst ... meinst du, dass sie schimpfen wird?«, murmelte der Blonde. Auch sein gutes Körpergefühl war einer Art Krampf gewichen, der nun in seinem Rücken festsaß und dafür sorgte, dass er sich krank fühlte.
»Nein. Aber was zu hören bekomm’ ich bestimmt trotzdem. Keine Ahnung ...«
»Würde sie meine Eltern anrufen und uns verraten?« Mathieu hatte sämtliche Farbe verloren und Lucien drehte ihm das Gesicht zu, bevor er lächelte.
»Auf keinen Fall. Meine Eltern sind nicht so angetan von deinen. Dein Alter hat sich im Elternrat zu oft Dinger erlaubt und seit du mich im Kindergarten so auf dem Kieker hattest und er mich beleidigt hat, sieht mein Vater deinen lieber gehen als kommen ...«, der Jugendliche kroch neben den Anderen und streichelte ihm über die Wange. »Hey, du wirst jetzt aber nicht ohnmächtig, oder?«
»Ich fühl’ mich krank«, wisperte Mathieu und Lucien zog ihn an sich, hielt ihn fest und kraulte ihm den Nacken. Er schien gerade wirklich panische Angst zu haben, dass das, was Madame Walace gesehen hatte, irgendwie seinem Vater zu Ohren kommen könnte.
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Währenddessen hatte sich die Dame des Hauses mit ihren Einkäufen fürs Abendessen in die Küche begeben und sich entgegen ihrer Vorsätze am Fenster eine Zigarette angesteckt. Sie hatte sich vor Jahren das Rauchen abgewöhnt, der Gesundheit ihres Sohnes zuliebe, der dann wiederum mit vierzehn Jahren selbst damit angefangen hatte. Doch seitdem hatte sie nur noch selten das Verlangen danach. Eine unerwartete Stresssituation war jedoch ein guter Anlass, ihren Grundsatz einmal zu brechen.
Also hatte sie doch Recht gehabt, was die beiden Jungs anbelangte. Sie waren offensichtlich mehr als vertraut miteinander, auch wenn Lucien sich vehement geweigert hatte, etwas davon durchblicken zu lassen.
Obwohl Muriel geglaubt hatte, es würde ihr etwas ausmachen, dass ihr Sohn vielleicht schwul sein könnte, musste sie sich nun eingestehen, dass sie überhaupt nichts fühlte. Bis auf die Scham darüber, so unangekündigt und plötzlich in diese liebevolle Situation zwischen den beiden geplatzt zu sein, empfand sie nichts Negatives. Vielmehr freute sie sich für Lucien und Mathieu, der nach Aussagen ihres Sohnes keine leichte Familie hatte. Dass Lucien doch noch die Gelegenheit bekam, ein wenig die Liebe erleben zu dürfen, erfüllte sie mit Dankbarkeit, wenn auch zugleich mit Wehmut, dass dieses beiden früher oder später genommen werden würde.
Sie schnippte den Stummel aus dem Fenster, goss sich etwas Wasser ein und sah sich um. Wenn Luciens Freund schon einmal hier war, musste sie ihn auch gebührend begrüßen. Und am besten gelang das mit Kaffee und etwas frischem Obstkuchen, den sie mitgebracht hatte.
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Mathieu hatte sich nach einer Weile wieder beruhigt, das Blut war sowohl in seine Wangen als auch in seine eiskalten Finger zurückgekehrt und er hatte zu zittern aufgehört.
»Du kotzt mir nicht mehr auf den Teppich, oder?«, murmelte Lucien, der ihn im Arm gehalten hatte, mit einem Lachen in der Stimme.
»Das ist wohl eher dein Part«, kicherte der Blonde leise und räusperte sich. »Oh, ich hab’ Durst.«
»Hmm, riechst du das? Scheint, als hätte meine Mum Kaffee gemacht. Na, dann wird sie uns bestimmt nicht mehr anbrüllen. Erwachsene brauchen Koffein bei Stress«, gluckste der Rothaarige und streichelte Mathieus Ohr.
»Ich wollte niemandem Stress bereiten«, murmelte dieser.
»Hast du nicht. Sie ist viel zu früh nach Hause gekommen und sie hat nicht geklopft. Oder? Ich hab’ nichts gehört, meine Ohren hatten zu wenig Blut. Das war gerade anderweitig in Gebrauch.«
Mathieu prustete leise und zappelte etwas mit dem Schoß. »Apropos ... ich glaub’, ich muss mal ins Bad.«
»Gut, dass deine Hose schwarz ist.«
»Das letzte Mal war sie’s nicht und Celeste hat was gesehen. Sie dachte, ich hätte mich bepisst oder mir beim Wichsen was auf die Hose geschmiert. Dieses Schandmaul.«
»Na ja ... ganz falsch ist es ja nicht, nur dass ich Schuld war«, grinste Lucien und stand ebenfalls auf. »Willst du trockene Shorts? Ich leih’ dir welche ...«
»Nein, geht schon, ich mach’ mich nur eben sauber.«
Der Schulsprecher zog die Badtür hinter sich ins Schloss und kurz darauf konnte der Rothaarige die Toilettenspülung und das Rauschen des Wasserhahns hören. Lucien grinste leicht, zupfte sich eine Zigarette aus der Schachtel und setzte sich draußen auf die Feuerleiter, um sie zu rauchen. Es war frisch, aber die Sonne schien und die hellgelbe Wand des gegenüberliegenden Gebäudes tauchte das Wohnhaus der Walaces in weiche Helligkeit. Als es klopfte, streckte der Jugendliche den Kopf durchs Fenster.
»Was ist?«, rief er und seine Mutter öffnete die Tür.
»Na nu? Ist dein Freund davongelaufen?« Sie sah sich um, betrachtete einen Moment das zerwühlte Bett und offenbar rekapitulierte ihr Gehirn das, was sie gesehen hatte.
»Nee, er ist im Bad«, brummte Lucien und zog an der Zigarette, »Ist was? Wenn du meckern willst, spar’s dir. Es geht dich nichts an!«
Muriel lächelte leicht. »Warum sollte ich? Ich wollte eher fragen, ob ihr Zwei Lust auf Kuchen habt?«
»Mathieu mag keine Süßigkeiten«, knurrte der Rothaarige, doch die Badezimmertür öffnete sich in dem Moment.
»Ich schlage aber auch keine nette Einladung aus, Madame«, murmelte der Schulsprecher verlegen und rieb sich die Hände.
»Na, ich hab’ auch Minisandwiches. Wenn ihr wollt?«
Die beiden Jugendlichen sahen sich kurz an und der Blonde machte den Eindruck, gern etwas essen zu wollen, also nickte Lucien, drückte die Kippe aus und kletterte wieder ins Zimmer. Er schloss das Fenster und sie folgten Madame Walace in die Küche.
Das war das erste Mal, dass Mathieu den Rest der Wohnung zu sehen bekam und er blickte sich um, darauf bedacht, nicht zu neugierig zu wirken.
»Es ist hübsch hier«, murmelte er.
»Danke, Mathieu. Setzt euch. Kaffee? Oder lieber Cola?«
»Krieg’ ich ‘n Bier?«, fragte Lucien grinsend, doch seine Mutter schüttelte den Kopf.
»Schau’ mal auf die Uhr. Nein!«
Der Rothaarige zuckte mit den Schultern und warf sich auf seinen Stuhl, während Mathieu etwas schüchterner vorging.
»Ich hätte gern Kaffee, Madame. Mit Milch und Zucker.«
»Ah, da kannst du dich selbst bedienen«, Muriel goss beiden etwas ein und und stellte das andere mit auf den Tisch. »Also Mathieu, du magst keinen Kuchen?«
»Nichts mit Sahne, Madame. Früchte sind aber toll«, antwortete der Blonde mit Blick auf den Dessertteller.
»Na, dann bedient euch.« Die Frau stellte noch einen Untersetzer mit winzigen Snacksandwiches dazu, von denen sie wusste, dass Lucien sie gern mochte, und nahm ebenfalls Platz.
»Du könntest dich wenigstens entschuldigen, dass du einfach ohne zu klopfen reingekommen bist«, brummte ihr Sohn, nachdem er ohne zu zögern erstmal drei der kleinen Schnittchen verputzt hatte.
Seine Mutter nickte. »Ja, das war meine Schuld und es tut mir leid. Ich wette, das ist mir genauso peinlich wie euch.«
»Das wage ich zu bezweifeln«, murmelte Lucien mit einem Seitenblick auf Mathieu, dessen Wangen etwas rosafarbener geworden waren und der sein Gesicht hinter der Tasse versteckte.
»Sie ... Sie werden nicht meine Eltern deswegen anrufen, oder?«, presste er schließlich schüchtern heraus und sah Madame Walace fragend an.
»Aber ... warum sollte ich denn?«
»Es gibt Eltern, die ihre Kinder für so was nicht zu Kaffee und Kuchen rufen, sondern eher einen Stock aus dem Kämmerchen holen«, entgegnete Lucien trocken und Mathieu schluckte.
»So schlimm ist es nicht, aber ...«
»Um Himmels Willen, nein. Da brauchst du keine Angst zu haben. Lucien hat schon Recht, eigentlich geht es mich gar nichts an, solange ihr ... na ...«
»Was, Maman? Sprich’ dich aus.«
»Solange ihr ... auf euch achtgebt. Ihr wisst schon. Bei was auch immer.«
»Wir schlafen nicht miteinander, falls das deine Sorge ist«, brummte Lucien und zog seine Augenbraue hoch. Mathieu verschluckte sich und spuckte halb in seine Tasse, was die Aussage des Rothaarigen irgendwie Lügen strafte, was auch dieser bemerkte.
»Na toll, Grantaine, jetzt glaubt sie kein Wort mehr«, knurrte er, doch musste grinsen.
»Das muss ich alles gar nicht wissen und will ich auch nicht. Ich möchte nur, dass ihr eine gute Zeit habt. Und jetzt esst den Kuchen, er soll ja nicht verkommen.«
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»Dafür, dass du immer gesagt hast, deine Maman wäre so streng, kam sie mir gar nicht so vor«, befand Mathieu, als sie nach dem gemütlichen Kaffeekränzchen wieder im Zimmer des Rothaarigen waren.
»Gemessen an deinem Vater ist meine Mum auch ein Hippie, Grantaine. Aber du solltest sie mal erleben, wenn sie sauer ist. Dann wackelt im Wohnzimmer der Kronleuchter.«
»Meine Mutter macht so was nie. Ich hab sie noch nie erlebt, dass sie meinen Vater oder uns angeschrien hätte. Sie sagt immer, eine Dame dürfe keine Szene machen. Das überlässt sie meinem Vater und der verpasst einem dann auch schon mal eine Ohrfeige.«
»Eine Frau der Marke ‘Artige Trophy Wife’?«
»Ja, irgendwie schon. Irgendwie macht sie immer nur das, was mein Vater ihr sagt. Ich hab’ aber auch nicht den Eindruck, dass sie damit unglücklich wäre, also ...«
»Dann brauchst du dich damit auch nicht belasten.«
»Ist irgendwie immer leichter gesagt als getan. Man ist ja doch mit der Familie verbunden, auch wenn man das manchmal vielleicht gar nicht will.«
Lucien nickte, sagte aber nichts, sondern setzte seine Streicheleinheiten fort. Da Mathieu wegen des Schrecks Rückenschmerzen bekommen hatte, hatte der Rothaarige ihn genötigt, sich auf den Bauch zu legen, um ihm etwas die Schulterblätter massieren zu können.
Der Blonde hatte ihm das Gesicht zugewandt, schloss aber die Augen und schnaufte leise.
»Tu’ ich dir weh?«
»Neee, das ist gut. Ich muss bald nach Hause, aber ich will gar nicht«, murmelte Mathieu.
»Wenn es nach mir ginge, würdest du hier bleiben, aber was willst du deinen Alten sagen?«
»Eben. Ich kann nichts sagen. Also muss ich wohl heim dann.«
»Soll ich dich bringen?«
»Bin ich eine Prinzessin in Nöten?«
Lucien lachte. »Na, du bist zumindest schon mal blond. Ein Kleid finden wir auch noch.«
»Nix da«, protestierte Mathieu verlegen und richtete sich auf. »Das würde mir nicht stehen, glaub’ ich.«
»Mir auch nicht. Ladys mit Bart hat man damals in Freak Shows ausgestellt.«
Der Blonde lächelte breit und strich mit den Fingerspitzen über Luciens Stoppeln. »Na gut, aber das könnte man abrasieren.«
»Willst du das?«, schnurrte der Rothaarige. Mathieu setzte sich auf und schob sich grinsend auf Luciens Schoß.
»Niemals. Das ist sexy.«
»Das hier auch. Brauchst du eine zweite Runde?«
»Oh Gott, erinnere mich nicht daran. Ich bin noch nie so tief gefallen.«
»Ja, dass Mum reinkam, war irgendwie ein Abturner, aber vorher war’s toll.«
Der Blonde strich dem Anderen durch die Haare, die inzwischen trocken und weich waren. »Hast du sie dunkler gefärbt, oder verwäscht sich das bereits?«
»Ich muss nachfärben. Aber ja, der Farbton ist dunkler. Das war die Voraussetzung, dass ich ihn behalten darf trotz des Dresscodes in der Schule.«
»Mir kommt es noch dunkler als am Anfang vor. Im Camp waren sie heller.«
»Ist es, Knalltüte. Ich musste von Signalrot zu Karmesin und hab es dann noch etwas dunkler gemacht.«
»Sag’ bloß, du wolltest nicht auffallen?«
»Doch, das will ich. Jeder soll sich an mich erinnern. Aber es schadet den Haaren und ich bin zu eitel, selbst auf die letzten Monate, mir meine Mähne kaputt zu machen. Ich will gut aussehen auf meiner Beerdigung.«
»Oh Mann«, murmelte Mathieu und legte seine Stirn auf Luciens Schulter.
»Tut mir leid, ich hab’ nicht dran gedacht.«
»Schon gut.«
»Wollen wir eine Runde mit Sasha gehen? Dabei kann ich dich nach Hause bringen. Es ist gleich Acht. Maman würde dich bestimmt zum Abendessen hier behalten, aber nachher bekommst du zuhause noch Anschiss ...«
Mathieu hob den Kopf und musterte den Anderen, bevor er leicht schmunzelte, nickte und ihm seine Lippen auf den Mund presste. Lucien packte ihn an den Hüften und ließ sich nach hinten sinken.
»So kommen wir hier aber nicht weg.«
»Egal, ich hätt’ dich gern die ganze Nacht hier«, murmelte Lucien.
»Damit deine Maman uns wieder daran erinnert, dass wir uns schützen sollen bei ... du weißt schon? Wie peinlich.«
Der Rothaarige lachte leise. »Kein Problem, ich hab’ alles da.«
»Oh Gott, Lucien«, keuchte Mathieu und richtete sich verlegen auf. Er grinste, doch seine Wangen waren rosa.
»Aber ja, ich würd's nicht machen wollen, wenn meine Mutter über den Flur in ihrem Schlafzimmer pennt. Das ist weird. Außerdem scheinen Eltern so was irgendwie zu riechen oder instinktiv zu ahnen. Darauf beim Frühstück kann ich auch verzichten.«
»Da ... findet sich bestimmt etwas anderes.«
»Du meinst es ernst, oder?«
»Du nicht?« Mathieu hob die hellbraunen Augenbrauen. »Ich will dich nicht zu etwas nötigen, was du gar nicht willst«, nuschelte er und kletterte von Lucien herunter. Der jedoch hielt ihn fest und küsste ihn erneut.
»Wie kannst du so was Dummes denken, wenn du doch so klug bist, Grantaine.«
»Keine Ahnung ... ich weiß immer noch nicht so recht, woran ich bei dir bin.«
»Vertraust du mir?«
Die grauen Augen trafen auf die goldenen und Mathieu nickte schließlich.
»Dann kannst du darauf vertrauen, dass ich das alles genauso will wie du.« Lucien biss ihm leicht in die Lippe und richtete sich anschließend auf, um vom Bett zu krabbeln. Er zwirbelte sich die Haare zusammen und schnappte nach einer Kapuzenjacke, bevor er in seine Boots stieg.
»Okay, mit der Trainingshose seh’ ich aus wie ein Penner. Aber ich geh’ mit dem Hund raus, nicht zu einer Abendveranstaltung«, kicherte Lucien und Mathieu grinste.
»Ich würd’ dich gern mal in einem Anzug sehen. Solange du noch lebst, falls du jetzt auf die Idee kommst, mir zu sagen, dass ich das auf deiner Beerdigung kann!«
»Ach, Grantaine, meinst du echt, ich würde zulassen, dass meine Eltern mich gekleidet wie ein Spießer unter die Erde bringen? Nein. Ich werde angezogen sein wie immer, damit mein Geisteroutfit kein blöder Smoking ist, sondern eine coole Jeans, Boots und eine Lederjacke. Ich muss das noch regeln!«
Mathieu brachte ein feines Lächeln zustande und gemeinsam verließen sie die Wohnung der Walaces, um Sasha zu holen.